Sandinismus wird heute verwirklicht
Wolfgang Herrmann, Dreesch
Vor 40 Jahren gewann Daniel Ortega die Präsidentschaftswahl in Nicaragua
Es begann am 19. Juli 1979: Die siegreichen Truppen der Sandinistischen Front der Nationalen Befreiung (FSLN) zogen in Managua, die Hauptstadt Nicaraguas, ein. Die Bilder gingen um die Welt. Der Erfolg der Revolution beendete nicht nur die Somoza-Diktatur, er unterbrach auch die Vorherrschaft des USA-Imperiums im zentralamerikanischen Land. Eine Regierungsjunta der Nationalen Erneuerung (JGRN) nahm die Arbeit auf. Sie war im Juni 1979 in San José (Costa Rica) auf Initiative der FSLN gebildet worden. Ihr gehörten Violeta Chamorro (Nationale Befreiungsunion UDEL), Sergio Ramirez (Gruppe der Zwölf), Alfonso Robelo (Breite Oppositionsfront FAO), Moisés Hassan (Volkseinheitsbewegung MPU) und Daniel Ortega (FSLN) an. Die Nationalleitung der FSLN hatte darauf geachtet, dass in der JGRN die bürgerlichen Kräfte vertreten waren, die sich in der Endphase des Kampfes gegen Somoza zur Zusammenarbeit bereit erklärten.
Die JGRN verabschiedete das Grundstatut der Republik Nicaragua, das die Scheinverfassung Somozas außer Kraft setzte. Sie eröffnete ein weitreichendes Reformprogramm, verstaatlichte die Banken, gründete die Sandinistische Volksarmee und die Sandinistische Polizei und organisierte die nationale Alphabetisierungskampagne. Der freie Zugang zur medizinischen Versorgung und der kostenlose Unterricht in den Schulen und Universitäten wurden eingeführt. Die JGRN verabschiedete auch das Gesetz über die entschädigungslose Enteignung des Eigentums der Familie Somoza und ihrer Helfershelfer. Das konfiszierte Eigentum sollte an neu gegründete staatliche Betriebe und Landgüter sowie an besitzlose Landarbeiter übergeben werden. Dieses Gesetz sorgte für Spannungen mit Violeta Chamorro und Alfonso Robelo. Im Frühjahr 1980 verließen beide die JGRN. Im März 1980 initiierte die FSLN die Bildung eines Staatsrates. Er bestand zunächst aus 33, ab 1981 aus 52 Vertretern aller sozialen Schichten. Die Reaktion antwortete: Ehemalige Offiziere der Nationalgarde Somozas organisierten den Aufbau des bewaffneten Contra-Widerstands, die USA-Regierung finanzierte ihn. Die Aktivisten der Alphabetisierungskampagne und der Gesundheitsbrigaden waren die ersten Opfer. US-Marines verminten nicaraguanische Häfen. Am 9. April 1984 verklagte Nicaragua die USA am Internationalen Gerichtshof wegen unzulässiger Intervention, verbotener Gewaltanwendung und Verletzung des Völkerrechts.
Von weltweiter Sympathie und Solidarität begleitet
Am 4. November 1984 fanden in Nicaragua Wahlen statt. Der Präsident und die Nationalversammlung wurden gewählt. Neben der FSLN traten die Demokratische Konservative Partei Nicaraguas (PCDN), die Unabhängige Liberale Partei (PLI), die Soziale Christliche Volkspartei (PPSC), die Kommunistische Partei Nicaraguas (PCN), die Sozialistische Partei Nicaraguas (PSN) und die Marxistisch-Leninistische Volksaktionsbewegung (MALMP) an. Der rechten Koalition Coordinadora Democrática Nicaragüense (CDN), die sich aus der Konstitutionellen Demokratischen Partei (PDC), der Sozialdemokratischen Partei (PSD) und einer Abspaltung der PPSC zusammensetzte, gelang es nicht, eine gemeinsame Wahlstrategie zu entwickeln. Sie ging deshalb dazu über, zum Boykott der Wahlen aufzurufen. Washington unterstützte sie dabei. Die FSLN und Daniel Ortega gewannen die Wahlen mit 67 Prozent vor der PCDN mit 14 Prozent. Im Januar 1985 wurden Daniel Ortega als Präsident und Sergio Ramirez als Vizepräsident in ihre Ämter eingeführt. Verbündete der FSLN übernahmen Regierungsverantwortung, unter ihnen die Priesterbrüder Fernando und Ernesto Cardenal sowie der Priester Miguel d’Escoto.
