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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Sehr geehrter Herr Bundespräsident

Egon Krenz, Dierhagen

 

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

nachdem Ihr Vorgänger im Amt 2009 wahrheitswidrig behauptete, die DDR-Führung habe im Oktober 1989 in Leipzig Panzer auffahren lassen und Schießbefehl erteilt, nennen Sie in Ihrer Rede zum 13. August die Politik der DDR "verbrecherisch". Daß Sie als Staatsoberhaupt der Bundesrepublik der ostdeutschen Bevölkerung bescheinigen möchten, in einem Verbrecherstaat gelebt zu haben, mag Ihnen aus manchen Richtungen Beifall bringen. Ob Sie auf diese Art die noch unvollendete innere deutsche Einheit voranbringen, wage ich zu bezweifeln. Mich beunruhigt, daß in den drei zurückliegenden sogenannten Erinnerungsjahren von 2009 bis 2011 Worte wie "Versöhnung" und "Aussöhnung" die Ausnahme waren. Die offiziellen Erinnerungen waren eher politisch einseitig und rückwärtsgewandt, nicht dazu angetan, die komplizierten Probleme der Gegenwart und Zukunft zu lösen.

Seit 1990 erklären Personen, die nie in der DDR gelebt haben, den Ostdeutschen permanent, wie ihr Leben in der DDR gewesen sein soll. Das empfinden immer mehr von ihnen nicht nur als Hochmut, sondern auch als bedrückend und beleidigend. Es verletzt zweifellos das Selbstwertgefühl all derer, für die die DDR Heimat war. Wenn – wie soziologische Untersuchungen belegen – noch immer fast zwei Drittel der Ostdeutschen sich als Bürger zweiter Klasse fühlen, hat dies natürlich viel damit zu tun, daß es für sie in der Bundesrepublik weder gleichen Lohn für gleiche Arbeit noch gleiche Renten für gleiche Lebensleistungen gibt. Der Unmut wird aber gleichzeitig genährt durch den Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit der Geschichte der DDR und den Biografien vieler ihrer Bürger. Sie empfinden die Art und Weise der Propaganda über die DDR-Vergangenheit demütigend und zunehmend auch als ein Gemisch aus Wahrheit, Halbwahrheit und Lüge. Ich frage mich, wären in einer so komplexen Angelegenheit wie der Beurteilung der Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht größere politische Souveränität, Objektivität und Sensibilität auch des Bundespräsidenten angebracht?

Sensibilität vermißt man auch an einem anderen Punkt: Wenige Wochen vor dem 13. August jährte sich zum 70. Mal der Tag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Meines Wissens hat die Bundesrepublik an dieses Ereignis nur sehr bescheiden erinnert. Das ist bedauerlich, weil es zwischen dem 22. Juni 1941 und dem 13. August 1961 einen geschichtlichen Zusammenhang gibt. Weil die Westmächte und die Bundesregierung 1952 die sogenannte Stalinnote für freie Wahlen in ganz Deutschland ablehnten, verlegte die sowjetische Regierung die erste Verteidigungslinie ihrer Streitkräfte an Elbe und Werra. Ihre Überlegung war: Nie wieder sollten deutsche Truppen so dicht an sowjetischen Grenzen stehen wie in jenem Kriegsjuni 1941. Das gehörte zu dem Preis, den wir für den verlorenen Krieg an das Land zahlten, das durch deutsche Schuld 28 Millionen Tote zu beklagen hatte. Nicht unerwähnt soll bleiben, daß die ökonomischen Lasten, die damit verbunden waren, auf deutschem Boden allein die DDR getragen hat.

Damals hieß es in dem Staat, aus dem Sie kommen: Die DDR sei der "Kettenhund Moskaus", der "verlängerte Arm des Kreml" oder einfach die "Sowjetzone". Heute hört man solches offiziell nicht mehr. Jetzt soll die DDR das Böse, das Verbrecherische schlechthin gewesen sein. Ihr wird sogar unterschoben, Stalin und Chruschtschow gedrängt, überredet und verführt zu haben, gegen den eigenen Willen die Grenze quer durch Deutschland gezogen und eine Mauer gebaut zu haben. Nach dieser Theorie hätte sich die Sowjetunion ohne Ulbricht natürlich ganz anders entschieden. Sie hätte freiwillig die Resultate des Zweiten Weltkrieges, zu denen auch die DDR gehörte, zu Gunsten des Westens korrigiert. Welch ein irrsinniges Geschichtsbild! Wer aber heutzutage von diesem abweicht und auch nur vage versucht, das Verhalten der DDR in historische Zusammenhänge zu stellen, wird als "Ewiggestriger", als "Verklärer", als "Nostalgiker", als "Stalinist", als "Schänder des Andenkens der Opfer" oder als "Täter" diffamiert, der nichts gelernt habe. Was ist das nur für eine Gesprächskultur, die sich in diesem Lande entwickelt hat?

