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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die extremistische Apostelgeschichte

Klaus Höpcke, Berlin

 

Am 19. Februar 2008 mailte Michael Brie – was mag ihn dazu bewogen haben? – "an alle" folgenden Satz: Eine allzu gedankenlose Distanzierung vom Mauerbau könnte in Zukunft das Verständnis dahin dogmatisch versperren, wo eine ökonomisch unterentwickelte Region – um mehr Demokratie, mehr Ökologie, mehr Kulturausgaben, mehr Soziales zu wagen – sich abschottet oder etwa die Abwerbung der vom Monopolkapital bevorzugten Kräftigen, Jungen, teuer Ausgebildeten verhindern wollte. – Der Satz stammte nicht aus seiner Feder, er setzte ihn korrekt in An- und Abführungszeichen und gab Urheber und Quelle an: Diether Dehm, Zeitschrift UTOPIE Kreativ, Heft 132, Oktober 2001.

Acht Tage später, am 27. Februar 2008, vermeldete die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" auf Seite 4: "Dieser Zeitung ist eine Äußerung Dehms zugänglich geworden …" Köstlich: zugänglich geworden! Im Zeitalter von Bibliotheken, Zeitschriftenarchiven und Internet. Der von Brie an alle gemailte Text hatte bei der FAZ in Robert von Lucius einen interessierten Empfänger gefunden. Der allerdings schaute sich die Quelle erst einmal im Original an. Und immerhin bemerkte er, daß Dehm in seinem Aufsatz für eine "glaubwürdige, völlig neuartige Konzeption zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft" geworben hatte, wofür man die "Angst vor Enteignung kleinen und mittleren Eigentums … aus der Gesellschaft herausnehmen" müsse. Mit einem Zurückdrängen der Macht der Großbanken und großen Konzerne könnten, so verstand er Dehms Auffassung, "kleinbürgerliche Ängste abgebaut" werden. Korrekt wies er auch darauf hin, daß die Bemerkungen über eventuelles Abschotten und das Verhindern von Abwerbung qualifizierter Kräfte bei Dehm in Gedanken über Entwicklungsländer eingeordnet sind. Unkorrekt löste er diesen Zusammenhang, indem er ein "teils" einschob. So verschaffte er sich Spielraum, die vom Fernsehmagazin PANORAMA fabrizierte Kampagne auch noch mit zu bedienen, die sich gegen den Wahlerfolg der Linken in Niedersachsen und gegen MdB Dehm als Vorsitzenden des niedersächsischen Landesverbands der Partei DIE LINKE richtete.

Am 6. März 2008 gab – von solchem Zwiespalt ungeplagt – Michael Brie im "Rheinischen Merkur" seinen verallgemeinernden Kommentar: "Einige in der Linken können linke Positionen nicht von Positionen trennen, die eigentlich extremistisch sind. Es gibt in der Partei durchaus noch Mitglieder, die bereit wären, die politische Freiheit für die Ziele Gerechtigkeit und Gleichheit einzuschränken."

Der Berliner Rechtsphilosoph Hermann Klenner, der wohl fundierteste und beste Menschenrechtekenner Deutschlands, reagierte darauf mit dem Satz: "Ich – zum Beispiel – bin dazu bereit." Er sagte das in einem Podiumsgespräch, das am 7. Mai 2008 im Willi-Münzenberg-Saal des ND-Gebäudes stattfand. Klenner sprach dort als Bries erster Diskussionspartner. Wer meine, "liberty" dürfe "only for liberty" eingeschränkt werden, argumentierte er, falle damit doch zurück hinter die Französische Revolution von 1789. In deren Losung standen einander gleichgesetzt in ihrem Wert: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die Freiheit wurde nicht der Gleichheit und Brüderlichkeit übergeordnet. Eine derartige Hierarchisierung war den französischen Revolutionären fremd. Sie haben die politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte der Menschen nicht unterschiedlich gewichtet. Wer nicht bereit sei, so Klenner weiter, die herrschenden Unterschiede zwischen Bankiers wie Ackermann und Arbeitern in den Betrieben zu sehen, der konserviere die Unordnungsverhältnisse, mit denen wir es heute zu tun haben. Wolle man zu denen Ja sagen? Ihnen gegenüber resignieren? Die Verhältnisse so lassen? Oder doch: sie ändern?

