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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

»Sunt lacrimae rerum …« (Teil II und Schluss)

Prof. Dr. phil. Gerhard Oberkofler, Wien

 

Randbemerkungen zu einigen Träumen in der Autobiographie »Hoffe« (2025) von Papst Franziskus

(Fortsetzung von Heft 3/2025, S. 24-31, bzw. von https://kpf.die-linke.de/mitteilungen/detail/sunt-lacrimae-rerum/)

 

In den Jahren des Eintritts von Papst Franziskus in den Jesuitenorden war dessen prä­gende Gestalt der seit 1965 (bis 1981) als Generaloberer wirkende Pedro Arrupe SJ (1907-1991), der den infernalischen US-Atombombenabwurf auf die Menschen von Hiroshima (6. August 1945) selbst erlebt hat. [40] In den USA wurden in den Schulen grausige Filmaufnahmen von Hiroshima gezeigt, die Schüler sollten lernten, sich unter den Schultischen in »Sicherheit« vor den russischen Atombomben zu bringen. [41] Einige Jahre vor dem Amtsantritt von Arrupe SJ wollte der italienische Jesuit Ricardo Lombardi SJ (1908-1979) dem »Kommunistischen Manifest« ein »Christliches Manifest« entge­gensetzen und eine Bewegung für eine bessere Welt begründen. [42]

1992 wurde Papst Franziskus zum Weihbischof in Buenos Aires ernannt, 1993 zum Generalvikar und 2001 zum Kardinalpriester, 2005 zum Vorsitzenden der argentini­schen Bischofskonferenz, welche Ernennung 2008 bestätigt wurde. Japan hat Papst Franziskus 1987 und 2019 besucht und unmissverständlich erklärt: »Der kriegerische Einsatz von Atomwaffen ist, heute mehr denn je, ein Verbrechen nicht nur gegen die Menschheit und ihre Würde, sondern gegen jede Möglichkeit eines Lebens in unserem gemeinsamen Haus. Er ist unmoralisch, so wie schon der Besitz von Atomwaffen unmo­ralisch ist« (S. 208). Arrupe SJ hat es begrüßt, wenn Mitglieder aus dem Orden gegen den US-Völkermord in Vietnam aufgestanden sind. Seinen Mitbruder Daniel Berrigan SJ, der wegen des aktiven Einsatzes für den Frieden in Vietnam von den US-Behörden 1968 inhaftiert worden war, hat er in demonstrativer Brüderlichkeit im Gefängnis besucht. [43] Papst Franziskus war in jungen Jahren über die »höchst blutige Eskalation« in Vietnam erzürnt. Von den USA abgeworfene Napalmbomben setzten friedliche Dörfer mit allen ihren Menschen in Brand. »Der Krieg ist stets unbegreiflich. Der Krieg ist immer ein vollkommen sinnloses Blutvergießen. Das tat mir damals weh und tut es heu­te. Ich spüre das buchstäblich in meinem Fleisch« (S. 213). Auf die auch von den staatsklerikalen Institutionen verfolgten Brüder Philip Berrigan (1923-2002) und Daniel Berrigan SJ ist Papst Franziskus in seiner Autobiographie nicht zu sprechen gekommen, obschon damals die Nachrichten im Westen weltweit täglich von Vietnam im Interesse des US-Imperialismus so berichtet haben wie diese heute von Palästina im Interesse des israelischen Faschismus.