Es ist doch widersinnig, so zu tun, als wäre die alte Bundesrepublik der Hort alles Guten und Schönen der deutschen Geschichte und die DDR das Werk von Verbrechern. Ich will nur daran erinnern, daß sich in diesem Monat zum 55. Mal jener Tag jährt, an dem 1956 in der Bundesrepublik die KPD verboten wurde. Gegen mehr als 250.000 Andersdenkende wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet. Über 10.000 von ihnen erhielten erhebliche Zuchthaus- und Gefängnisstrafen. Rehabilitiert ist bis heute niemand. Auch die vielen Berufsverbote sind Menschenrechtsverletzungen. Mir liegt es fern, Unrecht gegeneinander aufzurechnen. Aber: Daß es Unrecht nur in der DDR gegeben haben soll, ist doch ein Schönreden der alten und der neuen Bundesrepublik. Ehrliche Geschichtsschreibung kommt zwangsläufig zu dem Schluß, daß das Unglücksdatum der Deutschen nicht der 13. August 1961, sondern der Machtantritt Hitlers am 30. Januar 1933 war. Ohne ihn hätte es keinen Krieg, keine Besatzungszonen, keine zwei Währungen, keine zwei deutsche Staaten und folglich auch keine Grenze zwischen ihnen gegeben. Auf diesen Zusammenhang hat übrigens der in Ost und West geachtete Altbundespräsident Richard von Weizsäcker schon vor Jahren hingewiesen.

"Keine sehr schöne Lösung, aber tausendmal besser als Krieg" soll bekanntlich US-Präsident Kennedy den Mauerbau kommentiert haben. Und genau das ist der Punkt, an dem sich noch heute die Geister scheiden: Akzeptiere ich, daß es 1961 eine reale Kriegsgefahr gab oder unterstelle ich bösartig, daß die Führungen in Moskau und in der DDR-Hauptstadt kriminelle Vereinigungen waren, die sich nur damit beschäftigten, ihren Völkern Ungemach zu bereiten. Daß man 1961 in Moskau und Berlin mit einem möglichen Krieg gerechnet hat, belegen nicht nur Dokumente aus DDR- und UdSSR-Archiven, sondern auch Zeitzeugnisse westlicher Politiker. Franz-Joseph Strauß, damals Bundesverteidigungsminister, zum Beispiel erinnerte sich: "Für den Fall, daß der von den Amerikanern geplante Vorstoß zu Lande nach Berlin von der Sowjetunion aufgrund ihrer Überlegenheit aufgehalten werde, hätten die USA die Absicht, bevor es zum großen Schlag gegen die Sowjetunion komme, eine Atombombe zu werfen und zwar im Gebiet der DDR..." ("Erinnerungen", Seite 388). Daß die Grenze zwischen zwei gesellschaftlichen Weltsystemen und zwei sich feindlich gegenüberstehenden Militärblöcken, an der auch sowjetische Atomwaffen stationiert waren, heutzutage als "innerdeutsch" verharmlost wird, sei nur der Korrektheit wegen erwähnt. Daß es an dieser Grenze zivile und militärische Opfer gab, ist bedauerlich. Ich kenne keinen Verantwortlichen aus der DDR- Führung, für den nicht jeder Tote und Verletzte an der Grenze einer zu viel war. In Anwesenheit von Angehörigen von Opfern habe ich schon 1997 in meiner Erklärung vor dem Berliner Landgericht ausführlich darüber gesprochen.

Sie, Herr Bundespräsident, haben den Anspruch, Präsident aller Deutschen zu sein. Man kann die DDR-Gesellschaft nicht nur in "Täter und Opfer" teilen. Es gab nicht nur Oppositionelle. Viel mehr Menschen haben sich aus Überzeugung für die DDR eingesetzt und gern in ihr gelebt. Man kann den Staat DDR nicht willkürlich von den Menschen trennen, die ihn getragen haben. Viele von ihnen wollen es nicht mehr hinnehmen, daß ihr einstiges Land auf "Mauer, Stacheldraht und Staatssicherheit" reduziert wird. Sie wissen wie ich: Recht und Rache sind gleichzeitig nicht zu haben. Wer, wenn nicht der Bundespräsident, sollte damit beginnen, zu einen – statt auszugrenzen? Einen "Schlußstrich" unter die Geschichte will auch ich nicht. Eine sachliche, historisch wahrheitsgetreue Aufarbeitung der Nachkriegsgeschichte beider deutscher Staaten steht erst noch aus. Die DDR-Geschichte kann nur im Kontext mit der bundesdeutschen Geschichte bewertet werden. Nicht im Vergleich oder gar im Gleichsetzen mit dem verbrecherischen Naziregime.

Ich bin mir nicht sicher, ob Ihnen Ihre Mitarbeiter diesen Brief vorlegen und Sie ihn lesen. Wenn ich dennoch schreibe, hängt dies damit zusammen, daß ich kürzlich die kleine Schrift des über 90jährigen Franzosen Stèphane Hessel "Empört Euch!" gelesen habe. Er erinnert an die Botschaft von Nelson Mandela, der auf Aussöhnung statt auf ideologische Konfrontation setzte. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß dies auch in Deutschland gelingen könnte. Sie, Herr Bundespräsident, haben es in der Hand, dies zu befördern.

Hochachtungsvoll, Egon Krenz. Dierhagen, den 23. August 2011

An den Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Christian Wulff, Schloß Bellevue, Spreeweg 1, 10557 Berlin

 

 

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