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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Worte wie Gift

Horsta Krum, Berlin

 

Zur Diskussion um die Freigabe von Hitlers "Mein Kampf"

 

"Worte können sein wie winzige Arsen-Dosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Gift-Wirkung doch da." (25)

So beurteilt Viktor Klemperer die Sprache der Nazis in seiner "LTI" (Lingua Tertii Imperii = Sprache des Dritten Reiches), die 1946 zum ersten Mal erschien und die Hitlers Buch "Mein Kampf", seine folgenden Reden, die Reden von Goebbels und anderen, Zeitungsartikel usw. analysiert. [1]

Für Klemperer war die Arbeit an der "LTI" keineswegs nur theoretische Arbeit, die er als Philologe tat, sondern die Folgen dieser Sprache erlitt er zwölf Jahre lang, da er aufgrund der Nürnberger Rassengesetze als Jude klassifiziert war.

Seit einigen Monaten melden sich Stimmen, die eine allgemeine Freigabe von Hitlers "Mein Kampf" fordern, auch für Schulen. Sicherlich muss die Nazi-Zeit im Schulunterricht behandelt werden, wozu durchaus Auszüge aus "Mein Kampf" gehören könnten. Es gibt aber Stimmen, die dieses Buch im Original ungekürzt für Schulen freigeben möchten mit der Begründung, man müsse "Hitlers Argumente kontern" und dieses Buch im Unterricht "entmystifizieren".

Haben die, die das fordern, übersehen, dass Hitler gar nicht argumentieren will? Sein Mittel ist die Propaganda: "Die Aufnahmefähigkeit der großen Masse ist nur sehr beschränkt, das Verständnis klein, dafür die Vergesslichkeit groß. Aus diesen Tatsachen heraus hat sich jede wirkungsvolle Propaganda auf nur sehr wenige Punkte zu beschränken und diese schlagwortartig solange zu verwerten, bis auch bestimmt der Letzte unter einem solchen Worte das Gewollte sich vorzustellen vermag." (199) Denn Denken und Handeln des Volkes sei nicht durch "nüchterne Überlegung" bestimmt, sondern durch "gefühlsmäßige Empfindung. Diese Empfindung aber ist nicht kompliziert, sondern sehr einfach und geschlossen. Es gibt hier nicht viel Differenzierungen, sondern ein Positiv oder ein Negativ. Liebe oder Hass, Recht oder Unrecht, Wahrheit oder Lüge ..." (201)

Diese Sprache, so Klemperer, wurde 1933 aus einer Gruppen- zu einer Volkssprache, "sie bemächtigte sich aller öffentlichen und privaten Lebensgebiete, der Politik, der Rechtsprechung, der Wirtschaft, der Kunst, der Wissenschaft, der Schule, des Sportes, der Familie, der Kindergärten und der Kinderstuben" (25).

Sie ist eine brutale Sprache, wobei Hitler das Wort "brutal" positiv gebraucht, wenn er von Deutschen spricht, davon, wie sie handeln, vor allem gegen Juden und Kommunisten, die er aus dem deutschen Volk ausgrenzt. Die Brutalität dieser Sprache ist anschaulich: Hitler bezeichnet die liberale Presse der Weimarer Republik (die von Juden und Kommunisten geprägt sei) als "Viper"; der Staat sei verpflichtet gewesen, ihr "den Stoß ins Herz hinein zu führen" (266). Die Juden nennt er "Verführer und Verderber", die "an die Wand zu schlagen" seien (68). Durch die Jahrhunderte hindurch seien die Juden unverändert, "wenn auch manchmal die Wut des Volkes gegen den ewigen Blutegel lichterloh aufbrennt" (340).

"Mein Kampf", so Klemperer, ist ein Propaganda-Buch mit schamloser Offenheit, wie keins zuvor (29).

Wie steht es mit Begriffen, die, laut Hitler, in die Köpfe und Gefühle der Menschen dringen sollen und die "schlagwortartig" immer wieder zu verwenden sind? Klemperer nennt sie "Pfeilerwörter". Zu ihnen gehören "Held" mit seinen sprachlichen Ableitungen von "heldischer Gesinnung" bis zum "Heldentod"; Zusammensetzungen mit "Herr" wie "Herrenrasse", "Herrenblut", "Herrenstandpunkt"; "rassenrein"; auch Wörter wie "Ehre", "Freiheit" usw. Solche positiven Pfeilerwörter werden auf das deutsche Volk bezogen. Und sie haben meist eine negative Entsprechung, die für andere angewandt werden, andere Völker beispielsweise, vor allem aber Juden und Kommunisten. Die negative Entsprechung zu "Held" ist "Feigling", zu "Herr" ist es "Untermensch" usw.