Der 1910 zum Priester geweihte und seit 1947 zuerst in Tübingen, dann in München »christliche Weltanschauung« lehrende Romano Guardini (1884-1968) [44] wird von Papst Franziskus wiederholt mit Sympathie genannt, zumal er über dessen idealistische Dia­lektik während seines Aufenthaltes in St. Georgen (Frankfurt a. M.) eine wissenschaftli­che Arbeit schreiben wollte. Den zur Zeit von Guardini in Deutschland nach 1945 als »Asphaltprediger« gleich Joseph Goebbels (1897-1945) gegen den Kommunismus und die Friedensbewegung hetzenden, einflussreichen deutschen Jesuiten Johannes Lep­pich SJ (1915-1992) wird Papst Franziskus nicht konsultiert haben. Der deutsche Jesuit Gustav Gundlach SJ (1892-1963) rechtfertigte in diesen Jahren des Kalten Krieges gar einen Atomkrieg gegen die sozialistischen Länder. [45] Für die Auseinandersetzung mit den von der Glaubenskongregation diskriminierten Werken des französischen Jesuiten Teilhard de Chardin (1881-1955), der 1936 die im »Evangelium Lenins verborgene geis­tige Kraft« bewundert hat, [46] war Papst Franziskus noch zu jung, er hat 2017 dessen Ächtung als überholt erklären lassen. [47] Totgeschwiegen wurde der wegen seiner Nähe zum Marxismus über Nacht von seiner Professur an der durch die Brüder Rahner welt­weit bekannt gewordenen Innsbrucker Theologen Fakultät entlassene österreichische Jesuit Johannes Kleinhappl SJ (1893-1979). Dieser hat die sinn- und sittenwidrige Rechtfertigung des kapitalistischen Eigentums durch ein fehl definiertes Naturrecht sehr bedauert. 2009 hat das Wiener Jesuitenkolleg mit Provinzial Gernot Wisser SJ (*1956) eine Rehabilitation ihres zu Unrecht verketzerten früheren Mitbruders Johan­nes Kleinhappl, der 1947 den Jesuitenorden verlassen hat, in die Wege geleitet. [48] Das Zugehen von Papst Franziskus auf China wird von weltweit tätigen katholischen Grup­pierungen immer noch als Verrat an der katholischen Kirche gebrandmarkt, weil Kom­munismus im allgemeinen als auch die Kommunistische Partei Chinas im besonderen »unversöhnliche Feinde der Religion und speziell des Katholizismus« sind. [49]

In einem seiner Resümees schreibt Papst Franziskus: »Die Welt kann sich nur vom Her­zen her verändern, weil – wie das Zweite Vatikanische Konzil gelehrt hat – das Un­gleichgewicht, unter dem sie leidet, das von weither kommt und unsere zeitgenössische fließende Welt verwässert, sich mit dem tiefsitzenden Ungleichgewicht verbindet, das im Herzen des Menschen wohnt. Der Algorithmus, der die digitale Welt beherrscht, zeigt uns doch im Grunde, dass unsere Gedanken und unsere Willensentscheidungen viel konventioneller, gewöhnlicher, standardisierter sind, als wir glauben. In gewisser Weise sind sie leicht vorhersehbar und ebenso leicht zu manipulieren. Mit dem Herzen ist das anders. […] Wenn die Besonderheit des Herzens nicht geschätzt wird, verlieren wir ausgerechnet jene Antworten, die die Intelligenz allein nicht geben kann. Wir verlie­ren die Begegnung mit den anderen sowie die historische Geschichte und unsere Ge­schichten. Denn das wahre persönliche Abenteuer beginnt im Herzen. Am Ende des Lebens zählt nur das« (S. 366 f.). Für das konkrete Individuum in unserer Welt bleiben solche Worte jenseitig, weil damit die gesellschaftlichen Bedingungen für die Herausbil­dung des »Herzens« ignoriert werden. Was für einen dialektischen Materialisten zählt, ist die gelebte Verantwortung gegenüber seinem Gewissen, um aus der Wirklichkeit kri­tisch eine Wahl zu treffen.

Über Aspekte kirchlicher Tradition

Papst Franziskus weiß, dass er in der Tradition der römisch-katholischen Kirche lebt. Karl Marx (1818-1883) hat über die weltgeschichtliche Realität eindeutig geurteilt: »Die Men­schen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden«. [50] Papst Franziskus hofft: »Die Tradition ist kein Museum, sie ist vielmehr Garantie der Zukunft. […] Die Tradition ist vielmehr die unverzichtbare Wur­zel, damit der Baum ständig neue Früchte tragen kann« (S. 122 f.). Tagtäglich wird der päpstlichen Hoffnung widersprochen, dass Tradition »vorwärts gehen« bedeutet (S. 265). »Denken wir nur an die Zeiten zurück, als die Sklaverei erlaubt oder die Todesstrafe kein Problem war« (S. 265). Folter und Todesstrafe, zu denen Jesus in einem von jüdischen Hohenpriestern und Schriftgelehrten angestrengten politischen Prozess vom Statthalter der römischen Herrschaft verurteilt wurde, sind ebenso wie die Sklaverei insbesondere von Kindern und Frauen globale Gegenwart und für den Westen »kein Problem«. Die von Papst Franziskus vertretene Kirche hat in ihrer Vergangenheit schreckliche Verbrechen begangen, es Kirche sei nur an das grausame Terrorinstrument der mittelalterlichen »Inquisition« vom 13. bis ins 15. Jahrhundert erinnert. Die Pogromaufrufe der Inquisito­ren finden in der Aussetzung von Kopfgeldern gegen angebliche »Terroristen« durch die USA und durch Israel eine brutale Renaissance. Papst Franziskus versucht, sich daran zu erinnern und Grundsätzliches zu ändern. »Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts«, das sei das Fundament der Idee von Papst Franziskus, die Menschheit bei der Suche nach ihrer Würde zu unterstützen.

