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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Über 1 Million Tote des Terrors in Lateinamerika

Dr. Winfried Hansch, Berlin

 

Staatsstreiche und Militärinterventionen nach 1945 [1]

 

Das Jahr 2014 war ein Jubeljahr des Fußballs in Brasilien. Es ist aber auch das des 50. Jahrestages des Militärputsches vom März 1964. Am 31. März 1964 wurde Staatspräsident Joao Goulard, Millionär und strenggläubiger Katholik, von den Militärs unter General Castello Branco gestürzt [2], weil nach Einschätzung von US-Botschafter Lincol Gordon und Militärattaché Vernon Walters mit einem Versuch »zur totalitären Machtübernahme zu rechnen sei« [3]. Fast 30 Jahre wurde in Brasilien durch Amnestiegesetze der Militärregierung aus dem Jahre 1979 die Untersuchung der Verbrechen der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 verhindert. Als 1990 in Sao Paulo ein Massengrab mit 1.000 Leichen entdeckt wurde, wurde nicht geklärt, ob es sich um Bestattungen von Armen handelte oder um Opfer von politischer Gewalt [4]. Erst im Mai 2012 wurde in Brasilien eine Wahrheitskommission eingerichtet.

Das massenhafte Foltern, Töten und Entführen (»Desaparecidos« - die Verschwundenen) setzte in Lateinamerika schon früher ein. Die Blutspur der Militärinterventionen und Putsche überzog nach 1945 ganz Lateinamerika. Es begann mit dem Putsch von General Rojas Pinilla 1953 in Kolumbien und dem Sturz von Präsident Jacobo Árbenz 1954 in Guatemala und endet mit dem Putsch gegen Präsident Bischof Fernando Lugo am 22. Juni 2012 in Paraguay. In diesem Zeitraum haben in Lateinamerika über 20 Militärputsche und ausländische Interventionen stattgefunden. Bei diesen Verbrechen gegen die Völker Lateinamerikas wurden über eine Million Menschen getötet. Bürgerkriege und reaktionärer Staatsterror haben mehrere Millionen Lateinamerikaner zu Kriegsflüchtlingen gemacht oder ins Exil getrieben. An den Folgen dieser Putsche und Militärinterventionen leiden die Völker Lateinamerikas noch heute.

Die Aufstellung über Opfer der Militärinterventionen und Putsche in Lateinamerika basiert hinsichtlich der Verifizierbarkeit der Zahlen auf unterschiedlichen Quellen und Erfassungssystematiken verschiedener Länder.

Chronologie der Militärinterventionen und Putsche nach 1945

  • Kolumbien 1953: Putsch durch General Rojas Pinilla, bis heute [5]: 500.000 Tote, 6.500.000 Kriegsflüchtlinge.
  • Paraguay Mai 1954: Putsch durch General Alfredo Stroessner [6]: 50.000 Tote; bei 19.882 Verhaftungen 18.772 Gefolterte, 30.000 Verschwundene, 400.000 Vertriebene.
  • Guatemala 1954: Sturz der Regierung Jacobo Árbenz, bis 1996 [7]: 200.000 Tote, 45.000 Verschwundene, 1.000.000 Vertriebene.
  • Kuba April 1961: Invasion in der Schweinebucht, bis heute [8]: 3.700 Tote, 104 Milliarden Dollar Embargo-Verluste.
  • Brasilien März 1964: Putsch unter General Castelo Branco, bis 1985 [9]: 3.000 Tote, 200 Verschwundene, 20.000 Gefolterte.
  • Bolivien 1980 [10]: Putsch: 500 Tote, 4.000 Verhaftete.
  • Dominikanische Republik April 1965: Militärintervention der USA [11]: 4.000 Tote.
  • Uruguay 1973: Putsch, bis 1985 [12]: 700 Tote, 164 Verschwundene.
  • Chile 11. September 1973: Putsch, bis 1990 [13]: 2.100 Tote, 1.100 Verschwundene, 200.000 Verhaftete, 100.000 Gefolterte, 400.000 Exilierte.
  • Argentinien 24. März 1976: Putsch, bis 1982 [14]: 30.000 Tote und Verschwundene.
  • El Salvador 15. Oktober 1979: Putsch, bis 1992 [15]: 75.000 Tote.
  • Nicaragua: Somoza-Diktatur und Unterstützung der Contras [16]: 100.000 Tote, 350.000 Kriegsflüchtlinge.
  • Peru 1980-2000: Aufstandsbekämpfung gegen den »Leuchtenden Pfad« [17]: 60.000 Tote. 7.000 Verschwundene, 1.000.000 Vertriebene, 10.000 politische Gefangene.
  • Grenada 1983: Militärintervention der USA [18]: 94 Tote, 511 Verwundete.
  • Panama 1989: Militärintervention der USA [19]: 3.000 Tote.
  • Venezuela April 2002: Putsch gegen den Präsidenten Hugo Chavez: keine Zahlen bekannt.
  • Bolivien September 2008: Putschversuch der Separatisten in Santa Cruz: keine Zahlen bekannt.
  • Honduras Juni 2009: Putsch gegen Präsident Zelaya: 100 Tote.
  • Ecuador 30. Sept. 2010: Staatsstreich gegen Präsident Correa: keine Zahlen bekannt.
  • Paraguay 2. Juni 2012: Staatsstreich gegen Präsident Bischof Fernando Lugo: keine Zahlen bekannt.

