»Tonkin-Zwischenfall«: Lüge – Resolution – Eskalation
Prof. Dr. Norman Paech, Hamburg
Kein Krieg ohne Lügen, zumeist am Anfang, wenn der Bedarf an Rechtfertigung besonders groß ist. So auch im August 1964, als die Johnson-Administration sich entschieden hatte, den Krieg in den Norden zu tragen und Nord-Vietnam zu bombardieren. Die offizielle Erklärung lautete ebenso simpel wie einleuchtend aber falsch, ein US-amerikanisches Schiff, die USS Maddox, sei am 4. August in internationalen Gewässern in der Tonking-Bucht angegriffen und beschossen worden. Nun schieße man zurück, ein klassischer Fall der Selbstverteidigung.
In Wahrheit operierte die Maddox seit Juli innerhalb der Zwölfseemeilenzone, die die USA für Vietnam nicht anerkannte. Sie überwachte dort einen Angriff auf die Insel Hon Me. Als sie am 2. August bemerkte, dass sich drei nordvietnamesische Küstenwachtschiffe näherten, feuerte sie auf sie und zwang sie mit der Unterstützung von vier Marine-Jets zum Rückzug. Das Pentagon ließ verlauten, die Maddox sei von den Kommunisten angegriffen worden. Präsident Johnson erklärte, man setze die Patrouillen fort, und das Außenministerium sandte eine Warnung nach Hanoi, »weitere unprovozierte Militäraktionen« würden ernste Konsequenzen haben. Ziel war jetzt, am 3. August, die Zerstörung einer Radarstation auf der Insel Hon Matt in der Bucht. Einen Tag später, am 4. August, erhielten die Maddox und der sie jetzt begleitende Zerstörer Turner Joy von der Fernmeldeaufklärung SIGINT in Südvietnam einen Alarmruf, dass die drei Küstenwachtschiffe zurückkehren würden. Am Abend um 10:00 Uhr bei Sturm und offensichtlich schlechten Sichtverhältnissen meldeten die beiden Kriegsschiffe, sie würden angegriffen und feuerten offensichtlich sinnlos über 300 Salven ab, die ins Leere gingen. Vier Jahre später wird Präsident Johnson mit dem Eingeständnis zitiert: »Verdammt, diese hirnrissigen Matrosen haben bloß auf fliegende Fische geschossen.« [1]
Vietnamesischer Angriff hat nicht stattgefunden
Schon am 7. August in der Sitzung des UN-Sicherheitsrats hatte der Delegierte der Tschechoslowakei die ganze Darstellung und insbesondere die vom Vorfall am 4. August als Erfindung des amerikanischen Kommandos und Vorwand für eine weit ausgedehnte Aggression gegen die Demokratische Republik Vietnam Intervention kritisiert. [2] Bald war allgemein klar, was Daniel C. Hallin in seinem Buch »The Uncensored War. The Media and Vietnam« schrieb: »Der Zwischenfall im Golf von Tonkin war ein Klassiker von Nachrichtenmanagement im Kalten Krieg. (…) Die Berichterstattung über die beiden Zwischenfälle im Golf von Tonkin (war) in fast allen wichtigen Punkten (…) entweder irreführend oder ganz einfach falsch.« [3] Die National Security Agency (NSA) war erst im November 2005 bereit, öffentlich einzugestehen, dass ihre Darstellung der Ereignisse im August 1964 ein Bündel von Lügen und verdrehten Informationen war: »Die überwältigende Mehrheit der Meldungen, wären sie verwertet worden, hätten darüber Auskunft gegeben, dass kein Angriff stattgefunden hatte. So aber wurde mit Vorbedacht der Versuch unternommen zu beweisen, dass der Angriff erfolgt war (…), der zielstrebige Versuch, die SIGINT-Meldung mit der behaupteten Version der Geschehnisse vom Abend des 4. August im Golf von Tonking in Einklang zu bringen«. Die Informationen »wurden absichtlich so zurechtgebogen, dass die These gestützt wurde, es habe einen Angriff gegeben.« [4]
Johnson aber nutzte dieses Konstrukt aus Lügen, sich den Krieg in Vietnam am 7. August durch den Kongress billigen zu lassen. Im Repräsentantenhaus stimmten 460 Abgeordnete ohne Gegenstimme für den Krieg, der Senat sprach sich mit 88 gegen 2 Stimmen dafür aus, »alle notwendigen Maßnahmen zur Abwehr bewaffneter Angriff auf die Streitkräfte der Vereinigten Staaten und zur Unterbindung weiterer Aggressionen zu ergreifen«. Die Militäroperationen gegen Nordvietnam hatten schon im Februar 1964 mit dem Einsatz von Südvietnamesen und anderen Söldnern begonnen. Sie steigerten sich bis Ende Juli, als Marineboote aus Saigon Inseln vor der Küste Nordvietnams angriffen. Dennoch wuchsen die Zweifel der Johnson-Administration mit Verteidigungsminister Robert McNamara, so die Unterstützung Nordvietnams für den Widerstand im Süden stoppen zu können. Unmittelbar nach dem Schattengefecht am 4. August hatte Johnson den Befehl gegeben, Nordvietnam zu bombardieren, und US-Flugzeuge versenkten mehrere nordvietnamesische Patrouillenboote. Die Resolution vom 7. August wurde nun zur rechtlichen Basis der Eskalation des US-Krieges in Vietnam, der sich auf nordvietnamesisches Territorium ausdehnte.