Widersprüchliches Verhältnis zu Büchern

Romano Guardini war im Einklang mit Rainer Maria Rilke (1875-1926), der in eine katholische Ausformung des Existentialismus flüchtete. 1941, also in einer Zeit, als die aggressivsten Teile des deutschen Kapitalismus zusammen gefunden haben, um mit Adolf Hitler (1889-1945), dessen autobiographische Kampfschrift im deutschen Volk massenhafte Verbreitung gefunden hat, [51] den mörderischen Aggressionskrieg gegen den Osten zu führen, hat Guardini eine konservativ katholische Deutung der Elegien von Rilke über Angst und Sein gegeben. [52] Dabei ist er auf die liebevollen Ansichten von Rilke über die »russische Seele« und der »Gotterwähltheit des russischen Volkes« nicht eingegangen. [53] In seinen Vormerkungen zu seiner 1953 veröffentlichten, seiner Mutter zum einundneunzigsten Geburtstag gewidmeten Rilke-Monographie nimmt Guardini auf die von ihm mit erlebte deutsche Barbarei der vergangenen Jahre überhaupt keinen Be­zug. [54] Papst Franziskus, der als Jesuitenfrater besonders für Literatur und Psychologie ausgebildet worden ist, wird über den in diesen Jahren in der römisch-katholischen Welt modernen Guardini eine immersive Nähe zu Rilke gespürt und Sympathien für den christlichen Existentialismus entwickelt haben. Nur so wird verständlich, dass er seiner Autobiographie eine in einem Brief niedergeschriebene Sentenz von Rilke voranstellt: »Aber es sprechen viele Anzeichen dafür, dass die Zukunft in solcher Weise in uns ein­tritt, um sich in uns zu verwandeln, lange bevor sie geschieht«. [55] Papst Franziskus sieht einen Gleichklang mit einem Aphorismus seines Nino Costa (1886-1945), an den er 2015 während seines Besuches zum mythischen Turiner Grabtuch gedacht hat, [56] und mit einer Stelle aus dem Ersten Brief an die Korinther von Paulus »Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich dröh­nendes Erz oder eine lärmende Pauke«. [57]

Die vielen in der Deutschen Demokratischen Republik herausgegebenen Werke von Georg Lukács wurden an theologischen Universitätsfakultäten und in den Priestersemi­naren nicht rezipiert, weil die Hierarchie Sorge hatte, diese könnten die Bildung der Stu­dierenden vergiften. Lukács hat aber zutreffend analysiert, wie der in zarten Tönen dich­tende Rilke »in die triste Prosa der hämisch-reaktionären Verleumdung« abstürzt, wie das in seinen Versen vom Tod des gefolterten und bei lebendigem Leib verbrannten Jan van Leiden (1509-1536) deutlich wird. Georg Lukács sieht in Rilke »den geistigen und menschlichen Standpunkt jenes bösartigen Kleinbürgertums«, »das später das eigentli­che Werbungsgebiet Hitlers abgab«, und verallgemeinert: »Damit erhält die Verlorenheit des Menschen in der Welt ein neues moralisches Gesicht. Nicht nur das ist erschre­ckend, dass intellektuell hochstehende, feinorganisierte Menschen plötzlich Bestialitäten verherrlichen, dass sie moralisch auf das Niveau sadistisch gewordener Kleinbürger her­absinken, sondern dass dies ihnen unversehens, unbewusst geschieht, dass sie, ohne es zu merken, in diese Bestialitäten hinübergleiten und im nächsten Moment die feinsten Empfindungen in der erlesensten Sprache verkünden. Die Unter­welt öffnet ihre Pforten in der Seele der verfeinertsten Geister der Periode.« [58] Martin Heidegger (1889-1976) und Theodor W. Adorno (1903-1969) wird heute vorgeworfen, sie hätten Rilke »gezielt miss­verstanden«. [59]

