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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Russophobie – eine historische Kontinuität

Dr. Reiner Zilkenat (1950 – 2020), aus dem Jahr 2016

 

Bis zum heutigen Tage [1] ist es aus vielen Gründen lohnenswert, sich mit den Ursachen des unprovozierten Überfalls Nazideutschlands auf die Sowjetunion und mit dem Cha­rakter des Krieges zu befassen, da nicht wenige bürgerliche Autoren hierzu verschlei­ernde, wichtige Gesichtspunkte vernachlässigende oder sogar die geschichtlichen Abläufe verfälschende Ansichten und Thesen verbreiten. Hierzu gehört die allerdings auch in der bürgerlichen Historiographie mittlerweile als unseriös zurückgewiesene »Präventivkriegs-These«, der zufolge Hitler einem Angriff Stalins nur zuvorgekommen sei. [2]

75 Jahre nach dem Beginn des Überfalls erscheint es vor allem sinnvoll, die Frage zu stellen, welche historischen Kontinuitätslinien zum 22. Juni 1941 führten. Einige Vor­aussetzungen und Ursachen dieser Aggression lassen sich um Jahrzehnte zurückverfol­gen. Nicht zuletzt von ihnen soll in den folgenden Überlegungen die Rede sein.

Russophobie und Imperialismus

Beginnen wir mit der in Deutschland grassierenden Russophobie. Sie beinhaltet die Anschauung von der angeblichen Minderwertigkeit und Primitivität des russischen Vol­kes und weist eine lange Traditionslinie in der deutschen Geschichte auf. [3] Sie existierte parallel zu der bei konservativen Teilen der herrschenden Klassen anzutreffenden Über­zeugung, der zufolge das zaristische Russland – von der deutschen Arbeiterbewegung zu Recht als »Hort der Reaktion« gebrandmarkt – ein natürlicher Bündnispartner derje­nigen Kräfte in Politik und Gesellschaft sei, denen es um die Bewahrung autoritärer und feudaler Strukturen im Innern und in den internationalen Beziehungen ging. Russland – so hieß es – sei der natürliche Bündnispartner des Deutschen Reiches im Kampf gegen die »westlichen Demokratien« Frankreich und Großbritannien. Im Übrigen verhinderten im Kriegsfalle gute Beziehungen mit Russland einen für Deutschland nicht zu gewinnen­den Zweifrontenkrieg. Wie auch immer: Der so genannte Draht nach St. Petersburg dür­fe nicht abreißen – so lautete auch eine der Grundüberzeugungen Otto von Bismarcks.

Mit der Entstehung des Imperialismus am Ende des 19. Jahrhunderts wurden jedoch die Stimmen unter Politikern, führenden Militärs und Ideologen der Herrschenden immer dominanter, die Russland primär als Konkurrenten auf der internationalen Bühne wahrnahmen, ja einen Krieg gegen das Zarenreich für unvermeidbar hielten. Als Ziele eines solchen Krieges wurden letztlich die Zerschlagung Russlands und seine weitge­hende Zurückdrängung aus Europa propagiert. Bereits am 10. Dezember 1887 hatte ein junger Diplomat, kein Anderer als der damals in St. Petersburg als Botschaftsrat amtierende spätere Reichskanzler Bernhard von Bülow, in einem Bericht an das Aus­wärtige Amt folgende Gedanken formuliert: »Wir müssen eventuell dem Russen so viel Blut abzapfen, dass derselbe sich nicht erleichtert fühlt, sondern 25 Jahre außerstande ist, auf den Beinen zu stehen. Wir müssten die wirtschaftlichen Hilfsquellen Russlands für lange hinaus durch Verwüstung seiner Schwarzerd-Gouvernements, Bombardierung seiner Küstenstädte, möglichste Zerstörung seiner Industrie und seines Handels zuschütten. Wir müssten endlich Russland von jenen beiden Meeren, der Ostsee und dem Schwarzen Meer, abdrängen, auf denen seine Weltstellung beruht.« [4]

Zeitgleich wurden derartige Anschauungen in wachsendem Maße von »völkisch« argu­mentierenden Ideologen legitimiert und pseudo-wissenschaftlich untermauert. Als eines von vielen Beispielen sei hier der einflussreiche Vorsitzende des reaktionären All­deutschen Verbandes, Heinrich Claß, zitiert, der in seiner 1912 erschienenen Pro­grammschrift »Wenn ich der Kaiser wär’« Folgendes zu Papier brachte: »Der Russe hasst den Deutschen mit dem instinktiven Hasse des in jeder Begabung Unterlegenen gegen den Überlegenen; alles am Deutschen ist ihm zuwider, sein Fleiß, seine Redlich­keit, seine Ordnungsliebe, seine Reinlichkeit. (…) Dem Hasse des Volkes entspricht ein tief eingewurzeltes und unbegründetes Misstrauen der Regierenden, und so kommt es, dass wir einen Feind im Osten haben, der genau so unsere Wachsamkeit und Schlagfer­tigkeit notwendig macht, wie der im Westen.« [5]

