Zeitzeugen contra Klitterer
Hans Canjé, Berlin
Repräsentanten der KZ-Verbände in Brüssel: Gegen jegliche Gleichsetzung
Die Verwendung des Begriffs "historisch" ist wohl nicht übertrieben gewählt für diese Zusammenkunft, die am 25. Januar 2009, am Vorabend des Jahrestages der Befreiung des faschistischen Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee in Berlin stattfand. Die Präsidentinnen und Präsidenten der internationalen Komitees, in denen die Überlebenden der Konzentrationslager Auschwitz, Bergen-Belsen, Buchenwald, Dachau, Flossenbürg, Mittelbau-Dora, Ravensbrück und Sachsenhausen organisiert sind, verabschiedeten "angesichts des Endes der Zeitzeugenschaft" ein Vermächtnis "Erinnerung bewahren – authentische Orte erhalten – Verantwortung übernehmen".
Ein "Vermächtnis auch des europäischen Widerstandes", wie der am 20. Dezember 2009 verstorbene Präsident des Internationalen Sachsenhausenkomitees Piere Gouffault vor der Presse erklärt hatte. Eindringlich seine Mahnung: "(...) auch in Zukunft darf es an allen Orten zweifacher Vergangenheit keine Vermischung der historischen Phasen geben. Ursachen und Wirkungen müssen klar benannt und die Unterschiede deutlich benannt werden (...)"
Das Dokument wurde am 27. Januar dem zu dieser Zeit noch amtierenden Bundespräsidenten Horst Köhler und an Bundestagspräsident Norbert Lammert übergeben.
Am 11. November letzten Jahres ist es aus gegebenem Anlass in Brüssel der Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Viviane Reding und an die Abgeordneten des Europäischen Parlaments übergeben worden. Eindringlich der damit verbundene Appell an die EU-Politiker, "die Erinnerung an die unvergleichlichen Verbrechen des Nationalsozialismus und ihrer Helfer auch in der Zukunft zu bewahren und nicht zu verfälschen.
Zur Delegation gehörten die KZ-Überlebenden Roger Bordage, Internationales Sachsenhausen-Komitee, Annette Chalut, Internationales Ravensbrück-Komitee, Henri Goldberg, Internationales Auschwitz-Komitee, Dènes György, Internationales Bergen-Belsen-Komitee, Bertrand Herz, Internationales Buchenwald-Komitee sowie der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, Christoph Heubner, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland und Leiter des Berliner Büros der European Jewish Congress, Stephan J. Kramer, der Vertreter des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma, Silvio Peritore, und die Generalsekretärin des Internationalen Sachsenhausen-Komitees, Sonja Reichert.
Die zweifellos sachverständigen Mitglieder der Delegation wiesen nachdrücklich Bemühungen zurück, "ein einheitliches europäisches Gedächtnis durch politische Beschlüsse von Parlamenten und Regierungen erzwingen zu wollen". Deshalb lehnen sie die "Einführung eines übergreifenden 'Gedenktages für die Opfer aller totalitären und autoritären Diktaturen' entschieden ab." Verschiedene Initiativen wollen dafür den 23. August, den Tag des "Hitler-Stalin-Paktes", instrumentalisieren. Eine Resolution in diesem Sinne fasste das Europäische Parlament am 2. April 2009. Vorgeschlagen wird, dass das Europäische Parlament stattdessen den 27. Januar 2012 nutzt, "um über die Entwicklung der Erinnerungskultur in Europa und über einen einheitlichen europäischen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus zu diskutieren". Der jüngste Vorstoß zur Klitterung der europäischen Geschichte im Sinne der Totalitarismusdoktrin erfolgte mit der Unterzeichnung der Gründungsurkunde für eine "Plattform des Europäischen Gedenkens und Gewissens" am 13./14. Oktober letzten Jahre im Prager Lichtenstein Palast im Beisein der Präsidenten der Tschechischen Republik, Ungarns und Polens. Eine Einrichtung, die deutlich als eine neue und durch die Anwesenheit der drei Ministerpräsidenten mit höheren Weihen versehene Stufe bei der Formierung der Kampfgruppen zur Verfälschung der Geschichte konzipiert ist. Aus der Taufe gehoben wurde die "Plattform" im Prager "Institut für das Studium totalitärer Regime", das sich durch seine militante antikommunistische Politik aus dem Kreis ähnlich gepolter Einrichtungen z.B. in Ungarn, Polen oder den baltischen Staaten heraushebt. Von Staaten also, in denen heute schon diejenigen, die sich als Kollaborateure an den faschistischen Verbrechen beteiligt haben, als "Freiheitshelden" gefeiert und zum Teil mit Pensionen aus deutschen Steuermitteln alimentiert werden.
