»Sputnik«
Dr. Ronald Friedmann, Berlin
Am 2. August 1955 kündigten die sowjetischen Teilnehmer eines Astronautischen Kongresses in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen offiziell an, dass Wissenschaftler und Techniker ihres Landes innerhalb der folgenden 18 Monate einen künstlichen Erdsatelliten mit wissenschaftlicher Ausrüstung an Bord in eine Umlaufbahn bringen würden. Der Start dieses Erdsatelliten werde ein Beitrag der Sowjetunion zum Internationalen Geophysikalischen Jahr (1. Juli 1957 bis 31. Dezember 1958) sein. Sie reagierten damit auf eine Erklärung von US-Präsident Dwight D. Eisenhower, der vier Tage zuvor durch einen Regierungssprecher hatte mitteilen lassen, dass er eine Anweisung zur Entwicklung und zum Bau eines US-amerikanischen Erdsatelliten erteilt habe. Der sowjetische Erdsatellit, so berichtete es das »Neue Deutschland« am 4. August 1955, werde »mindestens sechs Monate eher aufsteigen als der […] in Washington angekündigte fußballgroße amerikanische Trabant.« Und weiter: »Er wird auch wesentlich größer sein und soll durch eine Zwei-Stufen-Rakete in seine um die Erde führende Bahn befördert werden.«
Mit den beiden Ankündigungen war nun auch in der Öffentlichkeit der Startschuss zu einem spektakulären »Wettlauf« in das All gegeben, bei dem es um militärisch nutzbare Technologie, wissenschaftliche Forschung und internationales Prestige ging.
Unter den konkreten politischen Bedingungen der Sowjetunion waren Entwicklung und Bau eines künstlichen Erdsatelliten – ein Vorhaben, das umfangreiche personelle und materielle Ressourcen erforderte – ohne die ausdrückliche Zustimmung der sowjetischen Führung nicht möglich. Doch im Kreml hatte man zu dieser Zeit andere Prioritäten: Die USA hatten seit dem ersten Test einer Atombombe im Juli 1945 in der Wüste von New Mexico und dem Atombombenangriff auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki im August 1945 die nukleare Aufrüstung stetig vorangetrieben und die Sowjetunion mit einem System von Militärstützpunkten eingekreist. Große Teile des sowjetischen Territoriums befanden sich so ständig in der Reichweite US-amerikanischer Atomwaffen. Angesichts dieser strategischen Lage war die politische und militärische Führung in Moskau vor allem daran interessiert, möglichst bald eine atomar bewaffnete interkontinentale Trägerrakete zur Verfügung zu haben, die das Territorium der USA erreichen konnte.
Dem 4. Oktober 1957 folgten weitere kosmische Erstleistungen der Sowjetunion
Für die Wissenschaftler und Techniker des sowjetischen Raketenprogramms um Sergej Koroljow, der erst nach seinem frühen Tod im Januar 1966 als »Vater der sowjetischen Weltraumfahrt« weltberühmt werden sollte, hatte die Entwicklung einer solchen militärischen Trägerrakete daher den absoluten Vorrang. Koroljow allerdings verlor die Idee eines künstlichen Erdsatelliten, die ihn seit vielen Jahren beschäftigte, nie aus den Augen. Mehr noch, er trug dafür Sorge, dass parallel zu den militärisch motivierten Planungs- und Entwicklungsarbeiten auch an dem zivilen Projekt gearbeitet wurde.
So konnte der Präsident der sowjetischen Akademie der Wissenschaften am 31. Mai 1957 schließlich informieren, dass alle »Geräte und Ausrüstungen, die zum Auflassen eines künstlichen Erdtrabanten für wissenschaftliche Forschungszwecke erforderlich sind, […] bereits fertiggestellt« seien, wie am 2. Juni 1957 auch im »Neuen Deutschland« nachzulesen war. Bei dieser Gelegenheit wurden auch die Funkfrequenzen bekanntgegeben, die für die Kommunikation mit dem künstlichen Erdsatelliten verwendet werden sollten.
Doch Koroljow wartete noch immer auf die Erlaubnis aus dem Kreml, sich voll und ganz auf die Arbeit an dem künstlichen Erdsatelliten konzentrieren zu dürfen. Erst als es bei seinem eigentlichen Projekt, dem Bau der militärischen Trägerrakete R-7, zu Verzögerungen kam, erhielt er das sprichwörtliche Grüne Licht: Bei einem Test im August 1957 waren zwar Start und Flug der Trägerrakete erfolgreich verlaufen, doch die mitgeführte Nutzlast, die Attrappe eines atomaren Gefechtskopfes, war beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre so stark beschädigt worden, dass weitere Entwicklungsarbeiten erforderlich wurden.
