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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Unterschätzt das Volk nicht!

Jörg Rückmann, Berlin (AG Cuba Sí)

 

Die gegenwärtigen Lage in Venezuela ist nach wie vor besorgniserregend – die angespann­te wirtschaftliche Lage, die über Wochen und Monate anhaltende Gewaltbereitschaft der Opposition und die Attacken auf die Institutionen des Staates. Die Gegner der Bolivari­schen Revolution wollen den Sturz der rechtmäßig gewählten Regierung von Präsident Ni­colás Maduro. Und sie erhalten dafür Unterstützung aus den USA, der EU und der Organi­sation Amerikanischer Staaten (OAS).

Im Mai 2017 traf sich der venezolanische Parlamentspräsident Julio Borges vom Oppositi­onsbündnis Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) mit US-Vizepräsident Pence sowie dem Nationalen Sicherheitsberater McMaster zu einer Beratung, wie die Krise in Venezuela »schnell und friedlich« gelöst werden könne. Lilian Tintori, Ehefrau des Oppositions-politikers Leopoldo López, wurde u. a. zu Gesprächen mit US-Prä­sident Trump (Februar 2017) und mit dem brasilianischen De-facto-Präsidenten Temer (Mai 2017) eingeladen.

Anfang Juni fand unter dem Oberbefehl des Südkommandos der US-Streitkräfte (South­com) unmittelbar vor der Küste Venezuelas der zweite Teil des Militärmanövers »Trade­winds 2017« statt. Mehr als 2.500 Soldaten aus 19 Ländern – darunter aus Großbritan-nien, Kanada, Frankreich und den Niederlanden – waren dabei im Einsatz. Es gehe, so South­com-Oberbefehlshaber Kurt W. Tidd, »um die Sicherheit in der Region«. Kurz zuvor hatte Tidd die Regierung Maduro als das »destabilisierende Element« in Lateinamerika aus­gemacht und eine Invasion in Venezuela in Erwägung gezogen.

Auf der OAS-Sitzung in Cancún (19.– 21. Juni) übten die USA und Mexiko Druck auf mehre­re Mitgliedsstaaten aus, um eine Resolution gegen Venezuela zu erwirken.

Am 27. Juni schossen Regierungsgegner aus einem gestohlenen Hubschrauber auf die Ge­bäude des Innenministeriums und des Obersten Gerichtshofes in Caracas, was als Putsch­versuch gewertet werden muss. Im Ausland verübten Anhänger der Opposition Anschläge auf diplomatische Vertretungen Venezuelas, zum Beispiel in Spanien, in der Schweiz und in der Bundesrepublik Deutschland. Im Internet wurde offen zum Mord an chavistischen Politikern aufgerufen. Und am 6. August gab es 170 Kilometer westlich von Caracas einen Angriff auf einen Militärstützpunkt.

Nachdem schon Obama Venezuela als »außergewöhnliche und außerordentliche Bedro­hung für die Sicherheit und Außenpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika« bezeichnet hatte (Präsidialdekret, 9. März 2015), legte Trump am 11. August 2017 in New Jersey mit den Worten nach: »Wir haben viele Optionen bezüglich Venezuela, einschließlich einer militärischen, falls nötig.«

Blick über den Tellerrand

Um wirklich zu verstehen, was derzeit in Venezuela geschieht, reicht ein isolierter Blick auf das südamerikanische Land nicht aus.

Vor knapp 20 Jahren hat Lateinamerika einen Prozess der Emanzipation und Integration begonnen, den Kuba und Venezuela initiiert und maß­geblich mitgestaltet haben. Mehrere Länder des Kon­tinents arbeiten heute solidarisch zusammen und wollen ihre Probleme friedlich und ohne Einmischung von außen lösen. Sie haben dafür Organi­sationen wie ALBA-TCP (Bolivarianische Allianz für die Völker Unseres Ame­rika – Handelsvertrag der Völker) und CELAC (Gemeinschaft der Lateiname­rikanischen und Karibischen Staaten) ge­gründet. Lateinamerika hat begonnen, der Welt eine Alternative zum neo­liberalen Wirt­schaftsmodell vorzuleben.