Historisch materialistische Einschätzungen sind Papst Franziskus weitgehend fremd geblieben, umso bemerkenswerter ist es, wenn er auf den ersten Seiten (S. 47) daran erinnert, wie der zu den größten Marxisten des vorigen Jahrhunderts zählende Bertolt Brecht (1898-1956) über den Krieg schreibt: »Bei den Besiegten das niedere Volk hun­gerte. Bei den Siegern hungerte das niedere Volk auch«. Bertolt Brecht hat dieses Gedicht »Der Krieg, der kommen wird« als Flüchtling 1939 in Svendborg geschrieben (Deutsche Kriegsfibel I). [60] Zum Ausklang seines Wirkens findet Papst Franziskus es rich­tig, als »Anker der Hoffnung« einen im Gefängnis 1945 niedergeschriebenen Vers des türkischen, wegen seiner kommunistischen Haltung verfolgten, seit 1938 inhaftierten und erst 1950 entlassenen und von der Sowjetunion aufgenommen Poeten Nâzim Hik­met (1902-1963) aufzugreifen (S. 368): »Das schönste Meer ist das, das wir noch nicht befahren haben. Das schönste unserer Kinder ist noch nicht auf die Welt gekommen. Unsere schönsten Tage sind noch nicht angebrochen. Und was ich dir an Schönstem sagen möchte, habe ich noch nicht gesagt«. [61] Weder Rilke noch Brecht noch Hikmet werden in der »Freiheit« von Angela Merkel genannt. [62]

Öfters bringt Papst Franziskus Anekdoten als Beleg für seine Liebe zur Literatur, man­ches ist zu viel des Guten. Das »Glück« eines Kindes reduziert Papst Franziskus mit einer vom »großartigen lateinamerikanischen Schriftsteller« Eduardo Galeano (1940-2015) überlieferten Antwort der »protestantischen Theologin« Dorothee Sölle (1929-2003): »Ich würde es überhaupt nicht erklären. Ich würde ihm einen Ball in die Hand drücken, damit es spielen kann«. Dazu der vom Fußball als, wie der italienische Filme­macher Pier Paolo Pasolini (1922-1975) meint, [63] letztem »Mysterienspiel« begeisterte Papst Franziskus: »Es gibt keine bessere Erklärung für das Glück, für das, was uns glücklich macht. Und spielen macht glücklich, weil wir dabei unsere eigene Freiheit aus­drücken, uns spielerisch aneinander messen, unsere Zeit als Amateure genießen kön­nen, ganz einfach… Denn wir können einen Traum verfolgen, ohne dass wir uns zu Meis­tern entwickeln müssen. Spielen macht auch glücklich, wenn du zwei linke Füße hast«. Ja, spielen macht Kinder sicher glücklich, wenn sie denn in den Elendsregionen nicht nur dahinvegetieren müssen. Der autobiographische Bericht von Eduardo Galeano ist eine Anklage gegen den Antihumanismus in Lateinamerika und begrüßt die demokrati­schen Volkskräfte mit ihren Helden wie Salvador Allende (1908-1973) in Chile oder Fidel Castro in Kuba. In seinem Ende 1970 in Montevideo fertiggestellten Buch »Die offenen Adern Lateinamerikas« [64] schreibt Galeano über die 51 Millionen Kinder, die in Lateinamerika im Elend leben. Genügt es, diesen einen »Ball zu geben«? Ob von Doro­thee Sölle bekannt ist, dass sie ihre Eindrücke aus Lateinamerika in einem Büchlein »Gott im Müll« zusammengefasst hat und in wunderbaren Worten feststellte: »Die Theo­logie der Befreiung ist eines der großen Geschenke der Armen Lateinamerikas an die Christenheit, auch an die Mittelklasse der reichen Welt, zu der ich gehöre. Es ist ein Geschenk, das sich nicht aufbraucht, es nährt mich, wie es die Armen nährt«. [65] Es ist für die Befreiungstheologen nicht Mitleiden mit den Armen allein, sondern ihre theologi­sche Rationalität ist die Triebkraft ihres Handelns.