Auch der künstliche Erdsatellit sollte mit einer R-7, von den Wissenschaftlern und Technikern um Koroljow in Anlehnung an das russische Wort für »Sieben« zärtlich »Semjorka« genannt, transportiert werden. Allerdings war kein ballistischer Flug geplant, der neue Himmelskörper sollte vielmehr eine Umlaufbahn um die Erde erreichen. Dazu waren einige Modifikationen an der Trägerrakete erforderlich, die mehrere Wochen in Anspruch nahmen.
Die große Stunde kam schließlich am 4. Oktober 1957. Um genau 22:28,34 Uhr Moskauer Zeit begann das Zeitalter der Raumfahrt. Die Trägerrakete hob vom sowjetischen Kosmodrom Baikonur, das damals noch Tjura Tam hieß, in Richtung Erdumlaufbahn ab. An Bord befand sich der künstliche Erdsatellit »Sputnik«, eine aus Aluminium gefertigte, knapp 84 Kilogramm schwere Kugel mit vier scheinbar nach hinten gerichteten Antennen. Koroljow, so weiß es die Legende, hatte den »Sputnik« bis unmittelbar vor dem Start in seinem Arbeitszimmer aufbewahrt und das ohnehin schon hochglänzende Artefakt mehrmals täglich eigenhändig mit einem speziellen Tuch poliert.
Unmittelbar nach dem Start der Trägerrakete war der Jubel unter den beteiligten Wissenschaftlern und Technikern groß, doch Koroljow dämpfte umgehend die Begeisterung. Er wollte erst sicher sein, dass der »Sputnik« tatsächlich die Erdumlaufbahn erreicht hatte. Seine Sorge war begründet, denn nur 16 Sekunden nach dem Start der Triebwerke war es zu einer Störung gekommen, die das gesamte Vorhaben gefährdete: Ein Steuerungsmechanismus fiel aus, der den Zufluss des Treibstoffs in die Brennkammern regeln sollte. Dadurch war der Treibstoffverbrauch zu hoch, die Triebwerke schalteten früher als geplant ab. Doch als der neue Himmelskörper nach rund 90 Minuten wieder über dem Horizont auftauchte, war klar, dass das Unternehmen ein Erfolg war. Spätere Berechnungen zeigten, dass der »Sputnik« nach genau 324 Sekunden Flugzeit in eine Erdumlaufbahn eingeschwenkt war.
Wenige Stunden später gab die sowjetische Nachrichtenagentur TASS den Start des »Sputnik« offiziell bekannt und nannte noch einmal die Funkfrequenzen, auf denen das Signal des neuen Erdbegleiters zu hören war. Zahlreichen professionellen und Amateurfunkern in aller Welt, so in der Volkssternwarte Bochum, gelang es, das legendäre »Piep-piep« zu empfangen, das der »Sputnik« drei Wochen lang – so lange hielten die mitgeführten Batterien – ausstrahlte. Am 4. Januar 1958, nach 1.140 Erdumläufen, verglühte der erste künstliche Himmelskörper schließlich in den oberen Schichten der Erdatmosphäre.
In der Sowjetunion und den verbündeten sozialistischen Staaten reagierte man erwartungsgemäß mit großem Jubel auf den Start des »Sputnik«. Im Westen dagegen löste das Ereignis den berühmten »Sputnik-Schock« aus: Es galt, eine unerwartete Niederlage auf wissenschaftlich-technischem Gebiet zu verkraften, denn trotz zahlreicher vollmundiger Ankündigungen war man in den USA mit dem Projekt »Vanguard« zum Start eines eigenen Satelliten nicht wirklich vorangekommen. Vor allem jedoch bestätigte der Flug des »Sputnik«, dass die Sowjetunion nun über eine auch militärisch nutzbare Trägerrakete verfügte, durch die auch das Territorium der USA in die Reichweite nuklearer Waffen geriet. Der Senator und spätere US-Präsident Lyndon B. Johnson verstieg sich deshalb sogar zu der Behauptung: »Schon bald werden die Russen Bomben aus dem Weltall auf uns werfen wie Kinder, die Steine von Autobahnbrücken auf Autos fallenlassen.«
Der unerwartete propagandistische Erfolg des »Sputnik« veranlasste die sowjetische Führung, von den Wissenschaftlern und Technikern um Sergej Koroljow immer neue »kosmische« Erstleistungen zu fordern, um so die vorgeblich generelle wissenschaftlich-technische Überlegenheit der Sowjetunion demonstrieren zu können. Tatsächlich folgte nur vier Wochen nach dem ersten »Sputnik« der Flug von »Sputnik 2« mit der Hündin Laika an Bord. Im Januar 1959 passierte »Luna 1« in nur 6.000 Kilometern Entfernung den Mond, im September 1959 schlug »Luna 2« als erstes von Menschenhand geschaffenes Objekt auf dem Erdtrabanten auf. »Luna 3« lieferte im Oktober 1959 die ersten Fotos von der Rückseite des Mondes. Im April 1961 flog Juri Gagarin mit »Wostok 1« als erster Mensch in den Weltraum, im Juni 1963 war Walentina Tereschkowa an Bord von »Wostok 6« die erste Frau, die einen Weltraumflug unternahm. Und im Oktober 1964 folgte die erste mehrköpfige Besatzung eines Raumschiffes.
