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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Über einen Konsens der Linken zu Fragen des Nahen Ostens und des Antisemitismus

Ein Vorschlag von Victor Grossman

 

Gegenwärtige Spannungen über den Nahen Osten und verwandte Themen unter Linken bergen die Gefahr der ernsthaften Spaltungen in sich. Jedem und jeder steht es ja offen, Ereignisse auf eigene Art zu betrachten, und die Partei Die Linke soll kontroverse Diskussionen nicht scheuen, gerade nicht zu solchen komplizierten Fragen. Doch wäre es ratsam, meine ich, sich auf bestimmte grundlegende Ansichten einzustimmen. Entgegengesetzte Positionen dürften nicht als "verboten" oder "tabu" gelten, doch müßte klar sein, daß sie bei der Linkspartei eher falsch am Platz sind.

Ich sehe folgende Positionen als Basis für einen Grundkonsens: Wir verwerfen Haß sowie jegliche Ausgrenzung von Menschen wegen ihrer Hautfarbe, Sprache, ethnischen Herkunft, Religion oder sexuellen Orientierung. Wegen des Massenverbrechens Deutschlands gegen jüdische Menschen zwischen 1933 und 1945, Shoah oder Holocaust genannt, verurteilen wir besonders jegliche Art von Antijudaismus oder Antisemitismus.

Wir vergessen dabei nicht den massenhaften Mord an Roma und Sinti, an Millionen von Polen, Russen, Jugoslawen, Griechen, Italienern, an Menschen, vielfach älteren Zivilisten, Frauen und Kindern fast aller Völker Europas. Wir bedenken auch die verfolgten und getöteten Homosexuellen, "Bibelforscher" und Kranken. Wir vergessen nicht das gezielte Ermorden von sowjetischen Kriegsgefangenen, darunter besonders von Juden und Politkommissaren. Mit besonderer Ehrfurcht bedenken wir die Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen und alle anderen, die im Kampf gegen das Hitler-Regime ihr Leben riskierten und oft verloren.

In der Welt von heute betonen wir, daß wir das Recht Israels auf eine sichere Existenz völlig respektieren und alle Forderungen nach seiner Auflösung scharf verurteilen. Wir unterstreichen das Recht der Menschen von Palästina auf eine eigene Heimat, die die gesamte sogenannte Westbank plus Gaza umfaßt, weshalb eine Beendigung der Besetzung der Westbank erforderlich ist. Fragen über Grenzen, Rückkehr von Palästinensern, mögliche Bleiberechte für manche der jüdischen Siedler unter palästinensischer Souveränität sollen friedlich gelöst werden. Echte Sicherheit für beide Seiten muß garantiert werden wie auch volle Souveränität über Land, See und Luftraum, wie von der UNO oft verlangt. Die Möglichkeit eines einheitlichen Staates im ganzen Gebiet bleibt den beiden Seiten gemeinsam überlassen.

Wir sind gegen das Töten im allgemeinen, aber besonders gegen das von Frauen, Kindern und Zivilisten. Wir glauben nicht, daß, um Töten zu verhindern oder zu rächen, weiteres Töten gerechtfertigt ist. Wir begreifen, daß für die Bewohner eines langjährig besetzen Landes – das durch Fremdkontrolle, Landenteignung, Mauerbau, die Vernichtung von Bäumen und Ernten, die Einschränkung der Fischerei und des freien Handels und die Demütigung durch Einschränkungen, Razzien und ständige Kontrollen – der Griff nach irgendwelchen verfügbaren Waffen mehr als verständlich ist. Trotzdem hoffen wir auf friedliche Lösungen und fordern ernsthafte Verhandlungen, ohne Vorwürfe wegen früherer Mißerfolge.

Wir verurteilen sämtliche Äußerungen, welche die Vernichtung Israels fordern, sowie ebenfalls solche, die die Vertreibung bzw. den "Transfer" der Palästinenser fordern. Das Einsperren von anderthalb Millionen Menschen in dem Gaza-Gebiet, ohne Wiederaufbaumöglichkeiten und ohne ein Minimum an normalem Leben, müssen wir verurteilen. Wir begrüßen Untersuchungen der Ereignisse der letzten Zeit, auch kritische, so lange sie fair sind. Wir sind weder für noch gegen Fatah, Hamas oder andere Gruppen und Parteien in Palästina oder Libanon. Deren Wertung muß den Palästinensern bzw. Libanesen überlassen werden. So wie wir jegliche anti-jüdische Propaganda oder Tätigkeit verurteilen und bekämpfen, so verurteilen und bekämpfen wir jegliche Propaganda oder Aktion gegen Muslime wegen ihrer Religion, ihrer Kleidung oder ihres ethnischen Ursprungs. Wir sehen Muslime nicht als eine "Bedrohung", sondern als Mitmenschen, mit denen wir uns gemeinsam für eine bessere Gesellschaft engagieren wollen. Ihre etwaige "Aufklärung" überlassen wir, wie bei anderen Völkern und Gruppen, den progressiven Kräften innerhalb ihrer eigenen Reihen.

Unabhängig von unseren Ansichten über mangelnde Demokratie, Menschenrechte, Gleichheit und Gerechtigkeit in Iran, Syrien, Türkei, Ägypten, Myanmar oder sonstwo, lehnen wir jeden Versuch ab, einen Regierungswechsel durch Krieg, Invasion oder Bombenangriffe zu erzwingen. Jeder Ruf nach Invasion oder Krieg ist zu bekämpfen. Solidarität schließen wir nicht aus, aber doch sämtliche Militäraktionen.

Wir sind schließlich für eine Außenpolitik, die dazu beiträgt, den ärmeren Ländern der Welt und den ärmeren Menschen in reicheren Ländern ein besseres Leben zu ermöglichen und gleichzeitig alles zu tun, um unsere Umwelt auf diesem Planeten zu schonen und zu retten. Wir setzen uns dafür ein, die Macht der riesigen Finanz- und Industriekonglomerate in der Welt zu verringern und so bald wie möglich zu beenden, besonders wenn ihre Aktivitäten zu Militäraktionen führen können.

Wir sehen jedes Land als ein Ganzes von Menschen, Gruppen, Parteien, Klassen, und Strömungen. Manche davon mögen unsere Herzen erwärmen, andere alarmieren. Doch wir verwechseln nicht diese Vielzahl in einem Lande mit dessen jeweiligen wechselnden Regierungen. Deshalb sind wir nicht, und können auch nicht, pro- oder anti-israelisch sein, pro- oder anti-amerikanisch, pro- oder anti-deutsch. Jeden Versuch, uns so zu stempeln, lehnen wir ab.

Ich denke, diese Prinzipien entsprechen den Idealen der meisten in der Linkspartei. Wer sich im starken Widerspruch dazu befindet, soll, wenn er will, seine Meinung behalten, ihm wird aber geraten, sein Glück in einer anderen Partei zu suchen. Die Auswahl ist nur allzu groß. 

Den Beitrag hatte die Zeitung "junge Welt" am 23. Februar auf S. 11 leicht gekürzt dokumentiert.

 

Mehr von Victor Grossman in den »Mitteilungen«: 

2009-06: Was ist denn ein Unrechtsstaat? – Aus amerikanischem Blickwinkel

2009-01: Eine Reflexion zur Voigt-Grossman-Debatte

2009-01: Die Linke und ihre Sicht auf die USA