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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Wider das Vergessen

Walter Ruge (Auszug)

 

Unser Genosse Walter Ruge starb, sechsundneunzigjährig, am 10. November 2011. Es war und bleibt für uns eine tiefe Bereicherung, ihn gekannt zu haben und eine Ehre, dass er für unsere Mitteilungen schrieb. In den KPF-Beiträgen zur Geschichtsdebatte "Klartexte" berichtete Walter über sich selbst: "Geboren 7. Juni 1915 in Berlin. 1929 KJVD, 1933 Emigration Moskau. Fremdsprachen-Korrektor, Starkstromschlosser, Werkzeugmacher, Apparatebauer, Röntgeningenieur. Juni 1941 bis November 1950 als NKWD-Häftling Bauarbeiter, Schlosser, Arzthelfer (Feldscher). Rückkehr in die DDR ...". In den Mitteilungen 11/2007 finden sich in einem von Walter Ruge geschriebenen, würdigenden Artikel zum neunzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution die Sätze: "Um gewissen Stimmen vorzugreifen, dass ich anscheinend nicht wisse, wovon ich spreche - zu allem Ärger weiß ich, wovon ich spreche. Ich kenne Arbeitsumerziehungslager (isprawitelno-trudowoj-lagerja, auch als GULag bekannt) aus dem Effeff, und zwar von innen und nicht vom Hörensagen." Über diese Zeit schrieb er "Treibeis am Jenissei" und wir finden auch in seinem letzten Buch "Wider das Vergessen" entsprechende Erinnerungen und Reflexionen. Daraus die nachfolgenden Auszüge:

 

Mit der Zeit wird sich - hoffen die Spender aus Krasnojarsk - ein Pilgertourismus zu den sibirischen Stätten der Leiden des großen Koba (der ursprüngliche Parteipseudonym des Dshugaschwili) in Bewegung setzen. Hier könnte auf einem Luxusliner stromabwärts gleitend das Aristoteles-Prinzip von Ursache und Wirkung vorgeführt werden. "Meine Damen und Herren", würde es von der Brücke lauten, "ich darf Sie auf das Sonnendeck bitten. Sie sehen jetzt Backbordseite - Höhepunkt unserer Kreuzfahrt - auf dem flachen Ufer die kleine Siedlung Kureika, wo aus Spendengeldern ein würdiges Monument zum Gedenken an die Leiden unseres großen Steuermannes errichtet wurde‚ bevor er die Geschicke unseres Landes in seine starken Hände nahm. Aber das ist lediglich die Ursache. Haben Sie noch eine Stunde Geduld, stecken Sie Ihre Schnupftücher nicht fort, dann können wir Sie auch mit den tragischen Folgen des Wirkens dieses Genies bekannt machen … dort, auf dem sich hoch aufbäumenden linken Ufer sehen Sie ein bescheidenes Kreuz und die in den Himmel ragende Silhouette einer Dampflokomotive, die an das Schicksal Tausender völlig unschuldiger Häftlinge mahnt, die im Moor und eisiger Kälte das Letzte gaben, um vergeblich einen brauchbaren Damm für die Stalinbahn genannte Polarbahn vom Ob zum Jenissei aufzuschütten".

Weitere Zeugnisse dieser tragischen Vergangenheit würden den neuen Boom der betuchten Pilger wahrscheinlich stören. Zu diesen Zeugnissen gehört die stromabwärts gelegene "Todesinsel". "Die Wahrheit über Agapitowa" kam erst 58 Jahre später im "Kommunist sapolarja" (9.8.90) zutage. Hier, unweit von Igarka, haben die Organe im Herbst 1942 aus den Laderäumen der Linienschiffe "Stalin", "Ordshonikidse" und "Maria Uljanowa" 483 Deportierte unter freiem Himmel ausgesetzt; kein Stacheldraht, keine Wachhunde, keine Bewachung, keine Baracken, kein Wachturm, keine Strafakte, kein Urteil, keine Bäckerei, keine Küche, keine Filzstiefel, keine ‚schapkas‘, kein Baum, kein Strauch, kein Sicherheitsbeauftragter, keine Zählappelle, nicht einmal Erschießungskommandos - nichts - nur Schnee! Vogelfrei, dem herannahenden gnadenlosen Polarwinter ausgesetzt. Hier zeigte sich, dass die Behörden - bei diesen wegen der Nationalität, lettisch, finnisch, deutsch, deren Unantastbarkeit durch die sowjetische Verfassung vom 5.12.1936 garantiert war, Verschleppten - verglichen mit uns ‚ordnungsgemäß‘ Abgeurteilten, noch sehr steigerungsfähig waren. Dem ersten Winter fielen vor allem Kinder (Robert Herzog 6 Monate, Viktor Karp 7 Monate) und die Alten (Lukjan Weber 88 Jahre) restlos zum Opfer.