Damit kamen die Diskutierenden zu den berühmten Marxschen Worten aus der Schrift "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie", die Klenner in ihrem Zusammenhang begriff: "Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst." Und: "Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist." Brie hatte hingegen einen "Übergang von radikal zu extrem" in den Wechselbeziehungen zwischen dem Menschen als "höchstem Wesen" (Voraussetzung) und dem kategorischen Handeln für das Umwerfen der Verhältnisse (Folgerung) ausgemacht, wenn über Gewalt so gedacht und gedichtet wird wie in Brechts "Der Kommunismus ist das Mittlere". Das Gedicht ist 1932 in Polemik gegen Angriffe von rechts entstanden, in denen die Uraufführung von Brechts Stück "Die Mutter" zum Anlaß genommen worden war, den Kommunismus als "die Sache nur einer kleinen extremen Minderheit" hinzustellen. Als künstlerischen Beitrag zum Podiumsgespräch trug die Schauspielerin Renate Richter das Gedicht vor. Es ließ aufhorchen, was Brecht feststellte und meinte:

"Zur Gewalt seine Zuflucht zu nehmen
Scheint böse.
Aber da, wo das, was ständig geübt wird, Gewalt ist
Ist es normal und nichts Besonderes."

Hierauf bezog Brie sich. Er meldete "konkrete Differenz" an und sagte, er sehe fundamentale Auffassungsunterschiede.

Die zitierten Zeilen in Brechts Text folgen allerdings dem Vers:

"Zum Umsturz aller bestehenden Ordnung aufzurufen
Scheint furchtbar.
Aber das Bestehende ist keine Ordnung, sondern
Verordnete Unordnung und planmäßige Willkür."

Einen so fundamental ursächlichen Zusammenhang sollte nicht ausblenden, sondern mit bedenken, wer Brechts Standpunkt zu Ordnung, Unordnung und Gewalt beurteilen möchte.

Vor der vielen geläufigen Formulierung Marx', auch die Theorie werde zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift, steht ein zuweilen vernachlässigter Satz, sozusagen ein Vor-Satz . Er lautet: "Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, …" Frage: In welchem Verhältnis zu dieser Aussage sieht Brie sich? Bejaht er sie? Oder neigt er eher dazu, sie zu verwerfen bzw. – sanfter gesagt, weil es ja um Worte von Marx geht – sie zu "überwinden"?

Es gab in der Veranstaltung einen kurzen, nur wenige Minuten dauernden Augenblick, der vielleicht Anhaltspunkte dafür gegeben hat, in welcher Weise die besagte Erkenntnis geistiger Besitz geworden oder der eigenen Geistesverfassung fremd geblieben ist: Als die Debatte für Fragen aus dem Publikum geöffnet worden war, wurde Brie gefragt, wie man Kapitalmacht brechen könne, ohne ihre Freiheit einzuschränken, ohne Gegenmacht auszuüben. Man bat ihn, ein Tatsachen-Beispiel zu nennen (und sei es ein einziges), das überzeugend beweise, wie die ihm vorschwebenden Konzepte verwirklicht werden können. Er begann, von Stalinistischem zu reden, das dem Wirken für sozialistische Ziele abträglich ist, ja zuwiderläuft. Ohne dagegen einen Einwand zu erheben, beharrte der Mann aus dem Publikum aber darauf, sich nach etwas anderem erkundigt zu haben: nach einem positiven Beispiel der Realisierung. Wie ein hilfsbereiter Souffleur rief ein weiterer Mann aus den Saalreihen: "Allendes Chile!" – Tatsächlich: In vielen Hinsichten ein mustergültiges Beispiel. Aber auch bei ihm mußte erörtert werden: Woran gescheitert? Brie meinte, die Unidad Popular habe die Kontrolle der Streitkräfte vernachlässigt. Die Kontrolle! Daß man zur Sicherung demokratisch errungener Volksmacht überwiegend antidemokratisch eingestellte Spitzen von Militärmacht hätte auswechseln – materielle Gewalt durch materielle Gewalt stürzen – müssen, brachte er nicht zur Sprache.