Bewertungen

Der Bürgerkrieg in Kolumbien dauert über 60 Jahre. Im Juni 1953 stürzte General Rojas Pinilla mit der Losung »Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit« den 1949 an die Regierung gekommen Reaktionär Laureano Gomez, der als Anhänger Hitlers galt. Pinilla versprach, den Bürgerkrieg zu beenden. Es war aber nur eine neue Etappe der Gewalt. Der Krieg in diesem Land ist die schlimmste menschliche Katastrophe Lateinamerikas seit den Befreiungskriegen vor 200 Jahren. Seit 1953 wurden über 6,5 Millionen Kolumbianer zu Kriegsflüchtlingen. Mehr als eine halbe Million Kolumbianer passierten bis Januar 2011 ohne Dokumentation die Grenze nach Ecuador (Pueblos, Madrid, Jan. 2011, S. 28). Die Härte der militärischen Auseinandersetzungen zeigt sich auch darin, dass die Guerillabewegung FARC allein im Jahr 2011 über 2.100 Militäraktionen unternahm (ARCANOS, ebenda, S. 36). Die Regierungsseite gab an, von 2008 bis 2011 über 7.300 Kämpfer der FARC getötet oder verwundet zu haben. Bei den grausamen inneren Auseinandersetzungen in Kolumbien kamen von 2002 bis 2007 14.000 Zivilisten ums Leben. Am 15. 06. 2012 bestätigte die Staatsanwaltschaft Kolumbiens die Existenz von 180 Massengräbern, die von den faschistoiden Paramilitärs in den Jahren 1995 und 1996 in den nordöstlichen Regionen Choco und Antioquia angelegten worden waren (portal amerika 21, 15. 06. 2012). Der volle Umfang der nationalen Tragödie wird sich erst nach Friedensschluss zeigen.

Bei Paraguay wird eine Methode der Militärmachthaber besonders deutlich: Folter während der Verhöre. Von 19.882 offiziell Verhafteten wurden 18.772, also fast 95 Prozent, gefoltert (siehe: TESTIMONIOS DEL HORROR, Tomo II, S. 17).

Am Beispiel von Guatemala wird erkennbar, wie schwer und kompliziert es ist, diese über mehrere Jahrzehnte dauernden Bürgerkriege in Lateinamerika zu bewerten. »Wahrheitskommissionen« wie in Guatemala 1999 unter Christian Tomuschat haben eher zur Vertuschung, bestenfalls zur teilweisen Dokumentation der Verbrechen der Regime beigetragen (siehe Bericht der Kommission »Erinnerung an das Schweigen« vom 25. Februar 1999, Guatemala-Stadt). Die Entdeckung des Geheimarchivs aus Zeiten der Diktatur »La Isla« inmitten von Guatemala-Stadt im Jahre 2005 hat gezeigt, dass bekannte Zahlen schnell von einer noch grausameren Wirklichkeit eingeholt werden können. Mit der Wahl von Ex-General Otto Pérez Molina zum Staatspräsidenten im September 2011 übernahm ein »Aufstands-Bekämpfer«, ein Täter, das oberste Amt in Guatemala.