Die Angriffe auf Venezuela richten sich deshalb nicht allein gegen Präsident Maduro und seine Regierung, sondern vor allem gegen diesen Emanzipations- und Integrationsprozess.

Der Versuch, solche Entwicklungen zu stoppen und dadurch den Ländern Lateinamerikas das Recht auf eine eigenständige, souveräne Entwicklung abzusprechen, ist nicht neu: 2002 Venezuela, 2008 Bolivien, 2009 Honduras, 2010 Ecuador, 2012 Paraguay, 2016 Bra­silien – die Ereignisse in Venezuela stehen in direktem Zusammenhang mit diesen subver­siven Handlungen, parlamentarischen und militärischen Putschen.

Hinzu kommt, dass Venezuela reich an Rohstoffen ist; neben Erdöl verfügt das Land bei­spielsweise über riesige Lagerstätten an Coltan, das für die Elektroindustrie benötigt wird und an dem internationale Konzerne großes Interesse haben.            

Tatsache ist: Die venezolanische Bourgeoisie hat das chavistische Projekt nie akzeptiert; sie hat es nie verwunden, dass Hugo Chávez ihr den Zugriff auf das Erdöl weggenommen hat, um mit ehrgeizigen Sozialprogrammen die Armut im Land zu bekämpfen. Ebenso hat sie es bis heute nicht geschafft, die Präsidenten Chávez und Maduro auf demokratischem Wege abzulösen. Der Putsch der Oligarchie im Jahr 2002 brach unter dem massiven Wider­stand der Bevölkerung und loyaler Militärs zusammen.

Die alten Eliten Venezuelas boykottieren seit dem Amtsantritt von Chávez 1999 die wirt­schaftliche Entwicklung des Landes. Die Bolivarische Revolution hatte kaum Chancen, die ökonomische Diversifizierung des Landes wirklich voranzubringen, um der Abhängigkeit vom Öl zu entkommen. Erinnert sei an den Versuch der Opposition im Jahr 2003, die vene­zolanische Erdölindustrie lahmzu­legen. Das Ziel war, über einen Zusammenbruch der Wirt­schaft und der Versorgung der Bevölkerung den Weg für einen Putsch zu ebnen.

Altbekannte Strategien

Diese Blaupause ist in Lateinamerika immer wieder angewendet worden. In Bezug auf Kuba formulierte es Lester D. Mallory, Mitarbeiter im US-Außenministerium, im Jahr 1960 so: »Kuba müssen Geld und Lieferung verweigert werden, damit die Reallöhne sinken mit dem Ziel, Hunger, Verzweiflung und den Sturz der Regierung hervorzurufen.«

Am 20. August 1973, nur wenige Tage vor dem Putsch in Chile, schrieb der »Spiegel«:  »Sprengstoffanschläge rechter Terroristen und politischer Mord, ein lähmender Boykott von 45.000 Transportunternehmern, eine Inflationsrate von 300 Prozent und Mangel an Lebensmitteln drohen die Vision des marxistischen Präsidenten Allende … zu zerstören.«

Und heute Venezuela? Auch hier soll mit einem Wirtschaftskrieg, unter dem die Bevölke­rung leidet, ein Regierungswechsel erzwungen werden. Die ­Szenarien ähneln sich. Und die Konzern­medien versuchen, mit ihren Meldungen über Versorgungs­engpässe und über die Zuspitzung der Lage einen Umsturz in Venezuela regelrecht ­herbeizuschreiben.

Internationale Solidarität!

Der »Nuevo Herald« zitiert am 10. Juni 2017 den rechten ehemaligen Verteidigungs­minister Boliviens Carlos Sánchez Berzain (2003) mit den Worten: »Wenn das cast­ristische ­Kuba Venezuela verliert und das ­Maduro-­Regime fällt, wird die nächste Schlacht in Kuba geschlagen.«

Aber die altbekannten Strategien für einen Regime Change werden möglicherweise in Ve­nezuela nicht wie gewohnt funktionieren. »Unterschätzt das Volk nicht!« – warnte Präsi­dent Maduro die Feinde der Bolivarischen Revolution. Auch kann sich die Regierung auf eine im Volk verwurzelte Armee, die sich bisher loyal verhält, sowie auf seine Verbündeten in Lateinamerika stützen.

