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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Vor 20 Jahren: Bundesverfassungsgericht erklärt Auslandseinsätze der Bundeswehr für grundgesetzkonform und führt »Parlamentsvorbehalt« ein

Prof. Dr. Gregor Schirmer, Berlin

 

Vor 20 Jahren, am 12. Juli 1994, erließ der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts unter dem Vorsitz der Präsidentin Jutta Limbach ein denkwürdiges Urteil. Karlsruhe erklärte Auslandseinsätze der Bundeswehr für verfassungsrechtlich zulässig und entnahm dem Grundgesetz den »Parlamentsvorbehalt«.

Was war passiert? Die damalige Bundesregierung unter Helmut Kohl hatte kraft eigener Machtvollkommenheit, ohne den Bundestag zu fragen, Einsätze der Bundeswehr mit See- und Luftstreitkräften im Krieg gegen Jugoslawien und mit Nachschub- und Transporttruppen im Krieg in Somalia beschlossen. Die SPD im Bundestag unter Willy Brandt, Herbert Wehner, Hans-Joachim Vogel und Hans-Ulrich Klose – damals in der Opposition – hatte angeblich etwas gegen solche Einsätze. Sie verklagte die Bundesregierung beim Bundesverfassungsgericht wegen Verstoß gegen verschiedene Artikel des Grundgesetzes und Verletzung der Rechte des Bundestages und seiner Abgeordneten. Es geschah das Kuriosum, dass auch der kleine Koalitionspartner der CDU/CSU, die FDP im Bundestag, die eigene Regierung in Karlsruhe verklagte. Wie sich zeigte, ging es den Klägern nicht um die grundsätzliche Verhinderung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr, sondern darum, Auslandseinsätzen eine durch höchstrichterliche Interpretation des Grundgesetzes abgesegnete Legalität und Legitimation zu verschaffen und abzusichern, dass der Bundestag beim kriegerischen Geschäft mitentscheiden darf. Den Gefallen tat ihnen das Gericht. Die Kläger bekamen zum Teil Recht. Die Bundesregierung konnte – obwohl sie formell als Verlierer dastand – damit leben: Auslandseinsätze der Bundeswehr galten hinfort als mit dem Grundgesetz konform. Die Mitwirkung des Bundestags war für sie kein ernst zu nehmendes Hindernis.

Missachtung des Grundgesetzes

Die Verfassungsrechtslage war und ist jedoch eindeutig anders. In Art. 87a Abs. 1 GG heißt es: »Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf …«. Diese Bestimmung war nach der Gründung der Bundeswehr und nach der Aufnahme der BRD in die WEU und die NATO im Rahmen der sogenannten Wehrverfassung im März 1956 in das Grundgesetz eingefügt worden. Die Festlegung des Potsdamer Abkommens »Völlige Abrüstung und Entmilitarisierung Deutschlands« war vergessen. Abs. 2 des Art. 87a bestimmt: »Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.« Was Verteidigung ist, wird in Art. 115a Abs. 1 GG definiert. Ein »Verteidigungsfall« liegt vor, wenn »das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht«. Ausdrücklich zugelassen hat das Grundgesetz den Einsatz der Bundeswehr nur in zwei Fällen, nämlich 1. zur »Abwendung einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes«. (Art. 87a Abs. 4) und 2. wenn eine »Naturkatastrophe« oder ein »Unglücksfall das Gebiet mehr als eines Landes« gefährdet »soweit es zur wirksamen Bekämpfung erforderlich ist« (Art. 35 Abs. 3 GG). Weitere ausdrückliche Zulassungen von Militäreinsätzen sind im Grundgesetz nicht vorgesehen.

Die Richter konstruierten einen dritten grundgesetzlichen Zulassungsfall für Auslandseinsätze. Als Krücke musste Art. 24 Abs. 2 GG herhalten. Dort wird die Ermächtigung gegeben, dass sich Deutschland »zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen« kann. Die hinkende Karlsruher Logik sagt: Wenn die Bundesrepublik sich mit Zustimmung des Parlaments einem solchen System eingeordnet hat, dann ist damit auch »die verfassungsrechtliche Grundlage für die Übernahme der mit der Zugehörigkeit zu einem solchen System typischerweise verbundenen Aufgaben und damit auch für eine Verwendung der Bundeswehr zu Einsätzen, die im Rahmen und nach den Regeln dieses Systems stattfinden«, gegeben. Das Gericht setzte sich darüber hinweg, dass jeder Mitgliedstaat eines kollektiven Sicherheitssystems seine Pflichten auch mit nichtmilitärischen, zivilen, also friedlichen Mitteln erfüllen kann und sich nicht automatisch an Militäreinsätzen beteiligen muss. Art. 24 Abs. 2 GG formuliert auf jeden Fall keine weitere »ausdrückliche« Zulassung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Das Argument, der Grundgesetzgeber habe mit Art. 87a GG nur Inlandseinsätze der Bundeswehr regeln und Einsätze nach Art. 24 Abs. 2 nicht ausschließen wollen, geht am Wortlaut des Grundgesetzes vorbei.