Ist es möglich, sich gegen diese Sprache dauerhaft zu wehren? Klemperer erwähnt Menschen, die keine Nazis waren und trotzdem diese Sprache und ihre Denkmuster benutzten. So fragte ihn eine freundliche Fabrikarbeiterin, ob seine Frau wirklich eine Deutsche sei. Diese Arbeiterin setzte sich öfter über Verbote hinweg, mit Juden zu sprechen oder gar ihnen etwas zu geben, und doch galt der Jude Klemperer für sie nicht als Deutscher, ganz wie die Rassegesetze es anordneten. Andere, ebenfalls keine Nazis, hielten bis zum Schluss an Deutschlands Stärke fest: "Sie können uns nicht kleinkriegen, wir sind ja so prima organisiert." (102)

Auch die Erfahrungen der folgenden Jahre bestätigen Klemperer: Trotz antifaschistischer Erziehung blieben Teile dieser Sprache, einzelne Begriffe bestehen, ohne dass die, die sprachen, sich dessen bewusst waren.

Mitte der achtziger Jahre hörte ich einen gebildeten Mann von "Deutschen" und von "Juden" reden; mit "Juden" meinte er seine Gesprächspartner aus der jüdischen Gemeinde, von denen keiner Ausländer war. Sogar dieser Mann, der 1945 etwa neun Jahre alt gewesen war, lebte in einem Sprach- und Denkmuster der LTI. [2]

Und dieses Sprach- und Denkmuster, dessen Gift immer noch wirkt, gilt es zu bekämpfen, ganz im Sinne dessen, was Konfuzius einst schrieb: "Wenn Euch der Herrscher des Staates Wei die Regierung anvertraute, was würdet Ihr zuerst tun?" Der Meister entgegnete: "Unbedingt die Namen richtigstellen." - "Warum eine solche Richtigstellung der Namen?" - "Stimmen die Namen und Begriffe nicht, so ist die Sprache konfus." [3]

Hitlers Ausführungen zur Propaganda und Klemperers Analyse der LTI werden durch die moderne Sprachpsychologie und Kommunikationsforschung bestätigt. Eine sehr vereinfachende Zusammenfassung besagt, dass unser Bewusstsein nur einen Teil dessen aufnimmt und verarbeitet, was wir durch Sprache erfassen - wobei die Sprache der LTI sowohl die gesprochene wie die geschriebene Sprache ist, zwischen denen es keinen strukturellen Unterschied gibt. [4] Der andere Teil unserer sprachlichen Eindrücke wird durch das Halb- oder Unterbewusstsein aufgenommen. Wie groß der Anteil jeweils ist, den wir auf die eine oder andere Weise aufnehmen, hängt von der Art des geschriebenen oder gesprochenen Textes ab. Eine Gebrauchsanweisung spricht unser Bewusstsein anders an als ein lyrisches Gedicht, von dem vieles nachhaltig ins Halb- und Unterbewusstsein gleitet. Natürlich kommt es auch auf die Person an, die hört oder liest. Wir können lernen, möglichst viel von dem, was wir hören oder lesen, in unser Bewusstsein zu holen. Dies fiel dem Philologen und Historiker Klemperer verhältnismäßig leicht, zumal er ja auch physisch und psychisch erlitt, was die LTI anrichtete.

Wie schon oben ausgeführt, wollen "Mein Kampf" und die gesamte Propaganda der Nazis weder argumentieren noch vordringlich das Bewusstsein ansprechen. Wie soll dann aber eine Auseinandersetzung stattfinden? Schon die Menge des Textes - das Buch ist über 700 Seiten stark - macht es unmöglich, sich mit allem, was nötig wäre, argumentativ auseinanderzusetzen. Selbst von dem, was der Schulunterricht aufrufen kann, wird die Bewusstseinsebene nur einen Teil verarbeiten können - der Rest gleitet ins Halb- und Unterbewusstsein und wirkt dort.

Aber davon abgesehen, zeigt schon die Debatte, ob "Mein Kampf" im Original in Schülerhände gehört oder nicht, seine gefährliche Wirkung. So gelangte ganz seriös und fast legal ein Nazi-Symbol in ein Berliner Massenblatt (BZ vom 15. 10. 2012). Wie könnte denn das Text-Original freigegeben und gleichzeitig verhindert werden, dass Nazi-Symbole und Hitlerbilder ungeniert auftauchen? Wir wissen aus eigener Erfahrung, bestätigt durch die Psychologie und die Kommunikationswissenschaft, welch starken Einfluss das Visuelle auf die meisten Menschen ausübt.