Am 30. Juli 2017 hat das venezolanische Volk eine Verfassungsgebende Nationalversamm­lung (Constituyente) gewählt. Die Initiative dazu hatte Präsident Nicolás Maduro gemäß Ar­tikel 348 der venezolanischen Verfassung gestartet. Die Verfassungsgebende Nationalver­sammlung ist ein Diskussionsangebot an alle Schichten der Bevölkerung. Mit ihr soll der Frieden im Land gewährleistet, die Möglichkeiten der Partizipation der Bevölkerung er­weitert und ein Post-Erdöl-Wirtschaftsmodell entwickelt werden.

Die Opposition lehnt die Verfassungsgebende Nationalversammlung sowie alle bisherigen Dialogangebote der Regierung konsequent ab. Aber sie hat bisher auch keinen eigenen Plan zur Neu­gestaltung des Landes vorgelegt. Und sie verschweigt, dass sie selbst über einen längeren Zeitraum eine Änderung der Verfassung gefordert hatte. Kurz vor dem Wahltag kündigte die Opposition an, die »Entscheidungsschlacht auf der Straße« führen zu wollen. Mit Einschüchterung und Gewalt wollte sie die Menschen von der Wahl der Constituyente abhalten. Am Wahltag selbst wurden 1.200 Wahllokale von der Opposition belagert, und es mussten neue Standorte für die Stimmabgabe gesucht werden. 200 Wahllokale wurden beschossen, 181 Wahlmaschinen verbrannt. Noch vor Auszählung der Stimmen stand der Vorwurf des Wahlbetrugs im Raum, den die internationale Presse begierig aufgriff.

Trotz Einschüchterung und Bedrohung, trotz einer gewaltigen Medienoffensive gegen die Regierung Maduro und die Constituyente haben mehr als 8 Millionen Venezolaner/-innen von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Dies belegt: Das venezolanische Volk besitzt das Potential, die Bolivarische Revolution weiterzuführen – auch in der gegenwärtig ange­spannten Situation.

Die Verfassungsgebende Nationalversammlung ist nun Realität. Und sie wird – entspre­chend der Verfassung des Landes – ihre Arbeit mit allen ihr verliehenen Kompetenzen aus­üben. Die Opposition spricht von einer »Entmachtung des Parlaments«, von »Diktatur« und einem »zweiten Kuba«. Aber sie übersieht, dass die geltende Verfassung in Artikel 349 vorschreibt: »Die rechtmäßig bestellten öffentlichen Gewalten dürfen in keiner Weise Ent­scheidungen der Verfassungsgebenden Nationalversammlung behindern.« Die geltende Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela, in der die Bildung einer Verfassungsge­benden Nationalversammlung festgeschrieben ist, wurde 1999, im ersten Regierungsjahr von Hugo Chávez, durch eine Volksabstimmung bestätigt – dies war übrigens die erste Volksabstimmung in der Geschichte des Landes.

Derzeit ist etwas Ruhe im Land eingekehrt. Alle Oppositionsparteien haben mittlerweile ihre Kandidaten für die im Oktober anstehenden Regionalwahlen benannt und sich zur Wahl angemeldet. Trotzdem, so die Präsidentin der verfassunggebenden Versammlung, Delcy Rodríguez, gebe es immer noch Ausschreitungen auf den Straßen.

Venezuela muss derzeit riesige politische und ökonomische Herausforderungen meistern – auch in Verantwortung für den Frieden und die Weiterführung des Integrationsprozesses auf dem Kontinent. Deshalb brauchen das Land, die Regierung Maduro und die Bevölke­rung in der gegenwärtigen Situation die Solidarität aller Linken weltweit in besonderem Maße!                                         

Aktualisierte Fassung eines Artikels aus der Cuba Sí Revista 2/2017, S. 3.

 

Mehr von Jörg Rückmann in den »Mitteilungen«: 

2014-11: Internacionalismo cubano 

2014-09: Eine neue Kuba-Politik? 

2012-01: »Unser Amerika« und DIE LINKE