Volk als »mythische Kategorie«

Eine liebevolle Zuneigung pflegte Papst Franziskus seit seiner Jugend zum russischen Weltliteraten Fjodor M. Dostojewski (1821-1881), der in seiner von Krisen durchzoge­nen Epoche als Dichter entscheidende Fragen über die unmenschliche Funktion eines ganzen herrschenden Systems zu stellen in der Lage war. Fern jeder Reflexion der Wirk­lichkeit, die zur Theologie gehören sollte, ist der Satz von Papst Franziskus: »Wenn das Herz nicht lebe, schreibt Guardini in Anlehnung an Dostojewski, bleibe der Mensch sich selbst fremd« (S. 366). Die im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlingskinder, die vielen palästinensischen, die israelischen Massaker ohne Eltern überlebenden und verwunde­ten Kinder oder die im kongolesischen Bergbau für den Reichtum des Westens arbei­tenden Sklavenkinder können das »persönliche Abenteuer« ihres Herzens nicht erleben. Gegen die von Israel seit Jahrzehnten ausgehende Gewalt gegen das palästinensische Volk in Gaza hat Papst Franziskus in einem Brief vom 7. Oktober 2024 zum Jahrestag des mit Gewaltexzessen verbundenen Ausbruchs der Hamas eindeutig Stellung genom­men: »Ich bin bei euch, ihr Bewohner des Gaza-Streifens, geschunden und erschöpft, die ihr jeden Tag in meinen Gedanken und Gebeten seid. Ich bin bei euch, die ihr gezwungen seid, eure Häuser zu verlassen, die Schule und die Arbeit aufzugeben, auf der Suche nach einem Ort, um den Bomben zu entkommen«. [66] Papst Franziskus musste sich wegen dieses Pastoralbriefes besonders in Deutschland und Österreich »Antijuda­ismus« von Mitbrüdern oder opportunistischen Universitätstheologen vorwerfen lassen, zumal er aus der Bibel einen von Johannes überlieferten, zum Vorgehen von Israel pas­senden Vers zitierte: »Er war ein Mörder von Anfang an. Und er steht nicht in der Wahr­heit: denn es ist keine Wahrheit in ihm. Wenn er lügt, sagt er das, was aus ihm selbst kommt; denn er ist ein Lügner und ist der Vater der Lüge«. [67]

In den Wohlstandsgesellschaften verlieren Kinder ihren Zugang zum Herzen, weil ihre die vom Reichtum mit seinen Influencer in den sozialen Netzwerken mit Absicht herbei­geführte geistige Verelendung das nicht zulässt. Papst Franziskus bekundet Mitleid mit diskriminierten Randvölkern wie den Roma und Sinti in Rumänien, wo vom österreichi­schen Jesuiten Georg Sporschill SJ und der deutschen Religionspädagogin Ruth Zenkert das Projekt Elijah für Straßenkinder in Bukarest aufgebaut wurde. [68] »Und wir waren nicht fähig«, so Papst Franziskus, »sie in ihrer Eigenart anzuerkennen, sie zu würdigen und zu verteidigen« (S. 56).

