Seit 50 Jahren: Die Volksrepublik China in der UNO
Dr. Wolfram Adolphi, Potsdam
Am 25. Oktober 1971 beschlossen die Vereinten Nationen, dass der Sitz Chinas in ihrer Organisation – der UNO – künftig von der Volksrepublik China eingenommen werden solle. Damit endete eine 26 Jahre dauernde Periode, in der dieser Platz der Republik China zugesprochen war. War dies bei der Gründung der UNO in San Francisco im Frühjahr 1945 noch ganz selbstverständlich gewesen – Republik China war die offizielle Bezeichnung des nach der chinesischen Revolution von 1911 und der mit ihr verbundenen Beendigung des Kaiserreiches entstandenen Staates –, so wurde es nach der Volksrevolution im Jahre 1949 und der mit ihr verbundenen Gründung der Volksrepublik China zu einem Anachronismus. Die Republik China existierte von da an nur noch auf der zu China gehörenden Insel Taiwan. Dorthin war das von Jiang Jieshi (Tschiang Kaischek, Chiang Kai-shek) geführte Regime der Guomindang vor den Truppen der von Mao Zedong geführten Volksbefreiungsarmee und der Kraft der Volksbewegung geflohen; dort hofften Jiang Jieshi und mit ihm die Führer der westlichen Welt auf einen baldigen Zusammenbruch der Volksrepublik. Diese Volksrepublik China mit (damals) 700 Millionen Menschen hier, Taiwan als Republik China mit (damals) 17 Millionen da – es war ein seltsames Spiel, das der Westen damit trieb, die Republik als das legitime China anzuerkennen und der 40-mal größeren Volksrepublik diese Anerkennung zu versagen.
Ein Spiel, das am 25. Oktober 1971 ein Ende hatte. Die Volksrepublik China, schon gleich nach ihrer Gründung 1949 von der Sowjetunion und den anderen europäischen sozialistischen Ländern einschließlich der DDR diplomatisch anerkannt, nahm nun auch in der UNO den Platz ein, der ihr zustand. Und es gab kein »sowohl als auch«. Es konnten nicht zwei Chinas in der UNO ihren Platz haben, denn beide Seiten – die von der Gongchandang (der KPCh) geführte Volksrepublik wie auch die von der Guomindang geführte Republik China – bestanden auf der Unteilbarkeit Chinas; beharrten auf dem Ziel, China wiederzuvereinigen und dieses wiedervereinigte China zu führen und zu gestalten.
Bedeutsame Vorgeschichte
Die Republik China spielte in der Geschichte der Vereinten Nationen von Beginn an keine Neben-, sondern eine Hauptrolle. Sie gehörte zu jenen 26 Nationen, die sich am 1. Januar 1942 in Washington mit einer »Deklaration der Vereinten Nationen« zu gemeinsamen Anstrengungen im Kampf gegen die Aggressorenachse aus faschistischem Deutschland, faschistischem Italien und militaristischem Japan verabredeten und damit den Grundstein für die Antihitlerkoalition und die spätere UNO-Gründung legten. Sie war auf der Konferenz von San Francisco (25.4.-26.6.1945) nicht nur Gründungsmitglied der UNO, sondern wurde auch – gemeinsam mit der Sowjetunion, den USA, Großbritannien und Frankreich – zu einem der fünf Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates und damit zu einem zentralen Pfeiler der Nachkriegsordnung in der Welt.
