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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Roter Fatalismus - unbedingt notwendig?

Walter Ruge, Potsdam

 

Bei chemischen oder physikalischen Versuchen ist das Ergebnis weitgehend überschaubar, wird anvisiert; mehr noch: bei der industriellen Verwertung von Forschungsergebnissen kann das Produktionsergebnis sicher bestimmt werden, wird zur Routine; anders blieben die "Investoren" aus. Lange Zeit haben wir diese "Verfahrensweise" mechanisch auf die gesellschaftlichen Verhältnisse übertragen. Wir kannten die Gesetzmäßigkeiten, wußten, wohin die Entwicklung geht; es entstand so etwas wie ein "revolutionärer Determinismus".

Das Signal Oktoberrevolution verstanden wir als Auftakt; dabei folgte die reale Entwicklung nicht unbedingt unseren "Regeln"; wir mußten zur Kenntnis nehmen, daß unsere "Methoden" zwar die aktuelle Situation ziemlich präzise erfaßten, unsere Prognosen sich in der Praxis nicht unbedingt umsetzten. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus hat sich das besonders schmerzlich bestätigt. Bleiben wir beim "Auftakt". In den zwanziger Jahren war bei uns Linken fest verankert, daß auf den verheerenden Ersten Weltkrieg zwangsläufig eine Weltrevolution folgen "muß". Sie blieb aus; ja, für Deutschland - das eine Niederlage erlitten hatte - kamen sogar die "Goldenen Zwanziger Jahre" mit 4-5, schließlich 6 Millionen Arbeitslosen, analog zu unserer heutigen "Spaßgesellschaft" mit ihren "Fanmeilen", Mainzer Karneval und Großem Zapfenstreich. Sorglosigkeit "der Massen" ist allemal eine gute Hefe zum Regieren. Der "Imperialismus", den wir schon "sterben" sahen, erholte sich unerwartet. Dieses Phänomen erleben wir in anderen Spielarten bis heute; je inniger wir uns an unsere "Gesetzmäßigkeiten" klammerten, umso heftiger die Erschütterung. In diesem Umdenkungsprozeß wurden viele unserer Freunde zu Opportunisten, paßten sich an; das muß nicht sein. Wir können diese Erscheinungen in Ruhe überdenken, ohne sofort umzufallen – sie zu ignorieren wäre kurzsichtig.

An die Stelle der revolutionären Sicherheit traten Zweifel, schlimmer noch, das frömmelnde Hinnehmen, "es" muß doch seine Richtigkeit haben, wir ergaben uns ohne zu Mucken dem - von uns lediglich ungenau erkannten, allem Anschein nach festgeschriebenen - Schicksal. Vor einiger Zeit ließ jW (vom 4. März 2011) dankenswerterweise in "Tun, was nötig ist" den italienischen Philosophen Domenico Losurdo zu Wort kommen; Enttäuschungen bleiben uns hier erspart - es muß nur erkannt werden, was denn eigentlich "nötig" war oder ist.