Bis zum Frühjahr 1943 erreichten die Verluste 182 Personen, davon 110 Wolgadeutsche, 48 Letten, 1 Jude, 23 Finnen. Etwas mehr als die Hälfte überlebte. (Seite 163)

Nach der Eröffnung der Fotoausstellung "Mama, ich lebe", gingen wir gemeinsam hinüber in das große Auditorium und ich hielt anlässlich der Präsentation des Buches "Un communiste au Goulag" im Maison des arts et de litterature Heinrich Heine, einer Stiftung der Bundesrepublik am 20.11.2003 in Paris, Cité Universitaire International - folgende Ansprache, die mir Anne-Marie freundlicherweise übersetzt hatte:

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Traum von einem "neuen Menschen", den man geduldig (eben durch "Aufklärung") erziehen müsse, ist ursprünglich keine Vision der Bolschewiki. Diese edle Idee können wir ganz klar schon bei Rousseau und Diderot finden, wenn auch bisweilen dieser große Gedanke in einem Versuch zur Aufklärung der europäischen Monarchen (Voltaire - Friedrich II von Preußen) seiner ursprünglichen Bestimmung nicht ganz gerecht wurde.

In Russland waren es Alexander Gerzen und Leo Tolstoi, die sich den noch beinahe in feudalen Verhältnissen lebenden Menschen zuwandten.

Die Bolschewiki übernahmen lediglich diese Visionen, aber schon unmittelbar nach der Revolution ließen sich verhängnisvolle Stimmen, wie die Trotzkis: "Wir werden die Menschen - wenn nötig - zu ihrem Glück zwingen", vernehmen.

Mit Beginn der 30er Jahre wurde die Erziehung des neuen Menschen mehr und mehr Sache der "Umerziehungs-Arbeitslager" (russisch ITL), also der Straflager. Man wurde strafrechtlich abgeurteilt durch Arbeit ein "neuer Mensch" zu werden und wenn man mit der Haft endlich fertig war, vertraute die Obrigkeit dem Erfolg ihrer rigorosen Erziehungsmaßnahmen nicht so recht - man wurde mit diversen administrativen Mitteln vom breiten Strom des Lebens, von Kultur und Zivilisation, von den großen Zentren für lange Zeit, später für ewig fern gehalten.

Ich für meinen Teil glaubte damals selbstverständlich an die Möglichkeit, einen "neuen Menschen" zu schaffen, bin dabei sicher selbst ein wenig ein "neuer Mensch" geworden, habe versucht andere - nicht über die Straflager, versteht sich - zu "neuen Menschen" zu wandeln.

So kann man mich ohne Mühe dem Typ des "Weltverbesserers" zuordnen - dieser gilt ja als pathologisch, als nervenkrank, wenn auch nicht unbedingt gemeingefährlich, wird mitunter sogar eingesperrt, natürlich nicht in ein Gefängnis, sondern in eine Verrücktenanstalt oder Nervenklinik, was mir erspart blieb.

Da meine Besessenheit die Welt zu verbessern mit den Jahren durchaus etwas nachgelassen hat, eine gewisse Genesung zu beobachten ist, sitzt somit dieser Weltverbesserer nicht in einer Nervenheilanstalt, sondern in Paris, vor Ihnen und legt Ihnen seine Aufzeichnungen über ein schon langsam in Vergessenheit geratenes Jahrhundert vor.

Sie werden auf diesen Seiten Freundschaft, Nächstenliebe, Flucht, Schwermut, Enttäuschung, Optimismus, Lebensbesessenheit und Liebe, besonders auch Bewunderung der Natur finden.

Vielleicht geriet der Anschluss zum Anstoß für dieses Buch - die neuen Eliten wollten unser Leben, unsere DDR-Vergangenheit generell besudeln, einen Staat zum Unrecht-Staat machen, wollten uns "delegitimieren", wie es der ehemalige Geheimdienstchef, später deutsche Justizminister Klaus Kinkel auf den Punkt gebracht hat.

