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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Das Münchener Diktat 1938

Prof. Dr. Gregor Schirmer, Berlin

 

Das Münchener Abkommen zwischen Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien wurde am 29. September 1938 von Adolf Hitler, Neville Chamberlain, Benito Mussolini und Edouard Daladier unterzeichnet. Der tschechoslowakischen Delegation wurde das Abkommen danach eröffnet. Einige Stunden später teilte die Prager Regierung unter dem Zwang der Umstände mit, daß sie das Abkommen annimmt. Es trägt zu Recht den Namen Münchener Diktat. Die Auslieferung des Sudetengebietes an Hitler-Deutschland wurde besiegelt. Das Abkommen setzte voraus, daß "hinsichtlich der Abtretung des sudetendeutschen Gebiets" eine Vereinbarung "bereits grundsätzlich erzielt wurde". In der Tat waren sich England und Frankreich mit Hitler einig, daß das Sudetengebiet "heim ins Reich" kommen mußte. Mussolini hatte nichts dagegen. Das Abkommen bestimmte, daß die "Räumung" des "sudetendeutschen Gebiets" und die Besetzung durch deutsche Truppen am 1. Oktober, also zwei Tage später beginnt und am 10. Oktober abgeschlossen wird. Geräumt werden mußte nicht nur das eigentliche Sudetengebiet, sondern darüber hinaus das "restliche Gebiet vorwiegend deutschen Charakters". Die ČSR verlor 29.000 qkm Territorium und vier Millionen Einwohner.

Das Münchener Diktat war der erste Akt der ohnehin geplanten Vernichtung des tschechoslowakischen Staates und für Hitler ein Bestandteil der Vorbereitung des faschistischen Aggressionskrieges. Der Endpunkt war die Unabhängigkeitserklärung der Slowakei, befohlen von Hitler und ausgeführt von Josef Tiso am 14. März 1939, und die Besetzung der "Rest-Tschechei" durch die faschistischen Truppen am 15. März 1939. Am 16. März wurde die Gründung eines "Protektorats" Nazi-Deutschlands namens Böhmen und Mähren unter einem von Hitler eingesetzten "Reichsprotektor" ausgerufen. Ein souveräner Staat wurde faktisch ausgelöscht. De jure bestand dieser Staat in seinen Grenzen von 1919 jedoch weiter. Er wurde ab 1940 von einer Exilregierung in London unter Beneš repräsentiert.

Großbritannien und Frankreich haben mit München eine verhängnisvolle Politik der Besänftigung Hitlers und der Zugeständnisse an ihn um ihres vermeintlichen Friedens willen betrieben. Sie wollten die Aggressivität des faschistischen Deutschland nach Osten ablenken. Eine besonders üble Rolle hat der englische Premierminister Chamberlain gespielt. Er degradierte sich selbst zum Briefträger von Ultimaten Hitlers an die ČSR. Die Beneš-Regierung hat gegen die aggressive Politik Hitlers keinen konsequenten Widerstand geleistet und unter den Drohungen Hitlers und dem Druck Englands und Frankreichs kapituliert.

Positionen nach Sieg und Befreiung

Nach dem Sieg über den Faschismus war es selbstverständlich, daß Deutschland das Sudetengebiet nicht behalten konnte. Die ČSR lebte de facto in ihren Vorkriegsgrenzen wieder auf. Insoweit war das Münchener Abkommen erledigt. Aber nur insoweit. Offen blieb die Frage, ab wann das Münchener Abkommen nichtig war. Ist diese Frage nicht Schnee von gestern? Leider nein. Um es kurz zu sagen: Wenn das Abkommen von Anfang an nichtig war, dann haben die Sudetendeutschen niemals die deutsche Staatsangehörigkeit erworben. Die ČSR hat 1945 ihre eigenen "deutschstämmigen" Staatsbürger enteignet, was ihr Recht ist. Wenn das Abkommen zunächst rechtsgültig war und erst irgendwann später nichtig wurde, dann sind die Sudetendeutschen deutsche Staatsangehörige geworden. Die ČSR hätte dann Ausländer enteignet, was völkerrechtlich problematisch ist. Das ist heute der Kern der Sache. Es geht um Rückgabe oder Entschädigung, also um viel Geld.