Song Ziwen (T. V. Soong), Außenminister der Republik China, sah dies in seiner Rede auf der ersten Plenartagung der Konferenz am 26.4.1945 darin gerechtfertigt, dass China »sich vielleicht mehr als irgendeine andere Nation der Notwendigkeit bewusst« sei, »den Erfolg dieser Konferenz zu gewährleisten«, da »heute überall anerkannt« werde, dass der zweite Weltkrieg »begann, als Japan 1931 in der Mandschurei einfiel und somit China 30 Millionen seiner Einwohner und reicher Naturschätze beraubte, die für seine nationale Existenz so lebensnotwendig waren.« In der Folge habe China »in 14 Jahren eines erbitterten Krieges alles Leid durchgemacht, was eine Aggression von Seiten einer großen räuberischen Macht nur mit sich bringen kann.«[1] Zwar habe es »mit allen [ihm] damals zur Verfügung stehenden Mitteln versucht, die Aggression rückgängig zu machen«, auch »die seinerzeit bestehenden internationalen Organisationen um Hilfe ersucht« – im Auge hatte Song hier den Völkerbund, der das Land im Kampf gegen den Aggressor allein gelassen hatte –, aber dabei sich »zwangsläufig davon überzeugen« müssen, »dass für keine einzige Nation die Hoffnung auf vollständige Sicherheit besteht, wenn nicht ein wirklich effektives System der kollektiven Sicherheit geschaffen wird.«[2]
An diese Überzeugung der damaligen Guomindang-Regierung der Republik knüpft die der heutigen Gongchandang-Regierung der Volksrepublik scheinbar nahtlos an. »Wir müssen uns«, sagte Parteichef Xi Jinping zum Beispiel am 17. November 2018 auf dem Gipfeltreffen der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) in Port Moresby (Papua Neu Guinea), bei der »Verbesserung des globalen Regierens« auf ein »regelbasiertes Vorgehen« einstellen. Geprägt durch die »schmerzvollen Lektionen zweier Weltkriege« hätten die Länder den auf die UNO gestützten »Rahmen des globalen Regierens« geschaffen, und diesen nun gelte es zu stärken durch die internationale Gemeinschaft als Ganzes und nicht in »Macht-hat-Recht«-Manier. Die Regeln sollten »nicht nach je eigenem Ermessen« befolgt und »nicht nach doppelten Standards oder eigennützigen Plänen« angewandt werden.[3]
Die bemerkenswerte Stabilität dieser positiven Haltung zur UNO gründet sich auf die Erfahrung, sich die internationale Wertschätzung hart erarbeitet zu haben – und zwar in spannungsreicher Auseinandersetzung zwischen Guomindang und Gongchandang. Wenn Jiang Jieshi in seiner Rundfunkrede »an Armee und Volk« zu Neujahr 1944 mit Genugtuung mitteilte, dass seine Regierung im Oktober 1943 in Moskau »mit Amerika, Großbritannien und der Sowjetunion eine gemeinsame Erklärung über kollektive Sicherheit« unterzeichnet habe,[4] so verwies er damit auf nichts Geringeres als den weltpolitischen Vorgang, dass mit dieser Erklärung, zu deren Abfassung und Unterzeichnung die eigentlichen Konferenzteilnehmer – die Außenminister der Sowjetunion, der USA und Großbritanniens (Molotow, Hull und Eden) – den chinesischen Botschafter in der Sowjetunion, Fu Bingchang (Foo Ping-sheung), ausdrücklich eingeladen hatten – die Tür zur späteren Bildung des Sicherheitsrates unter Teilnahme Chinas aufgestoßen war.[5]
Das war aber nach dem Kriegsverlauf in den 1930er Jahren so nicht vorauszusehen gewesen. Vom Völkerbund allein gelassen und von der revolutionären Bewegung in China bedrängt, hatte der entschlossene Antikommunist Jiang Jieshi bis 1937 versucht, sich mit Japan zu arrangieren und zugleich die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit dem faschistischen Deutschland auszubauen. An der Jahreswende 1937/38 schien es für einen Moment, als könne eine von Deutschland unternommene »Vermittlungsaktion« zum Frieden zwischen Japan und der Republik China führen.[6] Aber der von der Gongchandang geführte Widerstand gegen einen solchen Kurs war zu stark. Zur »antijapanischen Einheitsfront« mit der Gongchandang gezwungen, musste die Guomindang den Krieg mit Japan intensivieren. Ein Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion, abgeschlossen am 21. August 1937, und der darauf folgende Einsatz freiwilliger sowjetischer Fliegerkräfte an der Seite der Guomindang-Armeen trugen zur Klärung der Fronten gegen die Achse Berlin-Tokio, die am 25. November 1936 mit dem Antikominternpakt gefestigt worden war, bei. Am 23. Juni 1941 – einen Tag nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion – erklärte Mao Zedong, dass »die Aufgabe der Kommunisten in der ganzen Welt« jetzt darin bestehe, »alle Völker zur Schaffung einer internationalen Einheitsfront zu mobilisieren, um gegen den Faschismus und für die Verteidigung der Sowjetunion, die Verteidigung Chinas, die Verteidigung der Freiheit und Unabhängigkeit aller Nationen zu kämpfen.« Die Gongchandang habe die Aufgabe, »an der antijapanischen nationalen Einheitsfront festzuhalten«, »die japanischen Imperialisten aus China zu verjagen und damit der Sowjetunion Beistand zu leisten.«[7] In der Tat ist der chinesische Widerstand entscheidend dafür gewesen, dass Japan die vom faschistischen Deutschland so dringend erhoffte zweite Front gegen die Sowjetunion nicht zu eröffnen wagte.
