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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

So, wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben

Moritz Mebel

 

So, wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben

Von Moritz Mebel

Es war am Sonntag, dem 22. Juni 1941, also vor etwas mehr als 68 Jahren. Ich saß in der Bibliothek in der Kaljaefskaja Str. in Moskau und bereitete mich auf die Prüfung in Chemie am Montag vor. Ich studierte im 1. Semester am 1. Moskauer Medizinischen Institut. Gegen 11 Uhr erklang im Radio die Stimme Molotows, Vorsitzender des Rates der Volkskommissare der Sowjetunion, mit stotternder Stimme verkündete er, daß heute gegen 4 Uhr morgens die Deutsche Wehrmacht wortbrüchig die Sowjetunion überfallen hat. Es war Krieg. Wir alle waren überzeugt, daß die Rote Armee die nazistischen Eindringlinge in ein paar Monaten vernichtend schlagen wird. Aber es kam ganz anders. ... Am 14. Oktober 1941 hatten die deutschen Truppen die Verteidigungslinie der Roten Armee bei Moshaisk etwa 100 Kilometer westlich von Moskau durchbrochen. „Der Hauptstadt der Sowjetunion droht eine tödliche Gefahr“, wie es in der Mitteilung der Sowjetischen Nachrichtenagentur hieß.

Ich war damals 18 Jahre alt und meldete mich freiwillig, wie eine ganze Reihe meiner Mitstudenten auch, zu dem Kommunistischen Arbeiterbataillon unseres Stadtbezirks. Von 1941 bis 1945 kämpfte ich als Soldat und später Offizier in den Reihen der Roten Armee bis zur bedingungslosen Kapitulation Hitlerdeutschlands an der Westfront und anschließend an der 2. Sabaikalischen Front gegen die Japanische Armee. Im August 1945 nach der Kapitulation des imperialistischen Japans war auch für mich der Krieg zu Ende.

Im Spätsommer 1932 war meine Familie aus Erfurt nach Moskau emigriert. Wenn ich heute auf meine Zeit in der Sowjetunion zurückblicke, auf die Jahre vor dem Krieg, auf die Zeit meines Studiums nach dem Krieg, wenn ich an jene Jahre zurückdenke, die ich dort als Arzt arbeitete, bevor ich 1958 in die DDR kam, dann bewegen mich widersprüchliche Gefühle. Wir, ich denke da auch an meine Frau Sonja und viele unserer Freunde, wuchsen dort als Internationalisten auf. Mit welchem Mitgefühl dachten wir an die Schutzbündler in Österreich, an die Verteidiger der Spanischen Republik, an die geschundenen Menschen in Abessinien, das vom faschistischen Italien überfallen wurde. Wunderbare Lehrer unterrichteten uns an der deutschen Karl-Liebknecht-Schule in Moskau, an der ich Freundschaften fürs Leben schloß: Peter Florin, Mischa und Konrad Wolf. Aber ich erinnere mich auch an die Prozesse von 1937/38. Damals stellten sich mir diese Dinge einfach dar: Wer in der SU verhaftet und vom Gericht verurteilt wurde, sabotierte den sozialistischen Aufbau. Und der vollzog sich ja in beeindruckender Weise. Doch ich erlebte die andere, schlimme Seite. Am 15. Januar 1938 wurde die Karl-Liebknecht-Schule geschlossen und einige Lehrer verhaftet. Auch Eltern von Freunden erlitten das gleiche Schicksal. Ich habe das verdrängt. Später habe ich begriffen: die furchtbaren Verbrechen, die unter Stalin geschahen, sind nicht nur durch nichts zu rechtfertigen, sondern sie haben letztlich mit zur Liquidierung des sozialistischen Versuchs in der SU, der DDR und anderen sozialistischen Staaten beigetragen. Kommunist bin ich dennoch geblieben. Man muß Stalin nicht befürworten, um den Sozialismus als die legitimste Sache der Welt zu betrachten; natürlich kritisch. Und trotzdem: Die Eigentumsfrage wurde angepackt. Trotz Mangels auf manchen Gebieten wurden wichtige Probleme, insbesondere soziale, gelöst. Ich bin Arzt, war Chefarzt der Urologischen Klinik im Krankenhaus Friedrichshain, leitete später den Lehrstuhl und die Klinik für Urologie an der Charite bis 1988. Die erste erfolgreiche Nierentransplantation in der DDR wurde 1967 durch unser Kollektiv durchgeführt. Ich bin froh, daß ich altersbedingt nicht in der BRD praktizieren mußte. Der Arzt – ein Unternehmer, der Patient ein Kunde; demnach die Krankheit eine Ware. Am Quartalsende keine Medikamente mehr verschreiben zu können, weil das Budget erschöpft ist und die Krankenkasse nicht mehr zahlt. Es sei denn, man ist privat versichert. Eine Zweiklassenmedizin läßt grüßen. In der DDR war ich Arzt, allein meiner humanistischen Aufgabe verpflichtet.

Ich komme noch einmal auf den Krieg zurück. Von meiner Kompanie an der Nordwestfront, die 180 Mann zählte, sind drei am Leben geblieben, darunter ich. Ein unwahrscheinliches Glück. Auf dem Vormarsch bei Moskau Ende 1941 habe ich auch Istra wiedergesehen, wohin ich mehrmals als Junge mit dem Zentralhaus der Pioniere Ausflüge gemacht hatte: verbrannte Häuser, niedergemetzelte Einwohner, darunter getötete Kinder in den Brunnen geworfen. Ich sah mit eigenen Augen die Greuel der Deutschen Wehrmacht – das reicht fürs Leben. Ich weiß, daß der faschistische Krieg, auch der Holocaust, dem auch Menschen aus meiner und Sonjas Familie zum Opfer gefallen sind, nicht dem Wahn eines großen Gefreiten geschuldet waren. Die Weltherrschaftspläne des deutschen Kapitals waren die eigentliche Ursache für das Grauen zweier Weltkriege in Europa. Ich weiß, wer die uns jetzt erschütternde Weltwirtschaftskrise zu verantworten hat, den Hunger in vielen Ländern, die unendliche geistige Verelendung ungezählter Menschen. Die Welt taugte mehr vor 1989/90, weil es uns, das sozialistische Lager, gab, mit seinen Errungenschaften und auch Schwächen. Es ist keine Nostalgie, wenn ich sage: So, wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben. Eine andere Welt muß durch uns Menschen möglich gemacht werden ohne Ausbeutung und Multimilliardäre.

Es bleibt dabei: Sozialismus oder Barbarei.