Die DDR und die ČSSR haben in Art. 7 ihres Vertrags von 1967 eindeutig erklärt: "Die hohen vertragschließenden Seiten stellen fest, daß das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 unter Drohung eines Aggressionskrieges sowie der Anwendung von Gewalt gegenüber der Tschechoslowakei zustande gekommen ist, daß es Bestandteil der verbrecherischen Verschwörung des nazistischen Deutschlands gegen den Frieden und eine grobe Verletzung der bereits damals geltenden elementaren Regeln des Völkerrechts darstellte und daß deshalb dieses Abkommen von Anfang an ungültig war, mit allen daraus sich ergebenden Folgen."

Die BRD und die ČSSR erkannten in der Präambel ihres Vertrags von 1973 an, "daß das Münchener Abkommen ... der Tschechoslowakischen Republik durch das national-sozialistische Regime unter Androhung von Gewalt aufgezwungen wurde". Art. I bestimmte, daß die beiden Partner "das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 im Hinblick auf ihre gegenseitigen Beziehungen nach Maßgabe dieses Vertrags als nichtig" betrachten. Eine kryptische Formel, die den Zeitpunkt und der Wirkungen der Nichtigkeit offen läßt. Art. II legt die "Maßgabe dieses Vertrags" fest: Etwaige Rechtspositionen natürlicher und juristischer Personen aus der Zeit vom 30. September 1938 bis zum 9. Mai 1945 bleiben unberührt; unberührt bleibt die Frage der Staatsangehörigkeit lebender und verstorbener Personen; der Vertrag bildet keine Rechtsgrundlage für materielle Ansprüche der ČSSR und ihrer natürlichen und juristischen Personen. Der Vertrag zwischen der BRD und der Tschechischen und Slowakischen Föderation von 1992 bestätigt den Vorgängervertrag "auch hinsichtlich einer Nichtigkeit des Münchener Abkommens". Es wurde wiederum über Zeitpunkt und Wirkung der Nichtigkeit nichts geregelt. Genscher übergab am Tag der Unterzeichnung seinem Amtskollegen Dienstbier einen Brief, in dem er "in Erinnerung" ruft, "daß während der Verhandlungen folgende Erklärungen abgegeben wurden: ... Beide Seiten erklären übereinstimmend: Dieser Vertrag befaßt sich nicht mit Vermögensfragen."

Im Januar 1997 wurde die Deutsch-Tschechische "Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung" in Prag unterzeichnet. Der für die Tschechische Republik (die Slowakei hatte sich inzwischen abgetrennt) wichtige Satz stand in der Präambel: "im Bewußtsein, daß die Bundesrepublik Deutschland die Aufnahme der Tschechischen Republik in die Europäische Union und die Nordatlantische Allianz nachdrücklich und aus der Überzeugung heraus unterstützt, daß dies im gemeinsamen Interesse liegt". Dafür war die tschechische Seite bereit, Kröten zu schlucken. Sie wollte unbedingt in die NATO und in die EU. Sie bedauerte in Ziffer III, "daß durch die nach dem Kriegsende erfolgte Vertreibung sowie zwangsweise Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei, die Enteignung und Ausbürgerung unschuldigen Menschen viel Leid und Unrecht zugefügt wurde, und dies auch angesichts des kollektiven Charakters der Schuldzuweisung. Sie bedauert insbesondere die Exzesse, die im Widerspruch zu elementaren humanitären Grundsätzen und auch den damals geltenden rechtlichen Normen gestanden haben, und bedauert darüber hinaus, daß auf Grund des Gesetzes Nr. 115 vom 8. Mai 1946 ermöglicht wurde, diese Exzesse als nicht widerrechtlich anzusehen, und daß infolgedessen diese Taten nicht bestraft wurden." Mehr als dieses Schuldbekenntnis kann von einem Opfer der faschistischen Aggression gegenüber der Bundesrepublik Deutschland nicht erwartet werden.