Akteur im Kräftespiel der Großmächte
Keinen Zweifel also kann es daran geben, dass China ein ständiger Platz im UNO-Sicherheitsrat mit der gleichen Berechtigung zustand wie den vier anderen Siegermächten Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich. China besaß damit Großmachtstatus, und die Art und Weise, wie die Volksrepublik die Chance nutzte, der Republik China diesen Status zu entreißen, ist ein Beispiel dafür, wie wichtig es ist, in den internationalen Beziehungen die Interessenlagen des jeweils Anderen zu kennen und ernst zu nehmen.
1969/70 hatte sich der für die weltrevolutionäre Bewegung überaus tragische sowjetisch-chinesische Konflikt um die Vormachtstellung in ihr dramatisch zugespitzt. Am Grenzfluss Ussuri im Fernen Osten kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Mao Zedong suchte nach Wegen, die Volksrepublik aus der internationalen Isolierung, wie sie durch die »Kulturrevolution« entstanden war, zu befreien. Zugleich wuchs in den USA der Druck auf die Regierung, den Vietnamkrieg zu beenden. Präsident Nixon – so beschreibt es sein Außenminister und Sicherheitsberater Henry Kissinger – habe sich »verpflichtet« gefühlt, »den Krieg zu beenden«, es aber dabei nicht zu belassen, sondern den USA eine auf Dauer angelegte »dynamische Rolle bei der Gestaltung der internationalen Ordnung zu geben«, und in diesem Konzept sei China eine »Schlüsselrolle« zugekommen. Für Mao wiederum sei die Annäherung an die USA zu einem »strategischen Imperativ« geworden, so dass »China und die USA zwangsläufig einen Weg zueinander finden mussten.«[8]
Am 9. Juli 1971 traf Henry Kissinger zu einem Geheimbesuch in Beijing ein, um in aller Stille einen Besuch Nixons in China vorzubereiten. Zu diesem Besuch kam es am 21. Februar 1972. Zwischen beiden Daten liegt der 25. Oktober 1971, an dem die Volksrepublik in die UNO kam. Der Zusammenhang liegt auf der Hand – auch wenn das UNO-Datum in Kissingers Buch keine Erwähnung findet.
Die Annäherung zwischen den USA und der Volksrepublik, mit der der Platzwechsel in der UNO erst möglich wurde, war seinerzeit eine Sensation. Die antikommunistischen USA, die in Vietnam einen verbrecherischen Krieg zur Verhinderung des Aufbaus eines vereinigten sozialistischen Landes führten, und die noch immer »kulturrevolutionär« bestimmte Volksrepublik an einem Tisch, die Republik China plötzlich im Abseits! – Richtet sich der Blick jedoch auf die langfristigen Interessen der beiden Länder, wirkt das Sensationelle nicht mehr so sensationell. So sei verwiesen auf das Interesse Mao Zedongs an guten Beziehungen zu den USA in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre, das bei Präsident Roosevelt durchaus Beachtung fand, jedoch am scharf antikommunistischen Flügel der US-Politik abprallte.[9] Und am 30. Mai 1944, in der Vorbereitung der Konferenz der Alliierten in Dumbarton Oaks (21.8.-28.9.1944), mit der die UNO-Gründung beschleunigt vorbereitet wurde, begründete US-Außenminister Hull gegenüber dem sowjetischen Botschafter in den USA, Gromyko, seinen Vorschlag, China in die Verhandlungen stärker einzubeziehen, damit, dass China nach dem Krieg »die Chance 50:50« habe, »eine wirklich große Macht zu werden«, und es könne »einen kolossalen Absatzmarkt für die USA, die UdSSR und England darstellen.«[10]
Am 50. Jahrestag der Einsetzung in ihre legitimen UNO-Rechte ist die Volksrepublik China jene von Hull vermutete »wirklich große Macht« geworden, aber ihre Rolle beschränkt sich mitnichten auf die imperialistisch-koloniale Idee des »kolossalen Absatzmarktes«, sondern besteht in der zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt und deren rasch wachsender Fähigkeit zu globalem politischem und wirtschaftspolitischem Handeln. Der Westen ist gerade dabei, auf diese wachsende Macht Chinas mit der uralten Strategie der Konfliktverschärfung zu reagieren. Dabei wird Krieg ausdrücklich nicht ausgeschlossen. China setzt »globales Regieren« auf der Grundlage der UNO-Charta dagegen. Es ist für den Westen an der Zeit, dieses Bestreben erst zu nehmen.