Kuba befindet sich seit 1961 im »Fadenkreuz der USA« (H. Schäfer, Berlin 2007). Nach der Niederlage in der Schweinebucht 1961 verhängte Präsident J.F. Kennedy im Februar 1962 eine Wirtschaftsblockade gegen Kuba. Die USA, die NATO und auch die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland investierten Milliarden US-Dollar in Programme zum Sturz des politischen Systems in Kuba. Die den NATO-Richtlinien untergeordnete Lateinamerikapolitik der konservativen Bundesregierung strebte aktiv einen Regime-Wechsel in Kuba an (Außenminister Steinmeier am 08.05.2008, Protokoll Bundestag S. 16997). Die Adenauer-Stiftung organisierte unter dem Titel »Transitions-Szenarien für Kuba« Treffen extremistischer Gruppen von Castro-Gegnern aus Kuba und Miami (Homepage KAS Mexiko vom 26.10.2008). Die Hans-Seidel-Stiftung arbeitete an der »Öffnung des autoritären Systems« in Kuba (Homepage HSS Kuba vom 15.10.2008).

In Bolivien lässt sich an den Putschen deutlich die direkte Steuerung einheimischer Militärs durch die USA ablesen, die in der Regel durch die als Militärattachés getarnten CIA-Residenten erfolgte. Präsident Paz Estenssoro hatte 1964 eine »Todsünde« begangen: Er hatte sich der amerikanischen Kuba-Politik entgegengestellt. 1962 stimmte Bolivien gegen den Ausschluss Kubas aus der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und 1964 gegen die Blockade. Als Paz Estenssoro versuchte, Wirtschaftshilfe und Investitionen aus der Sowjetunion zu erhalten, wurde sein Sturz beschlossen. US-Oberst Edward Fox ließ General Barrientos den Putsch starten. Im Jahre 1967 half dafür die Marineinfanterie der USA bei der Suche und Ermordung von Ernesto Che Guevara. Es folgten weitere Umstürze innerhalb der Putschregime, bis im Januar 1971 Oberst Hugo Banzer an die Macht kam und bis 1978 regierte. Nach Banzer entwickelte sich unter der Präsidentin Lydia Geiler eine bürgerliche Demokratie. Schon im Juni 1980 erlitt Bolivien den nächsten Putsch durch General Garcia Meza. Einen besonders grausamen Beitrag bei Verhören, Folterungen außergerichtlichen Tötungen spielten hunderte Paramilitärs »Novios de la muerte«, die von Altnazi Klaus Barbie ausgebildet worden waren. Bei dem Meza-Putsch wurden laut Menschenrechtsorganisationen 500 Menschen getötet und über 4.000 verhaftet. Garcia Meza und Ex-Innenminister Luis Arze Gomez wurden später rechtskräftig verurteilt, ihre Helfer nicht.

In der Dominikanischen Republik kam nach mehreren Aufständen gegen die Trujillo- Diktatur der progressive Präsident Juan Bosch im April 1964 an die Macht und wurde bereits im September 1964 wieder gestürzt.. Mit einer Invasionsarmee von 40.000 US-Marines wurde die spätere Diktatur von Joaquin Balaguer gesichert. Während der Kämpfe wurden 4.000 Dominikaner getötet. Darunter befanden sich viele Frauen und Kinder.

Die Anzahl der Opfer in Uruguay konnten bis heute nicht definitiv bestätigt werden. Hier spielen die »Todesflüge« wahrscheinlich eine große Rolle. Auffallend dabei ist, dass in Argentinien (120 Fälle) mehr Uruguayer entführt wurden als in Uruguay selbst (60 Fälle). Das ist auch ein Ergebnis der verbrecherischen »Operation Condor«. Die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen in Uruguay scheiterte bisher an den noch gültigen Amnestiegesetzen. Weniger als ein Dutzend Militärs wurden verurteilt.