Sie sei vor allem ein "Koordinierungsorgan", erläuterte Institutsleiter Daniel Hermann, und das Hauptthema werde "die Aufarbeitung der Vergangenheit sein. Und zwar der totalitären, das heißt der nationalsozialistischen und der kommunistischen Vergangenheit". Ein anderer "Experte" auf diesem Gebiet nannte als Aufgaben "(...) die Kooperation nationaler Forschungsinstitute, Archive, Museen und vergleichbarer Institutionen in Europa zu unterstützen. Diese schließt neben staatlichen auch private Initiativen ein, die sich der Aufarbeitung totalitärer Regime widmen. Die besondere Betonung liegt hierbei auf Nationalsozialismus und Kommunismus." Das Zitat ist einer Verlautbarung des Geschäftsführers der "Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer der politischen Gewaltherrschaft", Siegfried Reiprich, vom 17. Oktober 2011 entnommen. In Begleitung des Verwalters der MfS-Akten, Roland Jahn, war er nach Prag gereist und dort in das "Executive Bord" der "Plattform" (neben Vertretern aus Polen, Rumänien und Slowenien) gewählt worden.
Spätestens hier wird der Kurs des Gremiums deutlich, das recht bald näher an den Brüsseler Fleischtöpfen siedeln will und umfangreiches "Aufklärungsmaterial" vor allem für Schulen und einen "Europäischen Tag der Erinnerung an die Opfer der totalitären Regime" einführen möchte. Die Positionierung der sächsischen Stiftung in das Spitzenamt erfolgt nicht zufällig. Sie hat sich in den vergangenen Jahren durch ihre rabiate Linie bei der bereits im Namen manifestierten Klitterung der Geschichte einen unrühmlichen Namen gemacht. Schon die Vorlage des Entwurfs zum Stiftungsgesetz hatte 2004 zu heftigen Protesten der Leiter der großen deutschen Gedenkstätten zur Erinnerung an die faschistischen Verbrechen und zum Auszug der NS-Verfolgtenverbände aus den Gremien der Stiftung geführt.
Durch die "pauschalisierende Redeweise wie etwa von den 'ungezählten Opfern der beiden Diktaturen' wird der Eindruck erweckt, es handele sich um jeweils die gleichen Opfer", hatte Volkhard Knigge, Direktor der Stiftung KZ-Gedenkstätte Buchenwald, als Sprecher der "Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland" bei einer Anhörung im Bundestag zur Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes am 22. Juni 2002 vorgetragen. Knigge hatte die "verschleifende Rede von den 'beiden totalitären Systemen' gerügt, die nicht zur Klarheit betrüge. Nivelliert würden so die "quantitativen und qualitativen Unterschiede von nationalsozialistischer Verfolgung und Ausrottungspolitik einerseits und die Verfolgung in der SBZ und der DDR andererseits".