Die Reagan-Regierung denunzierte die Wahl als Betrug. Sie verschärfte die Aggression gegen die sandinistische Regierung. Im Mai 1985 beschloss der Kongress ein Wirtschaftsembargo gegen Nicaragua und bewilligte weitere 120 Millionen Dollar für die Unterstützung der Contras. Die Sandinistische Regierung verkündete »strenge Maßnahmen zur wirtschaftlichen Anpassung im Lande«. Die Bevölkerung litt unter der erheblichen Rationierung. Die Inflationsrate nahm astronomische Höhen an. In dieser komplizierten Situation organisierte die FSLN den Verfassungsprozess. Am 9. Januar 1987 setzte Präsident Daniel Ortega auf dem Platz der Revolution die Charta Magna in Kraft.
Die Sandinistische Volksrevolution genoss weltweite Sympathie und Solidarität. Im Verlauf der 80er Jahre wurde diese jedoch differenzierter. Die Regierungen der westlichen Länder zogen sich von der Unterstützung zurück. Tausende internationale Brigadisten halfen dem Land, unter ihnen der junge deutsche Kommunist Berndt Koberstein. Er wurde am 28. Juli 1986 von Contras bei Wiwili ermordet. Kuba und die sozialistische Staatengemeinschaft unterstützten Nicaragua nachhaltig. Die DDR half mit dem Hospital »Carlos Marx« und dem Ausbildungszentrum »Ernesto Thälmann«. Die LKW-Typen W50 und Robur gehörten zum Straßenbild Nicaraguas. Hunderte Spezialisten waren in der Industrie, in der Landwirtschaft und im Bildungswesen tätig.
Der Contra-Krieg in Nicaragua belastete nicht nur das Land, sondern auch die gesamte Region. Der Friedensprozess von Esquipulas II setzte ein. Im August 1987 unterschrieben die zentralamerikanischen Regierungschefs den Friedensplan. Als ich im April 1985 meine Beratertätigkeit bei der FSLN begann, fragten mich die Compañeros, ob wir in der DDR Perestroika, Glasnost und Neues Denken einführen würden. Sie waren davon begeistert. Als ich Ende November 1988 ging, meinten sie, dass wir es nicht tun sollten. In Reykjavik hatte Gorbatschow die Einstellung der Unterstützung von revolutionären Bewegungen erklärt. Ende März 1988 verhandelte die Nationalleitung der FSLN in Sapoá mit dem Contra-Direktorium. Beide Seiten unterzeichneten ein Kompromiss-Dokument. Die sandinistische Regierung bot eine weitgehende Amnestie und von 1991 auf 1990 vorgezogene Wahlen an. Die FSLN verlor 1990 die Wahl nach der Verfassung, die sie selbst ins Leben rief, gegen eine Allianz, bestehend aus 13 Parteien. Violeta Chamorro wurde die neue Präsidentin Nicaraguas.