Im Einvernehmen mit Guardini findet er bei Dostojewski das »mythische Wesen« des Volkes ohne jede Idealisierung ausgedrückt (S. 223). Für Papst Franziskus ist das Volk »letztlich keine logische Kategorie. Aber auch keine mystische, wenn wir es so verste­hen, dass alles, was das Volk sagt oder tut, selbstverständlich gut und gerecht ist, was ein Merkmal der Seligen wäre. Nein. Das Volk ist höchstens eine mythische Kategorie. Eine mythische und historische. Das Volk wird zum Volk durch einen Prozess, durch Anstrengung, die auf ein Ziel oder ein gemeinsames Projekt gerichtet ist. Die Geschich­te ist geprägt von diesem langsamen Prozess, der sich innerhalb der aufeinanderfolgen­den Generationen vollzieht« (S. 222 f.). Papst Franziskus warnt davor, dass »häufig die Mächtigen, um sich selbst zu rechtfertigen, vor allem, wenn sie ihre Macht illegitim oder ungerecht ausüben«, die Geschichte ihrer Nation verfälschen. (S. 223). In den Kernaussagen bleibt der Weg zur historisch materialistischen Vertiefung der in Zusam­menhang stehenden Merkmale einer Nation offen. [69] Über die jugoslawischen Völker Slowenen, Kroaten und Serben ist Papst Franziskus ein ihm vielleicht von seinem deut­schen Vorgänger Benedikt XVI. (1927-2022) zugetragenes Bonmot (S. 157) erzählens­wert: »Mit zwei Slowenen kannst du einen Chor gründen, mit zwei Kroaten ein Parla­ment und mit zwei Serben ein Heer«. Wer solche politisch motivierten Vorverurteilun­gen über Völker verbreitet, muss sich fragen, weshalb jene aus der Tradition der Volks­dichtung erwachsenen Volkslieder jugoslawischer Partisanen kirchlichen Kreisen fremd sind: »Im Monat Juni an neunten Tag / starben zwölf Serbenmädchen auf einen Schlag, / zwölf Serbenmädchen, zwölf graue Falken, / gefällt vom Pulver und Blei der Ustaschen. / Zwölf arme Mütter irren durch Wälder und Haine, / jede sucht ihr liebes Kind, das einzig eine.« [70] Vorverurteilungen rechtfertigen im Nachhinein die 1999 von den USA und der NATO mit Unterstützung des neutralen Österreich im geopolitischen und neokolonialen Interesse betriebenen Kriegsverbrechen gegen die nach dem opfer­vollen Befreiungskampf von der mörderischen Besatzung der deutschen Wehrmacht friedlich zusammenlebenden und zusammenwachsenden jugoslawischen Völker. [71] Als Benedikt XVI. 2011 in Kroatien war, hat er über die Mitschuld der katholischen Kirche kein Wort verloren, sondern allein den in die Europäische Kriegsunion drängenden Katholizismus der Kroaten gesegnet. [72]

1999 hat die Bundesrepublik Deutschland erstmals wieder völkerrechtswidrig bombar­diert. Die Mauer zwischen der Deutschen Demokratischen Republik, wo die Menschen mit realhumanistischen Rechten lebten und von der nie ein Krieg ausgegangen ist, und der im NATO-Verbund zum Krieg aufrüstenden Bundesrepublik Deutschland, wo die Men­schen wie überall im Kapitalismus mit verbalhumanistischen Rechten lebten, [73] war zehn Jahre zuvor gefallen, was Papst Franziskus im Einvernehmen mit dem deutschen Papst Benedikt XVI. fern der daraus erwachsenen historischen Folgen als geschichtliche Errun­genschaft bejubelt. Papst Franziskus erinnert sich an die vom argentinischen Staatsfern­sehen vermittelte »Freude vieler älterer Menschen«, die den Mauerfall »seit wer weiß wie vielen Jahren herbeigesehnt hatten«. [74] Die Betroffenheit der sehr vielen deutschen Bürge­rinnen und Bürger, die nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus am Aufbau eines neuen, friedliebenden und solidarischen Deutschlands mitgewirkt haben, wurde ebenso wenig vermittelt wie die nicht zu bändigende Gier der den Osten überrollenden Profiteure aus der Bundesrepublik. In ihren Erinnerungen schreibt die nach ihrer Rückkehr aus den USA, wo sie Zuflucht vor den deutschen Rassisten gefunden hat, in der DDR wirkende Kinderärztin Ingeborg Rapoport (1912-2017) über die DDR: »Keine Massenarbeits- und Obdachlosigkeit, eine relativ geringe Kriminalität, dagegen Friedfertigkeit, Toleranz gegenüber anderen Völkern und eine insgesamt größere Sorgfalt in den Beziehungen der Menschen zueinander als zumindest ich sie je vor- oder nachher erlebt habe«. [75]