Mit dem Putsch in Chile am 11. September 1973 begann die Diktatur des Generals Augusto Pinochet, die bis zum 11.3.1990 dauerte. (Siehe auch: Naomi Klein »Die Schockstrategie«, 2007 und Naomi Wolf »Wie zerstört man eine Demokratie«, 2012). Unter den über 3.000 Toten und Verschwundenen befanden sich hunderte Militärs, die verfassungstreu zu Präsident Salvador Allende standen. Darunter unbekannte Soldaten aller Dienstgrade bis hin zu Generälen wie Rene Schneider (getötet am 30. September 1974), Carlos Pratts (getötet am 30. September 1974) oder Alberto Bachelet, der Vater der derzeitigen Präsidentin Chiles (getötet am 12. März 1974). Nur wenige Militärs, überwiegend ehemalige Mitarbeiter des Geheimdienstes, wurden vor Gericht zur Verantwortung gezogen. Chile lebt in der Postdiktatur mit der Verfassung von Pinochet. Mit dem Sieg der Kandidatin der »Nueva Mayoria« (Neue Mehrheit), Michelle Bachelet am 15. Dezember 2013, besteht die Möglichkeit, die Aufarbeitung der Diktatur entscheidend voranzubringen, wenn es gelingt, die Verfassung zu ändern.

Der Militärputsch von General Videla, Admiral Massera und General Agosti am 24. März 1976 in Argentinien etablierte einen Staatsterror, der über 30.000 Todesopfer zur Folge hatte. Das betraf auch viele politische Flüchtlinge aus Uruguay, Chile, Bolivien und Paraguay, die im Rahmen der Operation »Condor« auf dem Boden Argentiniens entführt, gefoltert oder getötet wurden. Mit der Regierung Kirchner im Jahre 2003 und der Aufhebung der Amnestiegesetze durch das Verfassungsgericht begann in Argentinien die Strafverfolgung der Gewaltverbrechen während der Militärdiktatur in einer neuen Qualität. Über 1.000 Militärs mussten sich vor Gericht verantworten. Die Rolle von großen Unternehmen, auch deutscher wie Daimler Benz während der argentinischen Militärdiktatur, ist noch juristisch aufzuarbeiten.

Befasst man sich mit Nicaragua, muss man bis 1925 zurückgehen. Von 1926 bis 1933 kämpfte »El Pequeno Ejercito Loco« unter Augusto Sandino gegen die Eindringlinge aus den USA. Dieser heroische Befreiungskrieg forderte 40.000 Menschenleben, in der Mehrzahl Bauern. Die Bezeichnung für die Patrioten des Heeres von Sandino habe ich von dem Argentinier Gregorio Selzer übernommen (1955, »Sandino, General der Freien Menschen«). Die Somoza-Diktatur hinterließ 50.000 Tote. Das Land wurde durch offene Kriegshandlungen, Bombardierungen und Beschuss durch Flugzeuge »unbekannter Nationalität« oder verminte Häfen, finanzielle Blockade, Sabotage und Zerstörung von Infrastruktur, Zuckerfabriken, Lebensmitteldepots und Kaffeefeldern verwüstet. 1986 verklagte die sandinistische Regierung vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag die USA. Diese wurden zu 1,7 Milliarden Dollar Schadenersatz verurteilt. Die US-Administration erkannte das Urteil nicht an.

Bei El Salvador muss man in die 30er Jahre zurückgehen. Im Jahre 1932 erhoben sich Tausende Bauern gegen ihre inländischen und ausländischen Ausbeuter. Farabundo Marti kehrte aus dem Exil zurück. Bei der Niederschlagung des Aufstands wurden 30.000 Bauern getötet (»La Matanza«). Farabundo Marti wurde standrechtlich erschossen. In dem Bürgerkrieg von 1979 bis 1992 wurden weitere 75.000 Menschen getötet.

Das Beispiel der kleinen Insel Grenada (1/3 der Fläche der Insel Rügen) manifestierte im Oktober 1983 die Großmacht USA ihre hysterische Angstkampagne vor dem »Internationalen Kommunismus«. Am 25. Oktober besetzten 7.600 US-Soldaten unter Befehl von General Norman Schwarzkopf die Insel mit dem Ziel, ein »zweites Kuba« zu verhindern. An der Invasionsarmee waren auch symbolische Kontingente einiger Karibikstaaten beteiligt. Unter den fast Hundert Todesopfern waren 25 Kubaner, weitere 59 wurden verwundet. Die amerikanische Invasionsarmee hatte 19 Tote und 116 Verwundete, hauptsächlich Opfer der Flugzeugabstürze außerhalb von Kampfhandlungen.