Im Wettlauf zum Mond
Doch all diese Erfolge konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der Sowjetunion kein geschlossenes Programm für eine systematische Weltraumforschung gab. Schlimmer noch: Zahlreiche Forschungseinrichtungen und Entwicklungsbüros stritten sich um die knappen Ressourcen. Den Zuschlag erhielt, wer die besten Kontakte zur sowjetischen Führung hatte und dort ein spektakuläres und öffentlichkeitswirksames Ereignis oder einen gewichtigen Beitrag zur Landesverteidigung versprechen konnte. Die Forschungs- und Entwicklungsergebnisse, die unter diesen Bedingungen gewonnen wurden, kamen nahezu ausschließlich dem Militär zugute, für den zivilen Bereich, vor allem die Konsumgüterproduktion, blieben bestenfalls Brosamen.
Anders in den USA, wo seit Mai 1961 in Verantwortung der Weltraumbehörde NASA zielgerichtet ein bemannter Flug zum Mond vorbereitet wurde. Die US-Regierung stellte gewaltige Geldsummen zur Verfügung, um die komplexen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten für das Apollo-Projekt und ihre Überführung in die Praxis zu finanzieren. Tatsächlich gelang es innerhalb von nur acht Jahren, alle Voraussetzungen für einen bemannten Flug zum Mond zu schaffen. Und nicht nur das: Insbesondere die Entwicklung der modernen Computertechnik, faktisch ein »Nebenprodukt« der Weltraumforschung, löste eine zweite industrielle Revolution aus, deren Produkte heute in buchstäblich allen Bereichen des Lebens zu finden sind.
Die Mondlandung von Neil Armstrong und Buzz Aldrin mit »Apollo 11« im Juli 1969 wirkte in der Sowjetunion in gewisser Weise wie ein umgekehrter »Sputnik-Schock«: Das unter strengster Geheimhaltung und weitgehend unkoordiniert vorangetriebene erfolglose Mondflugprogramm wurde in aller Stille begraben.
Unter Leitung des Konstrukteurs Wladimir Tschelomei hatte das Ingenieurbüro OKB-52 an einem Projekt zur bemannten Umrundung des Mondes gearbeitet. Um Zeit zu sparen, hatte man auf die Entwicklung einer geeigneten Trägerrakete verzichtet und lediglich vorhandenes Material modifiziert, was aber lediglich eine einfache Umkreisung des Mondes, ohne das Einschwenken in eine Umlaufbahn, erlaubt hätte. Nur zwei unbemannte Testflüge – »Sond 7« im August 1969 und »Sond 8« im Oktober 1970 – waren erfolgreich. Doch an Bord von »Apollo 8« hatten bereits im Dezember 1968 drei US-amerikanische Astronauten den Mond zehn Mal umrundet.
Als Trägerrakete für die bemannte Mondlandung, für die das von Sergej Koroljow gegründete Ingenieurbüro OKB-1 die Verantwortung trug, wurde die Rakete »N-1« entwickelt, die mit dreißig parallel arbeitenden Triebwerken ausgestattet werden sollte. Doch ausnahmslos alle Teststarts zwischen 1969 und 1972 scheiterten. Lediglich die Mondlandefähre »LK«, die allerdings nur Platz für einen Kosmonauten hatte, erreichte nach umfangreichen – unbemannten – Tests in der Erdumlaufbahn Einsatzreife.
Alexej Leonow, der im März 1965 an Bord von »Woschod 2« in den Kosmos geflogen war und der als erster Mensch frei im Weltall geschwebt hatte, aber auch Pawel Popowitsch (»Wostok 4«) und Waleri Bykowski (»Wostok 5«), trainierten mehrere Jahre für eine Mondlandung, die nie stattfand.
Nach ihrer Niederlage im »Wettlauf zum Mond«, den es angeblich nicht gegeben hatte, besannen sich die sowjetischen Weltraumpioniere auf ihre eigentlichen Stärken und begannen ein in höchstem Maße erfolgreiches Programm von Raumstationen in der Erdumlaufbahn, für das noch heute die Namen »Salut« und »Mir« stehen und dessen Ergebnisse jetzt der ISS, der Internationalen Raumstation, zugutekommen.
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