In der Ausgabe von "Mein Kampf", mit der ich arbeite, sind ein Hitlerbild und außen ein Nazi-Symbol vorhanden. Die Antiquare ließen sich, im Falle der offiziellen Freigabe, Originalausgaben teuer bezahlen, nicht unbedingt von alten oder neuen Nazis, sondern von neugierig Gemachten. Die sähen in den Text, läsen hier und da ein paar Sätze, einiges würde sie vielleicht anwidern, vieles würde in anderen Bewusstseinsschichten aufgehoben werden. Und wenn diejenigen, die das Buch im Antiquariat gekauft hätten, Ordnung in ihrer privaten Bibliothek haben, würden sie es einordnen hinter Goethe und Heine. Da stünde dann, in enger Nachbarschaft zu Goethe und Heine, der Name Hitlers, vielleicht mit dem Hakenkreuz versehen.

Und in rechten Kneipen gäbe es Leseabende. Wäre die Scheu vor großen Hitlerbildern und Nazisymbolen zu Anfang noch vorhanden, hielte der, der vorliest, das Buch so, dass das Nazi-Symbol auf dem Einband deutlich zu sehen wäre, genau so wie auf dem Foto in der Zeitung.

Bis jetzt können alle, die es wollen, dieses Buch auch lesen, ohne juristisch belangt zu werden. Meine Stadtteilbibliothek besitzt fünf Exemplare aus verschiedenen Jahren, die im Lesesaal zur Verfügung stehen.

Ein kommentierter Neudruck, der nur Text enthielte, den alle kaufen könnten, wäre nur scheinbar ein unbedeutender, nicht ins Gewicht fallender Schritt. Abgesehen von der Frage, wie denn über 700 Seiten Text ausreichend und sachgemäß kommentiert werden sollten, ohne den Umfang und den Preis dieses Buches ins Unmögliche zu steigern, hätte auch ein solcher Neudruck schlimme Folgen: "Mein Kampf" würde ein Buch wie andere Bücher auch. Das Bewusstsein, dass es sich hier nicht nur um Propaganda, sondern um Demagogie handelt, die Millionen Menschen verführt und aufgehetzt hat, würde allmählich schwinden. [5] So wäre die Freigabe dieses Buches, sei es im vollständigen Original (einschließlich der faschistischen Embleme) oder im Nachdruck, nicht nur ein peinlicher Missgriff, auch nicht nur ein kultureller Skandal, sie wäre eine mittel- und langfristige Katastrophe.

Wie wäre es, wenn im Unterricht die LTI von Klemperer, möglichst vollständig, behandelt würde?

 

Anmerkungen:

[1] Den Seitenangaben von Klemperers "LTI" liegt die Reclam-Ausgabe von 1990 zugrunde, und meinem Arbeitsexemplar von "Mein Kampf" die 21. Auflage von 1933.

[2] Immerhin finde ich in einem offiziellen Deutschbuch für die 9. Klasse einen Artikel über Klemperer und die LTI. Dasselbe Buch aber bietet viel Stoff, auch historischen Stoff, zum Begriff "Ehre". Dass "Ehre" ein "Pfeilerwort" der LTI war, kommt nicht vor, dafür aber "Ehre", bezogen auf die eigene Nation: "Ich bin stolz auf unsere Nationalmannschaft. Ich habe eine Deutschlandfahne am Fahrrad angebracht."

[3] Diesen Hinweis verdanke ich Carl-Jürgen Kaltenborn. Wir haben in den 80er Jahren in mehreren Ost-West-Veranstaltungen zur "Sprache des Friedens" zusammengearbeitet.

[4] Teil der modernen Kommunikationswissenschaft ist die "neuro-linguistische Programmierung", die beispielsweise mit ihrer Aufschlüsselung der Sprachmuster in analoge und digitale Kommunikation Klemperers Beobachtungen voll bestätigt.

[5] Hier noch ein Zitat aus "Mein Kampf": "Die Gewinnung der Seele des Volkes kann nur gelingen, wenn man neben der Führung des positiven Kampfes für die eigenen Ziele den Gegner dieser Ziele rücksichtslos vernichtet. Das Volk sieht im rücksichtslosen Angriff auf einen Widersacher des Beweis des eigenen Rechtes, und es empfindet den Verzicht auf die Vernichtung des anderen als Unsicherheit in bezug auf das eigene Recht, wenn nicht als Zeichen des eigenen Unrechts." (371)]Hier noch ein Zitat aus "Mein Kampf": "Die Gewinnung der Seele des Volkes kann nur gelingen, wenn man neben der Führung des positiven Kampfes für die eigenen Ziele den Gegner dieser Ziele rücksichtslos vernichtet. Das Volk sieht im rücksichtslosen Angriff auf einen Widersacher des Beweis des eigenen Rechtes, und es empfindet den Verzicht auf die Vernichtung des anderen als Unsicherheit in bezug auf das eigene Recht, wenn nicht als Zeichen des eigenen Unrechts." (371)

 

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