Nach der »Unabhängigkeit« von Panama im Jahre 1903 sind die USA dann 1989 zum siebten Mal in dieses Land eingefallen. Die Supermacht siegte in wenigen Stunden über eine der kleinsten Armeen Lateinamerikas. Über 3.000 Menschen wurden getötet. Bei der Panama-Invasion wurden 23 Amerikaner getötet, 324 verwundet.

* * *

Wir befassen uns heute mit dem Thema »Aufarbeitung der Militärdiktaturen« deshalb, weil einige nationale Konflikte immer noch militärisch weitergeführt werden. Das Töten, Vertreiben und Unterdrücken ist noch nicht beendet worden. Und nach Honduras 2009, Bolivien 2010, Ecuador 2011 und Paraguay 2012 wird deutlich, dass Putsche und Militärinterventionen von den USA trotz offensichtlichen Machtverlustes in Lateinamerika weiter als wirksames Instrument zur Durchsetzung ihres Einflusses und ihrer Interessen angesehen werden.

Andreas von Bülow, Staatssekretär im Bundesministerium für Verteidigung der BRD von 1976 bis 1980, bewertete den »CIA-Putsch in Guatemala und Chile als Schablone für den Umsturz in Lateinamerika in den nächsten Jahrzehnten« [20]. Das kulminierte in folgender Maxime einiger US-Administrationen: Mit dem »Faschismus gegen den Kommunismus« [21]. Die USA wurden zur Hauptquelle des Terrors in Lateinamerika.

Staatsstreiche auf diesem Kontinent wurden in der Regel durch Bündnisse von Militärs mit der einheimischen Oligarchie, Großgrundbesitzern und dem Großbürgertum möglich. Wie schon 1933 einige Teile der deutschen Gesellschaft es in ihrem Antikommunismus erlaubt hatten, dass der deutsche Faschismus an die Macht kam und zum 2. Weltkrieg und zum Holocaust führte, erlaubten es immer wieder Teile der Gesellschaft mehrerer Staaten Lateinamerikas im Rahmen der Ost-West-Auseinandersetzung den Militärs und Sicherheitsapparaten, »schmutzige Kriege« gegen das eigene Volk zu führen. Das geschah in der Regel im »Kampf gegen den Kommunismus« und um ein »Zweites Kuba« zu verhindern.

Nach Ruth Fuchs ist »die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen« das zentrale Problem und Indikator beim Übergang zur Demokratie [22]. Nur wenn die Täter entmachtet wurden, die von den Tätern erlassenen Amnestiegesetze aufgehoben wurden und die »Straflosigkeit« annulliert wurde, konnte eine wahre Aufarbeitung erreicht werden. Das ist nicht nur eine Angelegenheit der Völker Lateinamerikas. Auch die bürgerlichen Demokratien Europas sollten sich noch heute fragen, inwieweit durch eine in den Zusammenhang der Ost-West-Auseinandersetzung eingebettete wohlwollende Haltung gegenüber den Diktaturen Lateinamerikas durch Regierungen Westeuropas, einschließlich der Bundesrepublik Deutschland, das Morden in Lateinamerika gefördert wurde.

So wird eine von den Diktaturen und ihren Hintermännern nördlich des Rio Grande bereits vor 40 Jahren angewandte Methode – die »gezielten Tötungen« – verstärkt in unserer Zeit praktiziert. Diese Methode wurde angewandt bei der Ermordung des Allende-treuen chilenischen Generals Carlos Pratts im September 1974 in Buenos Aires, am 24. Mai 1981 bei der Ermordung des Präsidenten Ecuadors, Jaime Roldos und 2 Monate später bei der Ermordung des Präsidenten Panamas, Omar Torrijos, am 31. Juni 1981 [23].

Wie sind die Völker Lateinamerikas mit diesen Tragödien umgegangen? Militärdiktaturen und Militärregierungen gehören zur traumatischen Erfahrung vieler Generationen in fast allen Ländern dieses Kontinentes. In Lateinamerika haben nur in elf Ländern Wahrheitskommissionen, »Comisiones de Verdad«, gearbeitet. In wenigen Ländern sind solche Ergebnisse erreicht worden wie in Argentinien, wo etwa 1.000 Militärs der Prozess gemacht wurde.