Über einen weit gespannten Bogen, die Geschichte des skrupellosen, grausamen britischen Kolonialismus, führt uns Losurdo die Kette von Massakern, die Gewalt der Kolonialherren gegen "die Eingeborenen" als eine Art Urgewalt vor - zunächst versteht man nicht, was das mit dem eigentlichen Thema "Stalin; Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende" zu tun hat. Es erweist sich, auch Stalin konnte sich den aufgezeigten Urgewalten nicht ganz entziehen. So sicher scheint sich der Autor dabei nicht zu sein; jedenfalls wird an dieser Stelle der Scharfrichter des britischen Kolonialismus Sir Winston Churchill in den Zeugenstand gerufen, um uns zu erklären, "der Tuchatschewski-Prozeß und der Große Terror (haben) insgesamt eine positive und recht relevante Rolle für die Niederlage des Unternehmens 'Barbarossa' gespielt" - schwungvolle Worthülsen, bar jeder Logik - Stalin habe getan, was "notwendig" ist, eine schizophrene Dialektik. Ein Staatsmann verdächtigt hinter jeder Epaulette einen Bonaparte, Zehntausende werden massakriert, und 80 Jahre später sieht Domenico Losurdo in diesen Massakern – die er im Vergleich zum britischen Kolonialismus recht moderat einstuft – eine Stärkung des Landes und der Roten Armee für den bevorstehenden Krieg. Wir sind einmal angetreten, um eine andere, eine bessere, nicht eine vergleichbare Welt zu schaffen. Es hat niemals eine Stärkung, sondern in den ersten Kriegsmonaten einen Blutzoll des Rückzugs, bis vor die Tore Leningrads, Moskaus und Stalingrads gegeben. Es nützt einer kommunistischen Weltbewegung – wenn es denn diese noch gibt - nichts, die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen und mit Losurdo fatalistisch auszurufen: "Alle großen historischen Krisen haben furchtbare Dilemmata hervorgerufen", - "Begleiterscheinungen", fast schon "Kollateralschäden" der Geschichte zu definieren, denn hinter "allen Krisen" standen Menschen, die nicht durch modernen Fatalismus entlastet werden können. Nach dem Dogma Stalins war der Erzfeind Sowjetrußlands Großbritannien, er hat einfach nicht verstanden, daß im internationalen Kräfteverhältnis grundlegende Veränderungen eingetreten sind, nicht Großbritannien, sondern Deutschland zum Erzfeind, zur Hauptgefahr aufgerückt ist; verständlich, daß unser "Staatsoberhaupt" in den ersten Kriegstagen fassungslos, nicht handlungsfähig war.

Unser italienischer Philosoph bezichtigt Stalin nicht, er erläutert ihn, denn er steht dem kommunistischen Gedankengut nicht ablehnend gegenüber, ja er stellt sich gegen das "Schwarzbuch", erläutert dabei die "Urgewalten", mit denen sich Stalin konfrontiert sah, denen sich die Partei, das Land, ja wir alle zu beugen hatten. Denken wird damit bis heute blockiert. Der Autor behauptet "mit Walzer": "im äußersten Notfall müsse ein Staatsmann hier und jetzt die Last der Kriminalität auf sich nehmen". Stalin scheute anscheinend diese "Last" nicht. Als Sowjetbürger der dreißiger Jahre – mit allerdings nur zwanzig Lenzen - ist mir ein "äußerster Notfall" nie bewußt geworden.

Stalin hat im Großen Vaterländischen Krieg seine Rolle gespielt, hat Moskau nicht verlassen, im Kreml schlaflose Nächte verbracht, die seinen relativ frühen Tod mit sich brachten, an der Front wurden Großangriffe mit dem Ruf "Für die Heimat, für Stalin!" eingeleitet; gerade deshalb ist es überflüssig, ihm heute irgendetwas anzudichten, den Blick für die tatsächlichen geschichtlichen Abläufe zu trüben.

Vom - kommunistischen - Fatalismus befreit, ist seine Rückkehr in irgendeiner Form unerwünscht.

Walter Ruge. Geboren am 7. Juni 1915 in Berlin. 1929 KJVD, 1933 Emigration Moskau. Fremdsprachen-Korrektor, Starkstromschlosser, Werkzeugmacher, Apparatebauer, Röntgeningenieur. Juni 1941 bis November 1950 als NKWD-Häftling Bauarbeiter, Schlosser, Arzthelfer (Feldscher). Rückkehr in DDR, hier Standfotograf im DEFA-Studio für Spielfilme, Dolmetscher, Schauspieler, Conferencier, APO-Sekretär/SED, Russischdozent. 1975 Aufhebungsvertrag, Sektionsleiter Radsport, Verantwortlicher für Öffentlichkeitsarbeit beim DRSV der DDR, DSF-Aktivist (Ehrennadel Gold). Seit 1990 Autor und Publizist. Arbeiten für junge Welt, ND, RotFuchs.

 

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