Keine geplante Provokation?
McNamara benötigte in seinen 1995 veröffentlichten Memoiren »In Retrospect. The Tragedy and Lessons of Vietnam« [5] 20 Seiten, um »seine« Geschichte des Vorfalls gegen die Vorwürfe einer geplanten Provokation, um ein Mandat für den Angriff auf Nordvietnam zu erlangen, zu verteidigen. Auf die von ihm selbst gestellte Frage, »… die Regierung Johnson habe die Angriffe absichtlich provoziert, um eine Eskalation des Krieges zu rechtfertigen, sie habe einen Vorwand gesucht, um die Zustimmung des Kongresses für die Zustimmung zu erzwingen. Ist diese Sichtweise begründet?« antwortet McNamara: »In keiner Weise«. Auf die weitere Frage, »War die Regierung Johnson aufgrund der Tonking-Resolution zu den nachfolgenden Militäraktionen in Vietnam – einschließlich der massiven Verstärkung der Streitkräfte – berechtigt?« Antwort: »Ganz und gar nicht (…) es war nie die Absicht des Kongresses gewesen, dem Präsidenten eine Grundlage zu verschaffen, und die Bevölkerung sah dies erst recht nicht so.« [6] Da er als damaliger Verteidigungsminister (von 1961 bis 1968) selbst die Verschärfung und Erstreckung des Krieges auf Nordvietnam und die Verstärkung des amerikanischen Expeditionskorps zu verantworten hatte, verschob er die Verantwortung auf den Präsidenten und gab zu, »dass durch die Resolution (des Kongresses – N.P.) dem Machtmissbrauch Vorschub geleistet wurde: Ihr Wortlaut räumte dem Präsidenten weitgehende Vollmachten ein, die er später ausschöpfte, und der Kongress war sich des Umfangs dieser Machtbefugnisse durchaus bewusst, als er am 7. August 1964 der Resolution mit überwältigender Mehrheit zustimmte. Aber zweifellos beabsichtigte der Kongress nicht, ohne vorherige umfassende Beratungen der Aufstockung der amerikanischen Streitkräfte in Vietnam von 16.000 auf 550.000 Mann zuzustimmen – eine Aufstockung, die zu großangelegten Kampfhandlungen führte, das Risiko der Ausweitung des Krieges durch die Konfrontation mit China und der Sowjetunion barg und auf viele Jahre hinaus die Vereinigten Staaten immer stärker in den Vietnamkrieg verwickelte.« [7] Wem kommt da nicht die Parallele zu der aktuellen Diskussion um die Rolle der NATO im Krieg der Ukraine gegen Russland in den Sinn.
John Prados versucht, die Motive zu erkunden, die Johnson dazu veranlasst haben, diesen Zwischenfall zu benutzen, um dem Krieg eine entscheidende Wendung zur Eskalation trotz aller Risiken zu geben. [8] Zum einen mag der Wahlkampf für die kommenden Wahlen 1964 eine Rolle gespielt haben, in dem sein Kontrahent Barry Goldwater für eine Eskalation warb und mit dem Thema der nationalen Sicherheit eine ernsthafte Konkurrenz bedeutete. Zum anderen wurden die ersten Proteste gegen den Vietnamkrieg laut, denen Johnson keinen Raum geben wollte. Er selbst hatte zwar immer wieder Zweifel an dem Krieg gehabt. Aber als Präsident der USA war auch er dem amerikanischen Exzeptionalismus verpflichtet. Fulbright nannte es später die »Arroganz der Macht« und Henry A. Kissinger die erfolgreiche Eindämmung des Kommunismus.
Hamburg, 20. Juni 2024.
Mehr zum Thema und zur Vorgeschichte: Hellmut Kapfenberger, Vor 70 Jahren: Dien Bien Phu – Sieg und doch kein Frieden, Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der Partei DIE LINKE, 5/2024 (Mai), Seiten 30-34.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Tim Weiner, CIA, Die ganze Geschichte, S. Fischer, Frankfurt a.M. 2008, S. 330; John Prados, Vietnam The History of an Unwinnable War 1945-1975, University Press of Kansas, 2009, The last Mystery of the Tonkin Gulf, S. 93 ff.
[2] Vgl. Heinrich Weiler, Vietnam. Eine völkerrechtliche Analyse des amerikanischen Krieges und seiner Vorgeschichte, Hellmuth Wolf Verlag, Frankenthal-Montreux, 1969, S. 207.
[3] Zitiert nach Edward S. Herman, Noam Chomsky, Die Konsensfabrik, Die politische Ökonomie der Massenmedien, 1988, Westend Verlag, Frankfurt a.M. 2023, S. 462.
[4] Vgl. Tim Weiner, Anm. 1, S. 330.
[5] Robert McNamara, Vietnam. Das Trauma einer Weltmacht, SPIEGEL Buchverlag Hamburg, 1996.
[6] Robert McNamara, Anm. 5, S. 173 f.
[7] Robert McNamara, Anm. 5, S. 190.
[8] Vgl. John Prados, Anm. 1, S. 99 f.
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