Nicht Kapitulation war gefragt, sondern das ehrlose, entwürdigende Zu-Kreuze-kriechen. So entstand mein Ruf: "Wir haben gelebt, geliebt, gearbeitet, und gelitten, ja auch gelitten - wir brauchen uns nicht endlos zu schämen oder gar zu rechtfertigen!".

Sie werden im vorliegenden Buch vergebens nach Rachegefühlen und Zynismus, nach Vergeltungsrufen und Hass suchen, werden die nachträgliche Bitte um Mitleid vermissen - dafür stand bei mir nicht eine einzige Zeile zur Verfügung.

Bei einem Gespräch über diese Zeit stellte mir in Potsdam eine Abiturientin die Frage - es sollte die Schlüsselfrage zum Verständnis dieses Buches werden: "Sagen Sie bitte, nachdem Sie in diesem Land so viel Bedrückendes erlebt haben, sind Sie nach Ihrer Rückkehr in die DDR noch einmal dort gewesen?"

Worauf ich ihr antworten musste, dass ich jedes Jahr mindestens einmal, oft auch noch dienstlich, in "dieses Land" gereist bin, dass ich dort sehr gute Freunde, ja Verwandte habe, mit denen wir jedes Mal wunderbare Stunden und Tage erlebt haben.

Die vorliegende, knappe Auswahl konnte nicht widerspiegeln, dass die volle Rehabilitierung keine rein juristische Angelegenheit ist, sondern dass wie viele andere auch, ich mich physisch und psychisch voll rehabilitieren konnte, kein psychischer "Schaden", kein Dach-Schaden zurückgeblieben ist.

Allerdings: Mit Ende der Sowjetunion bin ich dort nur noch zweimal gewesen - ich konnte den fürchterlichen Niedergang einfach nicht mit ansehen. 50 % der Menschen leben unter dem Existenzminimum. Allein in Moskau erfrieren jeden Winter mehrere hundert Menschen - das wäre in "unserer" Zeit schier undenkbar gewesen, für die errungene "Freiheit" ist dieser Preis entschieden zu hoch.

Ihrer möglichen Frage: Wie konnte ich das alles überleben, wohlbehalten hier vor Ihnen sitzen - will ich vorgreifen.

Damals (1941) war ich sehr jung (26 Jahre) und kerngesund. Politisch war ich - bin es ja bis heute geblieben - völlig unbedeutend.

Ich hatte mich sehr schnell von dem deutschen Partei- und Emigrantenmilieu getrennt und in die sowjetische Gesellschaft integriert. In meiner Strafsache hatte ich keine politischen "Kumpane", war "Einzeltäter".

Bei den Verhören waren schwere Misshandlungen (wie 1938-1939) kaum noch üblich.

In den letzten drei Haftjahren war ich im lagermedizinischen Dienst als Arzthelfer, einer schonenden Tätigkeit, eingesetzt, viel Glück gehabt. Andere hatten weniger Glück - und überlebten nicht. Streng genommen sind die Überlebenden schlechte Zeitzeugen - wirkliche Zeugen wären die, die es nicht überlebt haben, die Toten - die könnten sicher mehr berichten als ich, der Überlebende.

Mir lag ursprünglich nicht daran, das tausendste Buch über den GULag zu verfassen, obwohl ich über zehn Prozent meines Lebens dort verbracht habe. Ich wollte Momentaufnahmen dieses Jahrhunderts festhalten, den Menschen in seiner Würde, seine Visionen, seine Illusionen, die Träume von Kindheit und Jugend und dann den Sturz in einen grenzenlosen Abgrund, den andere ebenfalls, z. B. als Krieg, erlebt haben. Und die Wiedergeburt dieses verloren geglaubten Menschenkindes, indem ich die mir gebotene Hand der Einsicht über zugefügtes Unrecht, der Rehabilitierung, der Wiedereingliederung in ein ganz normales Leben ergriffen habe, tatsächlich wieder geboren wurde, meinen Hunger nach Leben, nach Freundschaft und Liebe stillen konnte, zu meinem Humor zurückgefunden habe. Nur als diese Dreieinigkeit - Illusion, Sturz und Wiedergeburt - hat dieses Buch seinen Sinn. (Seiten 80 bis 83)

Walter Ruge, Wider das Vergessen, Verlag GNN Schkeuditz, 2008 (1. Auflage), Taschenbuch, 256 Seiten, ISBN 978-3-89819-282-8, 15,00 € (falls noch lieferbar).

 

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