Noch 2024 beruft sich Papst Franziskus auf die Nebelworte zum »Mauerfall« von Papst Johannes Paul II., »dass auf die Fürbitte der Gottesmutter die Hoffnungen der Men­schen sich in Gerechtigkeit, Freiheit und innerem wie äußerem Frieden erfüllen«. [76-77] Papst Franziskus qualifiziert Michail Gorbatschow (1931-2022) als einen »der größten Staatsmänner, die die UdSSR je hatte«, obschon dieser viele Jahre ein Agent der mora­lisch psychologischen Kriegsführung des Westens gegen die realsozialistischen Länder war. [76-77] Ein lateinamerikanischer Papst, der ein Ideenträger der globalen Friedenskräfte ist, sollte in seiner »praktisch-kritischen Tätigkeit« [78] an den russischen revolutionären Staatsmann Wladimir I. Lenin erinnern, den der 1925 zu Vorträgen nach Buenos Aires eingeladene und schon damals als Pazifist bekannte Albert Einstein (1879-1955), als »Hüter und Erneuerer des Gewissens der Welt« erlebt hat. [79

 

Anmerkungen:

[40] Martin Maier: Pedro Arrupe – Zeuge und Prophet. Ignatianische Impulse (Bd. 24). Echter Verl. Würzburg 2007.

[41] Bill Gates: Source Code. Meine Anfänge. Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Dedekind, Ursula Held, Karsten Petersen Hans-Peter Remmler und Sigrid Schmid. Piper München 2025, S. 45.

[42] Riccardo Lombardini SJ: Die marxistische Doktrin. Verlag Friedrich Pustet Regensburg 1956.

[43] Vgl. Gerhard Oberkofler: Friedensbewegung und Befreiungstheologie. Marxistische Fragmente zum Gedenken an den Friedenskämpfer Daniel Berrigan SJ (1921–2016). trafo Wissenschaftsverlag, Berlin 2016.

[44] Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Romano_Guardini.

[45] Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_Gundlach mit weiterführenden Literaturhinweisen.

[46] Pierre Teilhard de Chardin: Das Tor in die Zukunft. Ausgewählte Texte zu Fragen der Zeit. Hg. und erläutert von Günther Schiwy. Deutscher Tb Verlag München 1987, S. 90.

[47] Siehe https://www.vaticannews.va/de/vatikan/news/2017-11/ravasi—aechtung-teilhard-de-chardins-ueberholt.html.

[48] Vgl. Gerhard Oberkofler: Eine Erinnerung an den Moraltheologen Johannes Kleinhappl (www.klahrgesellschaft.at). Die Organisation der Veranstaltung zum Gedenken an Johannes Kleinhappl oblag P. Alois Riedlsperger SJ.

[49] Kirchliche Umschau. Die ewige Stadt und der katholische Erdkreis. 27. Jahrgang, Nr. 6, Juni 2024 (Heft: China und der Vatikan heute).

[50] MEW 8 (1973), S. 115.

[51] Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. Ungekürzte Ausgabe. Erster Band: Eine Abrechnung. Zweiter Band: Die nationalsozialistische Bewegung. 434-443. Auflage Zentralverlag der NSDAP, Frz. Eher Nachf. München 1939.

[52] Romano Guardini: Zu Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins. Eine Interpretation der zweiten, achten und neunten Duineser Elegie. Verlag Helmut Küpper. Berlin / Leipzig 1941.

[53] Vgl. Konstantin Asadowski (Hg.): Rilke und Rußland. Briefe. Erinnerungen, Gedichte. Aufbau Verlag Berlin und Weimar 1986.

[54] Romano Guardini: Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins. Eine Interpretation der Duineser Elegien. Kösel Verlag München 1953.

[55] »Hoffe«, S. 7. Rainer Maria Rilke: Briefe an einen jungen Dichter. Mit den Briefen von Franz Xaver Kappus. Herausgegeben von Erich Unglaub. Göttingen Wallstein Verlag Göttingen 2019. Dort der Brief von Rilke an Franz Xaver Kappus (1883-1986) vom 12. August 1904, S. 66-72 mit dem Zitat von Papst Franziskus auf (S. 67: »Wir können nicht sagen, wer gekommen ist, wir werden es vielleicht nie wissen, aber es sprechen viele Anzeichen dafür, daß die Zukunft in solcher Weise in uns eintritt, um sich in uns zu verwandeln, lange bevor sie geschieht«.

[56] Siehe https://www.vatican.va/content/francesco/de/angelus/2015/documents/papa-francesco_angelus-torino_20150621.html, https://www.katholisch.de/artikel/5506-im-schatten-des-grabtuchs.