Nicht minder deutlich war der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Salomon Korn, geworden: "Charakteristische Formulierungen, beispielsweise die 'beiden totalitären Systeme in Deutschland', sind schwammig und suggerieren ein Kontinuum von 1933 bis 1989. Das gilt ebenso für Feststellungen zur angeblich 'doppelten Vergangenheit' oder für Denkmalinschriften wie 'Für die Opfer von Krieg und Gewalt'". Auffällig sei in der "zeitgeschichtlichen Auseinandersetzung mit den DDR-Hinterlassenschaften" eine "zunehmende Beschreibung Deutscher nach dem II. Weltkrieg als Opfer". Es verfestige sich insofern der Eindruck "eingehender Überlegungen zu den Gedenkstätten und Erinnerungsorten der SBZ-/DDR-Zeit, aber demgegenüber mit Routine abgehandelte Gedenkstätten zur Zeit des Nationalsozialismus".
Eine ähnliche Tendenz zeichnet sich in jenen Ländern ab, die nun mit der Prager Plattform eine neue Runde um die "europäische Erinnerungskultur" eingeläutet haben. Der opferreiche Kampf der Roten Armee wird zum "Eroberungsfeldzug" und Beginn einer neuen Besatzungszeit umgedeutet. Faschistische Kohorten im eigenen Land werden, wie im Budapester "Haus des Terrors", das "an die Herrschaft der Pfeilkreuzler und an den nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges folgenden Sozialismus in Ungarn erinnern soll" zu Widerstandskämpfern. Das Rezept, so ein vorsichtig-kritischer Kommentar im "Pester Lloyd": "wenig Information", statt dessen "Überwältigungsstrategie" und "visuelle Stimmungserzeugung".
Unvermindert aktuell bleiben (auch länderübergreifend) vor dem Hintergrund der Prager Zeugung die bei der damaligen Anhörung vorgetragenen Anmerkungen sowohl von Knigge als auch von Korn hinsichtlich der Gewichtung der Vergangenheitsforschung. Hatte Knigge darauf verwiesen, dass es zur "Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur" auch "unter Fördergesichtspunkten kein Pendant im NS-Bereich gibt", stellte Korn die Frage: "Werden die Archive über die Zeit des Nationalsozialismus wirklich vergleichbar gefördert wie das 'Birthler-Archiv' (BStU)?". Ein "aktueller Vergleich der Anstrengungen zur Aufklärung der Geschichte vor und nach 1945 sollte schon im öffentlichen Interesse vorgenommen werden." (Wortlaut beider Erklärungen siehe GedenkstättenRundbrief Nr. 140, 12/2007 der Stiftung Topographie des Terrors)
Auf eine andere Dimension dieser Versuche, die Geschichte umzuschreiben, hat Gerhard Schoenberner, Gründungsdirektor der Gedenk- und Bildungsstätte "Haus der Wannsee-Konferenz", mit Blick auf die Debatten und Denkmäler im Kontext des 70. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus verwiesen (GedenkstättenRundbrief 158, 12/2010). Mit seinem Beschluss, den 23. August statt den 1. September zum Gedenktag auszurufen, "der inzwischen auch in Deutschland Anhänger findet", habe das Europa-Parlament "das politisch definitiv falsche Signal gegeben und eine Türe aufgestoßen, die sich so leicht nicht wieder schließen lassen wird". Schoenberner verweist dabei besonders auf die "mit Abstand größte Opfergruppe" des faschistischen Terrors, die 25 Millionen Bürger der UdSSR, "obwohl dieser Tod demselben Rassismus geschuldet ist, der zur Shoa führte". Die ganz Unverschämten, prophezeit Schoenberner, "werden darauf bestehen, dass Hitlers Eroberungs- und Vernichtungskrieg als Verteidigung des christlichen Abendlandes zu gelten habe".
Der Appell der Präsidenten der internationalen Häftlingsverbände "an Deutschland, an alle europäischen Staaten und die internationale Gemeinschaft, die menschliche Gabe der Erinnerung und des Gedenkens auch in der Zukunft zu bewahren und zu würdigen", wird hoffentlich nicht ungehört verhallen. Die Reaktion der Parlamentsfraktion der Vereinten europäischen Linke/Nordische Grüne Liste (GUE/NGL) wird von den noch lebenden Opfern des Faschismus und den sie vertretenden Verbänden mit besonderem Interesse aufgenommen werden.
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