Wie steht es um den START-Vertrag?
Oberst a.D. Bernd Biedermann, Berlin
30 Jahre nach dem Abschluss des Vertrags zur Reduzierung der strategischen Rüstungen (Strategic Arms Reduction Treaty/START) zwischen der Sowjetunion und den USA vom 31. Juli 1991 ist es an der Zeit, diese wichtige Frage zu stellen.
Ihm vorausgegangen war der INF-Vertrag, der 1987 geschlossen und innerhalb eines Jahres realisiert wurde. Er umfasste alle nuklearen Mittelstreckenwaffen auf Seiten der NATO und des Warschauer Vertrags und war der erste echte Abrüstungsvertrag, der vollständig realisiert wurde. Danach trat jedoch nicht die erwartete Entspannung ein.
Wie war die Situation damals? Nach der Auflösung des Warschauer Vertrags am 31. März 1991 und dem Zerfall der Sowjetunion im Dezember des gleichen Jahres, war die neue Führung der Russischen Föderation unter Jelzin bereit, einen Vertrag zur Reduzierung der strategischen Atomwaffen abzuschließen. Davor fand am 3. Oktober 1990 die Übernahme der DDR durch die BRD statt, was gemeinhin als Beitritt bezeichnet wird.
Was sah der START I-Vertrag vom 31. Juli 1991 vor?
- Verminderung der Trägersysteme auf 1.600 mit maximal 6.000 Nukleargefechtsköpfen,
- Obergrenzen von 4.900 Atomsprengköpfen auf ballistischen Interkontinentalraketen (ICBM) und seegestützten Trägern,
- Verifikationsmaßnahmen auch vor Ort.
START I ist am 5. Dezember 1994 in Kraft getreten. Der Vertrag galt auch für Weißrussland, Kasachstan und die Ukraine. Er ist im Dezember 2009 ausgelaufen.
Der START II-Vertrag war eine Fortschreibung von START I.
Er sah eine über START I hinausgehende Reduktion der Kernwaffen-Arsenale bis zum Januar 2003 vor. (maximal 3.500 atomare Gefechtsteile pro Seite, d.h. auf ein Drittel des Bestands von 1991, wobei maximal 1750 Mehrfachsprengköpfe auf ICBM und U-Booten vorhanden sein durften). Die USA ratifizierten den Vertrag im Januar 1996. Weil die Realisierung der Veränderungen des Vertrags für Russland mit höherem finanziellem Aufwand verbunden gewesen wäre und zudem den USA einseitige Vorteile verschafft hätte, tat man sich in Moskau schwer mit der Unterzeichnung. Sie erfolgte erst im Mai 2000. Durch den schleppenden Verlauf hatten beide Seiten praktisch das Interesse an diesem Vertrag verloren.
Ein weiterer Grund dafür lag wahrscheinlich darin, dass die USA eine Modifikation des Vertrags zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (ABM) anstrebten, um ein Abwehrsystem gegen ballistische Raketen zu entfalten.
Kurz nachdem die Duma im April 2000 START II ratifiziert hatte, kündigten die USA den ABM-Vertrag, sodass START II praktisch nie in Kraft getreten ist.
New START
Dieser Vertrag wurde im Frühjahr 2010 von Präsident Obama und dem damaligen russischen Präsidenten Medwedew unterzeichnet. Er sollte bis 2020 Gültigkeit behalten und sah eine Reduzierung der Sprengköpfe von 2.200 auf je 1.550 vor. Die Anzahl der Trägersysteme sollte von 1.600 auf 800 verringert werden. New START trat im Februar 2011 in Kraft.
Das alles war nur eine Atempause. Nachdem der russische Präsident Putin Ende Januar 2021 eine mit den USA ausgehandelte Vereinbarung zur Verlängerung von New START unterzeichnet hatte, unterschrieb auch der neue US-Präsident Biden Anfang Februar 2021 die Vereinbarung. Die Verlängerung beläuft sich auf fünf Jahre. Damit wurde der 2010 in Prag unterzeichnete letzte Vertrag zunächst gerettet.
Gegenwärtig bewegt uns die Frage:
»Wird es ein neues Wettrüsten geben?«
Aus materialistisch-dialektischer Sicht lautet die Antwort: Die Gefahr eines erneuten Wettrüstens ist in mehreren Regionen der Welt groß. Die Erosion des Rüstungskontrollsystems verringert die Aussicht auf konstruktive Schritte zur nuklearen Abrüstung. Der INF-Vertrag und seine Realisierung sind allerdings ein deutlicher Beweis dafür, dass es bei beiderseitigem Willen möglich ist, echte Abrüstung zu erreichen.
