Werner Wüste: »Vaterlos. Kindheitserinnerungen 1935-1945«
Leseprobe
Damals hieß der Ostbahnhof Schlesischer Bahnhof. Wollte man auf einen der Fernbahnsteige, zum Beispiel, um jemanden vom Zug abzuholen, brauchte man eine Bahnsteigkarte. Die kostete 10 Pfg. Auf dem Wege zur Waldschule und zurück nach Hause, zum Bahnhof Ostkreuz, fuhr ich jedes Mal durch den Schlesischen Bahnhof. Es kam auch vor, dass ich ausstieg, zum Beispiel, um auf »meinen« Zug zu warten. Der S-Bahnverkehr war manchmal nicht sehr regelmäßig, aber ich war mit seinen Möglichkeiten vertraut. Ich war ein geübter S-Bahn-Nutzer.
Es war ein später Nachmittag zur kalten Jahreszeit. Ich wartete müde auf meinen Zug. Da sah ich auf dem tiefer liegenden Fernbahnsteig eine Gruppe Menschen stehen, Männer, eng beieinander, in dunkler Kleidung. Sie sahen verfroren aus und es schien so, als stünden sie deshalb so dicht beieinander. Dann bemerkte ich, nur ein wenig abseits stehend, zwei Männer, die die anderen bewachten. Jedenfalls schien es mir so. Und ich glaubte auch erkennen zu können, dass die in der Gruppe gefesselt waren.
Mein Zug kam. Ich zögerte kurz und stieg ein. Aber das Bild ließ mich nicht los. Bis heute nicht.
Ich frage mich noch immer, warum ich nicht länger stehen blieb, warum ich nicht versuchte, genauer hinzusehen, ob das vielleicht eine Gruppe von Strafgefangenen gewesen sei, ob da mein Vater dabei war. Ich habe nicht einmal nachgesehen, ob ich das Geld für die Bahnsteigkarte gehabt hätte. Später kamen mir auch Zweifel, ob ich, wäre er dabei gewesen, meinen Vater wirklich erkannt hätte. Und wenn, was hätte ich dann machen sollen ...?
So manches Mal noch habe ich diese Situation, so oder ähnlich, geträumt. Und bis heute habe ich keine Antworten. Es blieb das Gefühl, etwas falsch gemacht, etwas Wichtiges versäumt, in einem entscheidenden Moment nicht ausreichend Mut gehabt zu haben.
Das Buch »Vaterlos. Kindheitserinnerungen 1935-1945« von Werner Wüste (verlag am park, 2014, 189 Seiten, ISBN 978-3945187135) ist zum Preis von 16,99 Euro im Buchhandel zu beziehen oder über: Kommunistische Plattform der Partei DIE LINKE, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin, Mail: kpf@die-linke.de.
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2015-03: Hier auf Erden …
2014-06: Die Benjamins – eine deutsche Familie (II und Schluss)