In dieser Arbeit wurden gesicherte Daten zu Menschenrechtsverletzungen dokumentiert Mit Zahlen kann man die Verbrechen nur unzureichend beschreiben. Die Repression umfasste auch die Aufhebung bürgerlicher Rechte, das Verbot der politischen Betätigung, das Verbot von Parteien und Organisation, Isolierung, Angst, sexuelle Gewalt und andere Repressalien. Nach über 1 Million Toten gilt noch heute: Die Völker Lateinamerikas klagen an!

Berlin, 17. Oktober 2014.

Winfried Hansch war 1976 bis 1990 Autor zahlreicher Studien zu Lateinamerika, speziell zu Argentinien, Mexiko und Beziehungen USA-Lateinamerika. Er war 11 Jahre im Diplomatischen Dienst in Argentinien (1977 bis 1982) und Mexiko (1985 bis 1990) tätig. Seit 2007 ist er Vorsitzender der Alexander-von-Humboldt-Gesellschaft.

 

Anmerkungen:

[1] Aktualisierte Fassung eines Vortrages aus Heft 181 der Pankower Vorträge der »Hellen Panke« vom 22./23. Juni 2012 (s. Abb.); auch in »BIG Business Crime«, Heft 1/2014, S.27 ff. – Herzlichen Dank für Mitarbeit und Recherchen an Carlos Hainsfurth und Jairo Gonzalez zu Kolumbien, Justo Cruz und Dr. Edgar Göll zu Kuba, Achim Wahl zu Brasilien, Dietmar Schulz zu Uruguay, Isidoro Bustos und Rudi Herz zu Chile, Wolfgang Herrmann zu Nikaragua und Klaus Eichner zur »Operation Condor«.

[2] Gregorio Selzer: CRONOLOGIA DE LAS INTERVENCIONES EXTRANJERAS EN AMERICA LATINA, TOMO VI, S. 359ff, Mexico, 2009.

[3] William Blum: Zerstörung der Hoffnung, 2008, S. 271.

[4] »Politicas Publicas de Verdad y Memoria en 7 paises de Amerika Latina«, Camara Municipal Sao Paolo, 1990.

[5] Kolumbien: Pueblos, Nr. 45, 2011, Madrid, S. 16 ARCANOS, Bogota Januar 2012.

[6] Paraguay: Testimonios del Horror, Informe Final de la Comision Verdad y Justicia Asuncion, Mai 2010, Tomo II, S. 17.

[7] Guatemala: Vortrag von Botschafter Gabriel Edgardo Peralta, 04.11.2008, Berlin.

[8] Kuba: Resolution der UNO-Vollversammlung im Juli 2011 zur Blockade gegen Kuba.

[9] Brasilien: Valter Pomar, in »outras palabras« und » Agencia Publica« vom Februar 2012.

[10] Bolivien: William Blum: »Zerstörung der Hoffnung«, 2008, S. 371 ff.

[11] Dominikanische Republik: Lateinamerika Nachrichten 2004, Heft 365.

[12] Uruguay: Informe Final de la Comision para la Paz. Montevideo 2003.

[13] Chile: Bericht von Bischof Sergio Valech an Präsident Ricardo Lagos, Santiago de Chile, November 2004.

[14] Argentinien: Bericht der Comision Ernesto Sabato, Übergabe des Berichtes an Präsident Raul Alfonsin am 20. September 1984.

[15] El Salvador: Tomas Lamber, 24. März 2011 in: Portal amerika 21.de. Anlässlich Obama–Besuch in El Salvador.

[16] Nicaragua: Barricada Internacional, Nr. 40/41, März 1992 Carlos Fonseca, Obra Fundamental, Edition 2006.

[17] Peru: laut Informe Final der »Wahrheits- und Versöhnungskommission«, Lima 2004, wurden davon gesichert 30.000 Menschen durch Streitkräfte, Polizei und Dorfschützer getötet.

[18] Grenada: enotes.com/topic/Invasion of grenada, 19. Juni 2012.

[19] Panama: Colin Powell: »Mein Weg«, 1995, S. 444 / William Blum: »Zerstörung der Hoffnung«, 2008, S. 811–821.

[20] A. v. Bülow, 1998, »Im Namen des Staates«, Pieper-Verlag, S. 216.

[21] Ebenda, S. 371.

[22] R. Fuchs/D. Nolte: Zur Analyse der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika. In: Lateinamerika Analysen, 10/2004, S. 63.

[23] In Gregorio Selser: Panamá, erase un país a un canal pegado, S. 215–216 und S. 275–291.

 

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