In der Erklärung fehlt der einfache Satz: Die BRD und die ČSR haben keine Rechtsansprüche gegeneinander und werden solche auch in Zukunft nicht erheben. Statt dessen einigte man sich darauf, daß "jede Seite ihrer Rechtsordnung verpflichtet bleibt und respektiert, daß die andere Seite eine andere Rechtsauffassung hat". Vorrang hätten Verständigung und gegenseitiges Einvernehmen. Aber: Bundeskanzler Kohl sagte nach der Unterzeichnung der Erklärung, daß es "eine Reihe von Fragen gibt, die wir durch diese Erklärung nicht aus der Welt schaffen"; dazu gehöre "die Vermögensfrage, die bleibt natürlich offen".

Völkerrechtliche Bewertung

Das Münchener Diktat war ein derartig eklatanter Bruch des geltenden Völkerrechts, daß es von Anfang an nichtig war. Schon damals galt gewohnheitsrechtlich der Grundsatz, daß ein Vertrag, der unter Anwendung oder Androhung von Gewalt zustande kommt, nichtig ist. Ein völkerrechtlich gültiger Akt für eine Abtretung tschechoslowakischen Staatsgebiets an Deutschland hätte nur eine Vereinbarung zwischen der CSR und dem Deutschen Reich sein können. Die ČSR war die einzig Verfügungsberechtigte über eine Abtrennung.

Das Abkommen war ein geradezu "klassischer" Fall eines Vertrags zu Lasten Dritter, nämlich der Tschechoslowakei, der völkerrechtlich nicht zulässig war. Die Partner des Abkommens hatten kein Verfügungsrecht über Staatsgebiet der Tschechoslowakei. Die Tschechoslowakei war an dem Abkommen nicht beteiligt. Mit Gewalt erzwungene Gebietsveränderungen waren schon damals völkerrechtswidrig und nichtig.

Die Partner des Abkommens haben, alle zusammen oder jeder für sich, gültige völkerrechtliche Verträge gebrochen. Der Krieg als Mittel der Politik war durch den Kelloggpakt vom 27. August 1928, dem alle vier Partner des Münchener Abkommens angehörten, geächtet. Das Abkommen war ein Bruch von Art. 10 der Satzung des Völkerbundes, dem damals Großbritannien, Frankreich und die Tschechoslowakei angehörten (Deutschland und Italien waren bereits ausgetreten). Der Artikel verpflichtete, die territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit der Mitglieder des Völkerbundes zu achten und zu wahren. Verletzt wurde das I. Haager Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle von 1907. Gebrochen wurde der Versailler Vertrag von 1919, an dessen territoriale Bestimmungen Deutschland nach wie vor gebunden war. In Art. 85 hieß es: "Deutschland erkennt die vollständige Unabhängigkeit der Tschechoslowakei an." Frankreich hat mit dem Abkommen den französisch-tschechoslowakischen Bündnisvertrag vom Januar 1924 und den Garantievertrag vom Oktober 1925 gebrochen. Deutschland hat den deutsch-tschechoslowakischen Schiedsvertrag vom Oktober 1926 verletzt, der vorsah, alle Streitfragen jeglicher Art friedlich zu regeln, indem sie einem Schiedsgericht zur Entscheidung unterbreitet werden.

Umsiedlung und Enteignung

Das Münchener Diktat war die Erstursache für die sogenannte Vertreibung der Sudetendeutschen und ihre Enteignung. Die Aussiedlung wurde von den vier Siegermächten beschlossen. Unter Punkt XIII des Potsdamer Abkommens heißt es: "Die drei Regierungen haben die Frage unter allen Gesichtspunkten beraten und erkennen an, daß die Überführung der deutschen Bevölkerung oder eines Teils derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland zurückgeführt werden muß. Sie stimmen darin überein, daß jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humanitärer Weise erfolgen muß." Die Aussiedlung der Deutschen war eine unvermeidliche Folge der vorangegangenen Verbrechen der Nazis. Humanitäre Prinzipien wurden dabei insbesondere in der Zeit zwischen Ende des Krieges und den Potsdamer Beschlüssen vielfach verletzt. Es gab Verbrechen gegen Deutsche, die damals nicht verfolgt wurden. Das ist heute auch durch Aufhebung von Beneš-Dekreten nicht mehr zu ändern.