Nach dem Wiedererstarken Russlands und der großartigen Entwicklung der VR China hat sich die von den USA geprägte unilaterale Welt in eine multipolare verändert. Die strategische Partnerschaft zwischen Russland und China, die wahrscheinlich demnächst ein Militärbündnis abschließen werden, hat das Kräfteverhältnis im eurasisch-asiatischen Raum und in der Region des Westpazifiks grundlegend verändert. Zu beobachten ist, dass die USA ihre materiellen und personellen Möglichkeiten mehr und mehr überdehnen. Zu viel ist zu viel. Allein ihr weltweites Stützpunktsystem verschlingt Riesensummen. Zudem haben die USA in einigen Bereichen der waffentechnischen Entwicklung ihre Führung verloren. Es wird Jahre dauern, die Rückstände aufzuholen. Dessen ungeachtet sind und bleiben die USA eine Großmacht. Um ihren Verbleib in Europa zu sichern, unternehmen sie alles, damit es nicht zu einvernehmlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland kommt. Wenn das nicht gelingt, ist ihre Anwesenheit in Europa so gut wie beendet. Die Behauptung, man müsse die Europäer vor einer Bedrohung durch Russland schützen, ist absurd. Russland sieht sich gezwungen, der Osterweiterung der NATO zu begegnen. Das Trauma vom 22. Juni 1941 und dem Vordringen der Wehrmacht bis nach Moskau ist bis heute im russischen Volk tief verwurzelt. Die Russen werden alles daransetzen, ähnliches nicht noch einmal zuzulassen. Auch deshalb ist das Streben Russlands nach wirksamen Vereinbarungen und Verträgen zur Abrüstung nachvollziehbar.
Der NATO-Doppelbeschluss
Was die NATO und die US-Administration bis heute verschweigen, ist die Vorgeschichte des NATO-Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979. Es war eben nicht so, dass die Entwicklung ausgelöst wurde durch die Stationierung sowjetischer Mittel- und Kurzstreckenraketen in einigen Ländern des Warschauer Vertrages, sondern durch eine frühere Entscheidung der US-Amerikaner zur Entwicklung von zwei neuen Offensivsystemen auf dem Gebiet der INF (Intermediate Nuclear Forces/Raketen mittlerer und kürzerer Reichweite). Es lag auf der Hand, dass diese neuen bodengestützten Systeme ausschließlich für den Einsatz in Westeuropa vorgesehen waren. Durch ihre Reichweite von ca. 2.500 km waren sie zugleich in der Lage, einen nicht geringen Teil der Silos mit strategischen Kernwaffen der Sowjetunion, z.B. in der Ukraine, zu erreichen. Damit wurden sie quasi zu strategischen Waffen und hätten zur Realisierung der Strategie der »realistischen Abschreckung« beitragen können.
Die sowjetische Führung wollte und konnte der vorgesehenen Stationierung von 108 Pershing 2 und 464 Cruise Missiles (CM) in Europa durch die Dislozierung geeigneter Raketensysteme zuvorkommen. Sie war zu einer sofortigen Reaktion in der Lage, weil sie bereits über entsprechende mobile Systeme verfügte. Ob diese harte Entscheidung in jeder Hinsicht notwendig war, mag dahingestellt sein. Wirksam war sie allemal. Diese unmittelbare und wirkungsvolle Reaktion auf die bevorstehende Aufstellung neuer INF in Westeuropa führte zum sogenannten NATO-Doppelbeschluss, der aus zwei Teilen bestand:
- Aufstellung der neuen Raketen und Marschflugkörper (Pershing 2 und BGM-109 Tomahawk) in Westeuropa und
- Einleitung von Verhandlungen für eine Rüstungskontrolle zur Begrenzung der INF.
Der gesamte Prozess lief nicht ohne Komplikationen und Irritationen ab. Ende 1984/Anfang 1985 hatte es tatsächlich den Anschein, die Friedensbewegung könne die Aufstellung der neuen INF-Systeme verhindern.
Tatsächlich trafen dann aber im August 1985 die ersten CM in Belgien ein. Die Parlamente der Niederlande, Italiens, Belgiens und der Türkei hatten unter dem Druck der USA ebenfalls ihre Zustimmung gegeben. Damit erreichte die militärische West-Ost-Konfrontation einen neuen Höhepunkt.