Damit auch Bundeswehreinsätze unter dem Kommando der NATO als verfassungskonform umgemünzt werden können, erklärte das Bundesverfassungsgericht kurzerhand, entgegen dem offiziellen Selbstverständnis dieses »Verteidigungs«-Bündnisses und unter Missachtung rechtswissenschaftlicher Erkenntnisse, die NATO zu einem »System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG«. Dasselbe gilt nach Karlsruher Maßstäben für die EU. Aber auch der NATO-Vertrag enthält keine Verpflichtung, mit Waffengewalt Beistand zu leisten. Jeder NATO-Staat entscheidet selbst, mit welchen Mitteln er seine Beistandsverpflichtung erfüllt.

Die verfassungsrechtliche Absegnung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr durch das Urteil war eine der politisch schwerwiegendsten Fehlentscheidungen des Gerichts und eine eklatante Missachtung des Grundgesetzes. Acht Leute in roten Roben haben »Im Namen des Volkes« den Weg frei gemacht für die Teilnahme der Bundesrepublik an imperialistischen Kriegen und Militäraktionen überall in der Welt, für eine Bundeswehr »im Einsatz«, für die Militarisierung der deutschen Außenpolitik.

Gegenwärtig sind nach offiziellen Angaben der Bundeswehr rund 4.880 Soldaten im Auslandseinsatz, darunter 3.032 in Afghanistan, 701 in Kosovo, 288 in der Türkei, 106 im Mittelmeer, 151 vor Libanon, 151 in Mali und 335 am Horn von Afrika. Seit 1992 haben die Steuerzahler für Auslandseinsätze 17 Milliarden Euro berappt. 55 deutsche Soldaten haben mit ihrem Leben bezahlt. Nach Willen und Plan der schwarz-roten Bundesregierung und mit dem Segen von Pfarrer Gauck, dem derzeitigen Bundespräsidenten, will Deutschland in Zukunft noch mehr internationale »Verantwortung« übernehmen, nicht zuletzt auch mit militärischen Mitteln.

Reduzierte Entscheidungsgewalt des Bundestages

Für besonders demokratisch wird allenthalben gehalten, dass Karlsruhe mit dem Verfassungssegen für Auslandseinsätze zugleich den sogenannten Parlamentsvorbehalt eingeführt hat. Ein unbedarfter CDU-Abgeordneter nannte in der Bundestagsdebatte am 20.3.2014 den Parlamentsvorbehalt »ein Juwel unserer parlamentarischen Arbeit«. Das Bundesverfassungsgericht hat bestimmt: »Das Grundgesetz verpflichtet die Bundesregierung, für einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte die – grundsätzlich vorherige – konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestags einzuholen.« Ein solcher Parlamentsvorbehalt entspreche deutscher Verfassungstradition seit 1918 und sei auch dem Grundgesetz immanent. Die Regierung wurde berechtigt, bei »Gefahr im Verzug« bewaffnete Streitkräfte ohne vorherige Einzelermächtigung des Bundestages in Auslandseinsätze zu schicken, aber verpflichtet, »in jedem Fall das Parlament umgehend mit dem so beschlossenen Einsatz [zu] befassen«. Der Gesetzgeber solle »die Form und das Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung näher ausgestalten.«