Dem Grunde nach war die Umsiedlung als Sanktion für die Verbrechen der Nazis gegen den tschechoslowakischen Staat und sein Volk und als Garantie für die Unwiederholbarkeit solcher Verbrechen unvermeidlich und gerechtfertigt. Es ist erinnernswert, daß im Vorfeld der deutsch-tschechoslowakischen Erklärung von 1997 alle drei Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, Großbritannien, Rußland und die USA den Punkt XIII des Potsdamer Abkommens in untereinander abgestimmtem Noten an die Regierung der ČSR vom 14. Februar 1996 bestätigt haben. In der Note der USA hieß es: "Die Entscheidungen, die in Potsdam von den Regierungen der Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich und der Sowjetunion im Juli und August 1945 getroffen wurden, waren im Völkerrecht wohl begründet. Die Schlußfolgerungen der Konferenz sind seitdem öfters in verschiedenen multilateralen und bilateralen Zusammenhängen gebilligt worden. ... Die Schlußfolgerungen der Potsdamer Konferenz sind ein historisches Faktum und die Vereinigten Staaten sind überzeugt, daß kein Land sie in Frage zu stellen wünscht."

Die Eigentumsfrage ist der Kern der nach Ansicht der deutschen Seite noch offenen Fragen, nachdem das sogenannte Recht auf Heimat durch die Mitgliedschaft der ČSR in der EU erledigt ist. Jeder Sudetendeutsche kann nach Böhmen ziehen. Aber die Enteignungen der Deutschen in der ČSR im Jahre 1945 durch Dekrete des Staatspräsidenten Beneš werden nach wie vor in Frage gestellt. Der Völkerrechtler Dieter Blumenwitz verstieg sich 2002 zu der Beschuldigung, die Enteignung sei "Bestandteil des Genocides an der in der damaligen Tschechoslowakei siedelnden deutschen ... Volksgruppe". Gerade, weil eine zwingende Völkerrechtsnorm verletzt ist, sei Wiedergutmachung geboten.

Nach tschechoslowakischem Recht waren die Enteignungen rechtmäßig. Das hat das tschechische Verfassungsgericht in einem Urteil vom 8. März 1995 bestätigt. Das Völkerrecht steht dem nicht entgegen. Die Enteignungen waren kein Bruch des Völkerrechts und schon gar kein internationales Verbrechen. Sie waren eine souveräne Entscheidung des tschechoslowakischen Staates auf dessen Territorium. Das Völkerrecht überläßt die Gestaltung der Eigentumsordnung dem jeweiligen Staat. Es ist dessen innere Angelegenheit und unterliegt dessen Rechtsordnung, ob er mit oder ohne Entschädigung enteignet.

Eine Einschränkung besteht nach Völkerrecht hinsichtlich des Eigentums ausländischer natürlicher und juristischer Personen. Ausländer müssen entschädigt werden. Hier wird die Konsequenz der Nichtigkeit des Münchener Diktats von Anfang an oder später deutlich. Die ČSR hat bei Ungültigkeit des Diktats von Anfang an eigene, nicht deutsche Staatsangehörige enteignet, denn die Übertragung der deutschen Staatsangehörigkeit an die Sudetendeutschen im Gefolge des Diktats ist ebenso nichtig wie das Diktat selbst.

Schließlich ist bei der Bewertung die Umbruchsituation im Völkerrecht nach dem II. Weltkrieg zu bedenken. In dieser Zeit waren außerordentliche Maßnahmen notwendig und gerechtfertigt, um den Frieden mit einem Staat zu sichern, der singuläre Verbrechen begangen hatte. Diese Maßnahmen können nicht ohne weiteres an den Prinzipien der UNO-Charta und an dem danach ausgebauten demokratischen Völkerrecht und den darin enthaltenen Menschenrechten gemessen werden. Die Charta legte in Art. 107 fest: "Maßnahmen, welche die hierfür verantwortlichen Regierungen als Folge des zweiten Weltkrieges in bezug auf einen Staat ergriffen haben, der während dieses Krieges Feind eines Unterzeichners der vorliegenden Charta war, werden durch die Bestimmungen der vorliegenden Charta weder außer Kraft gesetzt noch untersagt."