[57] »Hoffe«, S. 7.

[58] Georg Lukács: Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur. Aufbau Verlag Berlin 1953, S. 32 f.; vgl. auch Ernst Fischer: Kunst und Menschheit. Essays. Globus Verlag Wien 1949, S. 156 f.

[59] Sandra Richter: Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben. Eine Biographie. Mit zahlreichen Abbildungen. Insel Verlag Berlin 2025, Vorwort.

[60] Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M., hier 6. A. 1990, S. 637.

[61] Nâzim Hikmet: Das schönste Meer ist das noch nicht befahrene. J&D Dağyeli Verlag Berlin 2007, S. 71.

[62] Angela Merkel: Freiheit. Erinnerungen 1954-2021. Kiepenheuer & Witsch Köln 2024.

[63] Pier Paolo Pasolini: in persona. Gespräche und Selbstzeugnisse. Hg. und mit einem Vorwort von Gaetano Biccari. Aus dem Italienischen von Martin Hallmannsecker u. a. Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2022, S.149.

[64] In deutscher Sprache Peter Hammer Verlag GmbH, Wuppertal 1973, zwischen 1973 und 2008 20 Auflagen, 2. A. der Neuausgabe 2010.

[65] Dorothee Sölle: Gott im Müll. Eine andere Geschichte Lateinamerikas. Deutscher Taschenbuchverlag München 1992, S. 115.

[66] Schreiben des Heiligen Vaters an die Katholiken im Nahen Osten (7. Oktober 2024), https://www.vatican.va/content/francesco/de/letters/2024/documents/20241007-lettera-cattolici-mediooriente.html; der ganze Bibelvers Johannes 8, 44 in: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH Stuttgart 12. A. 2015, S. 1194.

[67] Z.B. Christian M. Rutishauser: Nahost: Franziskus’ fataler Lapsus. Die Furche vom 24. Oktober 2024; Jan-Heiner Tück: Der Patzer des Papsts. Die Presse vom 18 Oktober 2024.

[68] Vgl. Moise. Mein Freund. Verlag für moderner Kunst. Wien 2024.

[69] Vgl. J. W. Stalin: Marxismus und nationale Frage. In: Werke, Band 2 (1907-1913), S. 266-333.

[70] Du Schwarze Erde. Lieder jugoslawischer Partisanen. Auswahl und Nachdichtung von Ina Jun-Broda. Aufbau Verlag Berlin 1958, S. 17.

[71] Vgl. Wolfgang Richter / Elmar Schmähling / Eckart Spoo (Hrsg.): Die Wahrheit über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Schrift des Internationalen Vorbereitungskomitees für ein Europäisches Tribunal über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Schkeuditzer Buchverlag 2000.

[72] Siehe https://www.vatican.va/content/benedict-xvi/de/speeches/2011/june/documents/hf_ben-xvi_spe_20110604_cd-croazia.html.

[73] Vgl. zu dieser Definition Hermann Klenner: Menschenrechte und Völkerrecht. In: Einheit 11-78, S. 1105-1113.

[74] Papst Franziskus, Leben, S. 125-140.

[75] Ingeborg Rapoport: Meine ersten drei Leben. Erinnerungen. edition ost Berlin 1997, S. 370.

[76-77] Papst Franziskus, Leben, S. 135 f. bzw. S. 130 f.

[78] Karl Marx: Thesen über Feuerbach, 3. MEW 3 (1969), S. 5.

[79] Gelegentliches von Albert Einstein. Zum fünfzigsten Geburtstag 14. März 1929 dargebracht von der Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches zu Berlin. Berlin im März 1929, S. 20 f.; zitiert auch von Siegfried Grundmann: Einsteins Akte. Einsteins Jahre in Deutschland aus der Sicht der deutschen Politik. Springer Verlag Berlin / Heidelberg / New York 1998, S. 331.

 

Mehr von Gerhard Oberkofler in den »Mitteilungen«: 

2025-03: »Sunt lacrimae rerum …«  

2025-02: »Zwölf Merksätze über den Atomkrieg« von Engelbert Broda

2024-08: Über den Beginn des Befreiungskampfes der Frauen in Zentralasien