Anmerkungen:
[1] Der Weltkriegsbeginn am 18. September 1931: Das war die Sicht der Guomindang-Führung von Anfang an. Jiang Jieshi notierte am 22. September 1931 in sein Tagebuch: »Mit der japanischen Aggression in China hat der Zweite Weltkrieg begonnen. Ich frage mich, ob die Staatsmänner der Welt das begriffen haben.« (Furuya, Keji: Chiang Kai-shek. His Life and Times. Abridged English Edition by Chun-ming Chang, New York 1981, S. 325)
[2] Zitiert nach: Die Sowjetunion auf internationalen Konferenzen während des Großen Vaterländischen Krieges 1941 bis 1945. Band 5: Die Konferenz der Vereinten Nationen von San Francisco (25. April – 26. Juni 1945), Moskau/Berlin 1988, S. 99.
[3] Xi Jinping, The Governance of China, Band 3, Beijing 2020, S. 533 f.
[4] Generalissimo Chiang Kai-shek’s War Speeches from July 1937 – January 1944, Chunking [1944], S. 126.
[5] Den Wortlaut der Deklaration siehe in: Die Sowjetunion … a. a. O, Band 1: Die Moskauer Konferenz der Außenminister der UdSSR, der USA und Großbritanniens (19.-30. Oktober 1943), Moskau/Berlin 1988, S. 301 f.
[6] Siehe dazu die bis heute gültige Dokumentation: Peck, Joachim: Kolonialismus ohne Kolonien. Der deutsche Imperialismus und China 1937, Berlin/DDR 1961. – Weiterführend auch der Aufsatz des Verfassers »Das faschistische Deutschland als ›Freund‹. Archivalien in der VR China zu den Erfahrungen der Guomindang-Regierung 1935-1941«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin/DDR, 37(1989)3, S. 211-227 und ebenso dessen Buch »Mao. Eine Chronik«, Berlin 2009, dort insbes. das Kapitel »Gegen Japan, gegen Tschiang«, S. 119-130.
[7] Mao Zedong: Über die internationale Einheitsfront gegen den Faschismus (23. Juni 1941), in: Mao Tse-tung, Ausgewählte Werke, Band III, Peking 1969, S. 27. – Vgl. diesen Text auch in: Mao Tse-tung, Ausgewählte Schriften, Band 4, Berlin/DDR 1956, S. 29.
[8] Kissinger, Henry: China. Zwischen Tradition und Herausforderung, aus d. amerik. Engl. übertragen von Helmut Dierlamm, Helmut Ettinger, Oliver Grasmück, Norbert Juraschitz, Michael Müller, München 2011, S. 226 f.
[9] Vgl. das in Fn. 5 genannte Kapitel in: Adolphi, Wolfram: Mao. Eine Chronik, a. a. O.
[10] Zitiert nach: Die Sowjetunion … a. a. O., Band 3, Die Konferenz der Repräsentanten der UdSSR, der USA und Großbritanniens in Dumbarton Oaks (21. August – 28. September 1944), S. 37 f.
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2021-08: Mahnendes Erinnern? Es wird nicht leichter.
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