Wenn die Verhältnisse so bleiben wie sie gegenwärtig sind, dann fallen wir – so nochmals Hermann Klenner – zurück hinter die von Rousseau erhobene Forderung, keiner dürfe so reich sein, einen anderen kaufen zu können, und keiner so arm, sich verkaufen zu müssen. Durch einen Hinweis auf die biblische Apostelgeschichte hat er mich zudem noch veranlasst, nach der Veranstaltung zu Hause im Neuen Testament nachzulesen: "Alle aber, die gläubig waren geworden, waren beieinander und hielten alle Dinge gemein. Ihre Güter und Habe verkauften sie und teilten sie aus unter alle, nach dem jedermann not war." (Siehe: Die Apostelgeschichte des Lukas. Das 2. Kapitel. Vers 44 und Vers 45.). "Wenn wir so etwas für extremistisch halten ..." Klenner brauchte den Satz nicht zu vollenden. Er sprach sich für Mut zu einer Diskussion aus, die frei von Denkeinschränkungen sein möge.

Übrigens, über die eingangs skizzierte Munitionierung bürgerlicher Medien haben die 200 interessierten Bürgerinnen und Bürger, die der Einladung von Kommunistischer Plattform und Marxistischem Forum der Partei DIE LINKE gefolgt waren, von Brie nichts erfahren. Und seinen Podiumspartnern war es offenbar peinlich, ihn auf das von ihm in den Mantel des Schweigens gehüllte Medienpolitikum anzusprechen. Ob das die starke Konzentration aller Beteiligten auf Inhaltliches begünstigte? Mag sein. Erfreulicherweise milderte das nicht die Schärfe des Streits in der Sache.

Stefan Liebich, stellvertretender Vorsitzender der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus und Sprecher des Forums Demokratischer Sozialismus, und Ellen Brombacher, Sprecherin der Kommunistischen Plattform, gingen der Frage nach, wie es konkret in der Partei DIE LINKE aussehe: Wie stünden deren Mitglieder zur individuellen politischen Freiheit und zur sozialen Gleichheit? Brechts pointierte Kritik an Nichtdenkenden und den nur an sich Denkenden nahm Liebich zum Anlaß festzustellen: Wir haben nicht das Jahr 1932. Er forderte, Sozialismus-Geschichte auch im Westen zu diskutieren, einschließlich des Beschlusses zur Überwindung des Stalinismus auf dem Parteitag 1989; er streifte in diesem Kontext auch spätere Debatten wie die zu der, wie er sie nannte, "Kuba-Krise" (in Teilen der PDS) und zum "Stein des Anstoßes" in Friedrichsfelde.

Im Zusammenhang mit immer wieder erhobenen "Stalinismus"-Vorwürfen sagte Ellen Brombacher, niemand würde bestreiten, daß es unter Stalin schlimme Verbrechen gab. Es sei des weiteren nicht in Frage zu stellen, daß den gewesenen Sozialismus auch prinzipielle Systemdefizite charakterisierten. Die Hauptauseinandersetzungen fänden nicht darüber, sondern über die daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen statt. Die Schlußfolgerung dürfe weder lauten, wegen der Defizite des vergangenen Sozialismus solle erst gar kein neuer Anlauf genommen werden, noch wäre es berechtigt, den gewesenen Sozialismus auf seine defizitären Seiten – genauer: auf seine nichtsozialistischen Züge – zu reduzieren. Das Geleistete dürfe nicht geleugnet werden. Dem verordneten Antikommunismus dürfe man sich nicht beugen.