Der Gesetzgeber brauchte 11 Jahre Gezerre, um dem Auftrag des Gerichts mit dem »Parlamentsbeteiligungsgesetz« nachzukommen. In dem Gesetz wurde bestimmt, wann ein genehmigungspflichtiger »Einsatz« vorliegt, nämlich »wenn Soldatinnen und Soldaten in bewaffnete Unternehmungen einbezogen sind oder eine Einbeziehung in bewaffnete Unternehmungen zu erwarten ist.« (§ 2 Abs. 1) Nach dieser Formel lassen sich manche Arten von Einsätzen der Zustimmung des Bundestags entziehen. Zwei Ausnahmen sind schon im Gesetz (§ 2 Abs. 2) vage formuliert: »Vorbereitende Maßnahmen sind kein Einsatz« und »Gleiches gilt für humanitäre Hilfsdienste und Hilfsleistungen der Streitkräfte, bei denen Waffen lediglich zum Zweck der Selbstverteidigung mitgeführt werden, wenn nicht zu erwarten ist, dass die Soldatinnen und Soldaten in bewaffnete Unternehmungen einbezogen werden.«

Ein »Parlamentsheer« ist die Bundeswehr nicht geworden. Die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte« hat nach Art. 65a GG der »Verteidigungs«-Minister, im »Verteidigungsfall« nach Art. 115b GG der Bundeskanzler, nicht etwa der Bundestagspräsident. Die Bundeswehr ist ein Instrument der Exekutive, nicht des Parlaments. Die Entscheidungsgewalt des Bundestags ist darauf reduziert, vorbereitete Einsatzbeschlüsse der Regierung abzusegnen. Das Parlament kann zum Antrag der Regierung nur Ja oder Nein sagen. Änderungen des Antrags sind ausdrücklich ausgeschlossen (§ 3 Abs. 3). Und das Parlament sagt erfahrungsgemäß ohne Rücksicht auf den Volkswillen Ja. Der Bundestag hat seit dem Urteil unzählige – sicher weit mehr als 100 – Beschlüsse der Regierung über Beginn und Verlängerung von Einsätzen der Bundeswehr mit den Stimmen der jeweiligen Oppositionsfraktionen – außer der bislang standhaften Linksfraktion, deren Minderheit [1] aber neuerdings einem Auslandseinsatz zugestimmt hat – bestätigt. Zuletzt sind die Einsätze am Horn von Afrika, im Kosovo, in Mali und vor Libanon vom Bundestag mit »überwältigender« Mehrheit verlängert worden. Eine Ablehnung hat noch nie stattgefunden. Wenn der Auslandseinsatz bestätigt ist, hört der Einfluss des Bundestags auf. Er wird lediglich »regelmäßig über den Verlauf der Einsätze und über die Entwicklung im Einsatzgebiet« unterrichtet (§ 6 Abs. 1). Es steht ihm nach § 8 ein Rückholrecht zu, von dem er noch nie Gebrauch gemacht hat.

Der Regierung ist solches Mitreden und Mitbestimmen des Bundestags schon deshalb lästig, weil Auslandseinsätze der Bundeswehr dadurch immer wieder in die öffentliche Diskussion kommen und jede/jeder Abgeordnete mit der namentlichen Abstimmung vor den Wählern Farbe bekennen muss. Nach dem Willen der Großen Koalition soll nun eine Parlamentarische Kommission »prüfen«, wie die Parlamentsrechte bei »fortschreitender Bündnisintegration und trotz Auffächerung von Aufgaben gesichert werden können«. Es geht wohl eher um die Aufweichung und Einschränkung der Parlamentsrechte. Die Entsendung deutscher Soldaten in integrierte Stäbe der NATO und der EU soll erleichtert werden. Dem widersetzt sich die Fraktion der Linkspartei. Sie will die Parlamentsrechte nicht nur sichern, sondern stärken. Das ist lobenswert. Ein Ende der Auslandseinsätze der Bundeswehr wird sich durch den Parlamentsvorbehalt nicht erreichen lassen.

 

Anmerkung:

[1] Fünf Abgeordnete der LINKEN votierten am 9. April 2014 mit Ja. 35 stimmten mit Nein, 18 enthielten sich der Stimme, und 6 nahmen nicht an der Abstimmung teil – Red.

 

Gregor Schirmer: »Ja, ich bin dazu bereit«, Eine Rückblende, Verlag am Park, Berlin 2014, 432 S., 22,99 €. »Hier schreibt einer, der während des Kalten Krieges von West nach Ost wechselte und in der DDR eine wissenschaftliche und politische Laufbahn absolvierte, die ihn bis an die Spitze der SED führte.«

 

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2013-03: 10 Jahre Internationaler Strafgerichtshof

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2008-09: Das Münchener Diktat 1938