Zu einer erfolgreichen Wirtschaft und stabilen Partnerschaften
Nach 16 Jahren, bei den Wahlen im November 2006, holte sich die FSLN die Regierung zurück. Daniel Ortega wurde erneut Präsident. Das Land erbte vom neoliberalen Zeitalter Schulden und Elend. Seitdem sind 17 Jahre vergangen, in denen ein umfangreicher Modernisierungsprozess in Nicaragua stattfand. Das Kräfteverhältnis hat sich verändert. Nicaragua ist nicht mehr Schauplatz eines internen bewaffneten Konflikts. Der Putsch von 2018 wurde niedergeschlagen, die Oligarchie in die Schranken verwiesen. War das Land einst ungünstigen Wirtschaftszyklen erlegen, betreibt es heute eine erfolgreiche Wirtschaft. Die Blockaden, mit denen der kapitalistische Sektor beabsichtigte, den von den Sandinisten eingeschlagenen Entwicklungsweg zu stören, sind verschwunden. Der staatliche Wirtschaftssektor sowie die kleinen und mittleren Familien-, Kooperativ- und Gemeinschaftswirtschaften tragen 70 Prozent zum BIP bei. Der Anteil privater Unternehmen am BIP beträgt 30 Prozent. Daran wird sich scheinbar kurz- und mittelfristig nichts ändern, weil Nicaragua zwar eigene Investitionen realisiert, aber auch auf ausländisches Investitionskapital angewiesen ist. Der Unternehmerverband COSEP, der in einer Troika mit der sandinistischen Regierung und den Gewerkschaften die wirtschaftlichen Geschicke des Landes mitbestimmen konnte, verlor den »Krieg«, in den er sich 2018 begab. Eine Herrenkaste, die sich Putschisten-Rechte herausnehmen wollte, ging unter.
Der Sandinismus entstand in den Bergen, in den Segovias. In den 1980er Jahren wurde versucht, ihn einzuführen. Seit 2007 wird er verwirklicht. Als Daniel Ortega 1990 die Präsidentenschärpe an Violeta Chamorro übergab, sagte er: »Von jetzt an regieren wir von unten.« Heute regiert der Sandinismus nicht nur von unten, sondern auch von oben. Er verteidigt nicht nur, er plant auch. Er ist der Garant der sozialen und politischen Ordnung des neuen Nicaragua. Nicaragua ging die strategische Partnerschaft mit der Volksrepublik China und der Russischen Föderation ein, was der Entwicklung des Landes offenbar gut bekommt. Nicaragua ist Mitglied der Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas – Handelsvertrag der Völker (ALBA-TCP). Das Land nimmt seine Verantwortung im Parlament Zentralamerikas (PARLACEN) und in der Gemeinschaft der Staaten Lateinamerikas und der Karibik (CELAC) wahr. Es gehört zur Gruppe der 77. Kuba, Nicaragua und Venezuela bilden ein revolutionäres Dreieck, das in fester Solidarität zusammenhält. Für die USA sind sie das »Dreieck des Bösen«. Es ist Zielscheibe ständiger Angriffe und Sanktionen Washingtons.
In der Bundesrepublik Deutschland werden Daniel Ortega, der nach 2006 drei weitere Präsidentschaftswahlen gewann, und die sandinistische Regierung Nicaraguas verteufelt. Auch Linke beteiligen sich daran. Mich beeindruckt, dass die FSLN nach der Wahlniederlage 1990 nicht unterging und nach 16 Jahren an die Regierung zurückkehrte. Sie hat sich 1991 als Partei konstituiert und ging dabei das Risiko der Spaltung ein. Sie verlor Mitglieder und Führungspersonal. Jedoch verlor sie nie ihre Linie: Sie blieb konsequent antiimperialistisch. Die FSLN strebt ein christliches, solidarisches und sozialistisches Gesellschaftsmodell an. Dessen Grundpfeiler sollen der politische Pluralismus, die gemischte Wirtschaft und die Nichtpaktgebundenheit sein. Die FSLN schätzt den Marxismus-Leninismus, achtet aber auch andere humane Denkweisen. Sie verehrt die Befreier Lateinamerikas wie Bolivar, Zapata und Martí. Vor allem aber orientiert sie sich am Erbe ihres Nationalhelden Augusto César Sandino. Die Avantgarde Nicaraguas trägt seinen Namen.
Mehr von Wolfgang Herrmann in den »Mitteilungen«:
2011-09: Zum 50. Jahrestag der Gründung der FSLN
2008-08: Die »Sandinistische Erneuerung« und ihre Freunde
2007-12: Roter Oktober in der UNO