Im gleichen Jahr bot die Sowjetunion, die inzwischen in schwieriges politisches und wirtschaftliches Fahrwasser geraten war, weitreichende atomare Abrüstungen an. Wie eingangs beschrieben einigten sich Gorbatschow und Reagan 1987 auf einen detaillierten Vertrag zum Rückzug, zur Vernichtung und zum Produktionsverbot atomar bestückter, landgestützter Flugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 km. Mit der Unterzeichnung und Realisierung des INF-Vertrages wurde diesem gefährlichen Spuk ein Ende gesetzt.
Es begann ein Umdenken in Bezug auf die Kategorie »potenzieller Aggressor«. Das Gleichgewicht des Schreckens hatte zu einer latenten Kriegsgefahr geführt. Zugleich wurde immer deutlicher, dass die Länder Europas komplett »kriegsuntauglich« sind. Ihre komplizierte Infrastruktur würde auch in einem konventionellen Krieg nach ein bis zwei Tagen zusammenbrechen. Das öffentliche Leben würde nicht mehr funktionieren. Der einzige vernünftige Weg aus diesem Dilemma führt über Rüstungsreduzierung und Abrüstung. Die 40-jährige Periode des Kalten Krieges, in der der militärische Faktor zum bestimmenden Element der Politik geworden war, fand ein vorläufiges Ende. Letztlich war diese Situation Ausdruck der Unfähigkeit der politischen Führer beider Seiten, maßvoll mit den realen Widersprüchen umzugehen.
Und heute?
Nach der Auflösung des Warschauer Vertrags und dem Zerfall der Sowjetunion, der wahrscheinlich größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts, dauerte es aber nur wenige Jahre, bis die USA erneut auf ihre militärische Stärke zur Durchsetzung ihrer Interessen setzten. Durch die Kriege auf dem Balkan, die NATO-Osterweiterung und nicht zuletzt infolge der Wiedervereinigung der Halbinsel Krim mit Russland kam es zu einer neuen Konfrontation.
Die Konsequenz einer endgültigen Kündigung des INF-Vertrages für Europa bestünde darin, dass die Zeit um 35 Jahre zurückgedreht werden würde. Daran kann kein vernünftiger Mensch interessiert sein. Dieses Abkommen berührt wesentliche Interessen Europas. Deshalb sollte alles unternommen werden, dass es in Kraft bleibt. Da ist nur zu hoffen, dass die Bundesregierung sich aktiv in diesem Sinne einbringt.
Mit der Entfaltung des landgestützten Aegis-Raketenabwehrsystems seit Mai 2016 in Rumänien und jetzt in Polen verstoßen die USA jedoch eindeutig gegen den INF-Vertrag. Mit den Universalstartanlagen Mk.41 von Aegis können auch CM vom Typ Tomahawk verschossen werden. Deren Reichweite liegt bekanntlich deutlich über 500 km und macht sie damit zu einer Erstschlagwaffe. Wahrscheinlich liegt hier einer der Gründe dafür, dass die USA aus dem INF-Vertrag aussteigen wollen.
Im Unterschied zur Situation der 1980er Jahre stehen heute nicht mehr nur zwei Staaten vor der Lösung eines Problems, sondern mehrere. Gerade bei Mittelstreckenwaffen verfügen mit China, Indien, Iran, Nordkorea, Pakistan und Saudi-Arabien weitere Länder über solche landgestützten Systeme. Dabei sind die chinesischen Raketen Dongfeng 21 ein besonderer Dorn im Auge der US-Militärs, weil sie die Bekämpfung von Flugzeugträgern erlauben, wenn sie sich noch außerhalb der Reichweite ihrer bordgestützten Flugzeuge befinden. Damit ist der Offensivcharakter der Trägergruppen in der asiatisch-pazifischen Region praktisch aufgehoben.
Ein weiterer bedeutsamer Unterschied der gegenwärtigen Situation zu damals besteht darin, dass selbst aufmerksamste Beobachter und Analysten in Russland keinerlei Vorbereitungen des Landes auf einen möglichen großen Krieg erkennen können.
Fazit: Es ist höchste Zeit, dass alle die Menschen, die unabhängig von Ihrer Hautfarbe, Konfession und gesellschaftlichen Stellung den Krieg als Mittel der Politik ablehnen und ernsthaft für Frieden und Abrüstung eintreten, sich dazu bekennen.
Die Welt braucht eine neue Friedensbewegung!
17. März 2021
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