Als Moderator habe ich mich, wie es sich gehört, mit eigenen Meinungsbekundungen im allgemeinen zurückgehalten. An dieser Stelle hielt ich es aber für richtig, auf neue Nachricht aus dem Allensbacher Meinungsforschungsinstitut zu verweisen. Dessen jetziger Chef Thomas Petersen schrieb in einem Beitrag, den die FAZ am 18. Juli 2007 unter der Überschrift "Der Zauberklang des Sozialismus" veröffentlichte, über Ergebnisse einer Umfrage, die das von ihm geleitete Institut 2002 und 2007 vorgenommen hatte. Dabei sei versucht worden, die Befragten "mit einer etwas polemischen Formulierung hervorzulocken". Die Frage lautete: "Kürzlich sagte jemand: 'Ich frage mich, was das für eine Freiheit sein soll, in der Millionen arbeitslos sind, immer mehr Leute von Sozialhilfe leben müssen und die Großindustrie Rekordgewinne macht. Auf so eine Freiheit kann ich verzichten.' Würden Sie das auch sagen, empfinden Sie das auch so, oder würden Sie das nicht sagen?" – "Das sehe ich auch so", sagten im Juli 2007 62 Prozent der Befragten. Vor fünf Jahren sagten das 53 Prozent. Was sind die 62 Prozent in Petersens Augen? Bei der Bewertung seiner Befragungsergebnisse, die ihn überraschten, hatte er noch Schwierigkeiten: Wollte er vermuten, da seien so viele Leute – und so viele mehr als fünf Jahre zuvor – Opfer eines "brillanten Streichs" von Oskar Lafontaine und seiner Partei DIE LINKE geworden? Oder könnte er sich doch dazu durchringen, in den 62 Prozent der Beantworter seiner Fragen, die eine andere Freiheit als die gegenwärtig herrschende besser finden würden, Frauen und Männer zu sehen, die eigene Eindrücke, Erlebnisse, Erfahrungen zu eigenen Auffassungen, Meinungen, Urteilen verarbeiten? Linke kommen wohl von vornherein zu Deutungen der letzteren Art.

Freilich nicht alle. Wie im "Neuen Deutschland" vom 6. Juni 2008, Seite 14, nachlesbar, behilft Michael Brie sich auf folgende Weise: Denen, die finden "Auf so eine Freiheit kann ich verzichten", und wohl mehr noch denen, die ihnen beipflichten, unterstellt er, sie hielten es für "richtig, daß Freiheit nur auf Kosten der Gleichheit, Gleichheit nur auf Kosten der Freiheit zu haben ist". Er, dem von seinen Diskussionspartnern stundenlang zugeredet wurde, die Menschenrechte nicht zu hierarchisieren, sondern Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in der Tradition der Französischen Revolution "einander gleichgesetzt in ihrem Wert" zu betrachten und davon abzulassen, einen dieser Werte den anderen überzuordnen, er hält es für angebracht und sich für berufen, diese Diskussionspartner zu belehren, daß eine "falsche Alternative" formuliert, wer "Freiheit oder Gleichheit" sagt, was keiner derjenigen getan hatte, die mit ihm stritten. Ob er intellektuell redlich zu argumentieren unterläßt, weil er auch das für "eigentlich extremistisch" hält?

Wenn Frank Baier aus Halle (Saale) in einem Leserbrief, der am 16. Juni im ND veröffentlicht wurde, behauptet, Uwe-Jens Heuer meine, "ein anderer Sozialismus als ein freiheitseinschränkender, also der stalinistische 'Sozialismus' sei nicht möglich", operiert auch er mit der Methode der Unterstellung statt des ordentlich zitierten Quellenbelegs. In Heuers Artikel "Soziale Menschenrechte in den Vordergrund stellen" (ND vom 6. Juni) war gesagt worden, jede Opposition gegen den global aktiven Imperialismus, wenn sie ein ganzes Land erfaßt, müsse sich, wenn sie dauerhaft bleiben solle, auf die Staatsmacht stützen. Gerade deshalb sei der Kampf gegen die "Schurkenstaaten" ein zentraler Bestandteil der imperialistischen Strategie. Und nun weiter wörtlich: "Die ungeheure ökonomische und ideologische Dominanz des Imperialismus kann tatsächlich bedeuten, daß der 'Schurkenstaat' Freiheitsrechte einschränken muß." Wogegen Heuer polemisiert, das ist die Auffassung, die Beseitigung vorhandener ökonomischer Ungleichheiten dürfe "nur ohne Eingriff in die politischen Freiheiten der ökonomisch Begünstigten" geschehen. Diese konkret-historische Betrachtung umzuempfinden in ein modellhaftes "freiheitseinschränkendes" Sozialismus-Postulat, dazu bedarf es politischer Verdrehungsenergie, der wir widerstehen sollten.

(Eine Kurzfassung siehe in: "Ossietzky" Heft 11, 31. Mai 2008)

 

 

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