Zugleich verstärkte sich die Auffassung von der Unvermeidlichkeit eines Krieges zwi­schen Deutschland und Russland, bei dem es letztlich darum gehen werde, ob die »ger­manische« oder die »slawische Rasse« überlegen und für die zukünftigen politischen und ökonomischen Verhältnisse in Europa prägend sein werde. Kein Geringerer als der Chef des Großen Generalstabes, Generaloberst Helmuth Graf von Moltke d.J., formu­lierte diesen Gedanken gegenüber seinem österreichisch-ungarischen Amtskollegen Franz Conrad von Hötzendorf in einem Schreiben vom 10. Februar 1913: Er sei »nach wie vor der Ansicht, dass ein europäischer Krieg … kommen muss, in dem es sich in letzter Linie handeln wird um einen Kampf zwischen Germanentum und Slawentum. Sich hierauf vorzubereiten, ist Pflicht aller Staaten, die Bannerträger germanischer Geisteskultur sind.« [6]

Die hier zitierten Anschauungen und Handlungsvorschläge aus der Zeit um 1900 ließen sich beliebig ergänzen. Entscheidend bleibt eines: Sie reproduzierten sich seit der Ent­fesselung des Ersten Weltkrieges durch den deutschen Imperialismus in den zahlrei­chen offiziellen, aber auch von verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Grup­pierungen formulierten Kriegszieldenkschriften. Vor allem materialisierten sie sich in der Art und Weise der Kriegsführung und der Okkupationspolitik gegenüber Russland. Bereits in seiner berühmten »September-Denkschrift« von 1914 hatte der Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg das Ziel ausgegeben, »Sicherung des Deutschen Rei­ches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit.« Russland müsse »von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden«. [7]

Im Verlaufe des Krieges okkupierten das deutsche Heer und die verbündete österrei­chisch-ungarische Armee große Teile des Zarenreiches, darunter das Baltikum, bedeu­tende Teile von Polen und Weißrussland und schließlich die Ukraine sowie die Halbinsel Krim. [8] Für unseren Zusammenhang ist es bedeutsam festzuhalten, dass die besetzten Gebiete, vor allem die Ukraine, systematisch ausgebeutet wurden, da die dort vorhan­denen Bodenschätze (Mangan, Eisenerz, Öl) sowie die Nahrungsmittel für die Kriegs­wirtschaft Deutschlands und seines Verbündeten Österreich-Ungarn unverzichtbar geworden waren. [9] Von November 1915 bis zum Juli 1918 existierte unter der Kontrolle des Militäroberbefehlshabers Ost (zunächst Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg und General der Infanterie Erich Ludendorff, später Generalmajor Max Hoffmann) der so genannte Militärstaat Ober-Ost. Dieses »Imperium Germaniae« (Fritz Fischer) umfasste Lettland, Teile Weißrusslands, Polens und Litauens, insgesamt eine Fläche von ungefähr 100.000 Quadratkilometern mit ca. 3 Millionen Einwohnern. Hier, wie auch in der seit Anfang 1918 von insgesamt 750.000 deutschen und österreichisch-ungarischen Soldaten besetzten Ukraine, wo Generalleutnant Wilhelm Groener das Kommando über die deutschen Truppen führte und der beurlaubte Krupp-Direktor Otto Wiedfeldt die wirtschaftliche Ausplünderung koordinierte, kam es immer wieder zu gewaltsamen Requirierungen der Ernten, zur Verschleppung von Zwangsarbeitern, die in der deutschen Kriegswirtschaft arbeiten mussten, sowie nach der Oktoberrevolution von 1917 zu erbitterten Kämpfen mit den Bolschewiki und ihren Anhängern. Im Raub­frieden von Brest-Litowsk vom 3. März 1918 [10] schien das seit einigen Jahrzehnten for­mulierte Ziel des deutschen Imperialismus verwirklicht worden zu sein: Russland war tatsächlich »nach Osten abgedrängt« worden. Es hatte ein Viertel seines europäischen Territoriums mit beinahe 75 Prozent seiner Schwerindustrie und seines Bergbaus sowie wichtige landwirtschaftliche Gebiete und Rohstoffvorkommen verloren. Die Ukraine war faktisch ein deutsch-österreichischer Vasallenstaat.

Antibolschewismus als Triebkraft

Seit der Oktoberrevolution von 1917 wurde die »traditionelle« Russophobie mit dem Hass auf die Bolschewiki angereichert. Damit erhielt sie eine vollkommen neue Quali­tät. Jetzt ging es neben der angestrebten Gewinnung von »Siedlungsraum« für deutsche Bauern und Weltkriegsveteranen, neben der Ausbeutung der Bodenschätze und land­wirtschaftlichen Ressourcen vor allem darum, den historisch ersten Versuch zu ersticken, eine gegenüber dem Kapitalismus alternative Gesellschaftsordnung zu errichten. Von nun an bildeten die »Russophobie« und die Vorbereitung einer »sozialen Revanche« ein Amalgam in der Ideologie und Politik der Herrschenden. Russland wurde jetzt vornehmlich als Träger und international agierendes Zentrum einer feindlichen Ideologie und politischen Bewegung angesehen, die in Deutschland und in den anderen kapitalistischen Ländern revolutionäre Prozesse initiieren bzw. wirkungsvoll unterstüt­zen könnten. Eduard Stadtler, der Vorsitzende der im Dezember 1918 gegründeten »Antibolschewistischen Liga«, der die revolutionären Ereignisse in Russland als Mitar­beiter der Pressestelle an der deutschen Botschaft miterlebt hatte, brachte die Furcht der Herrschenden vor den Bolschewiki präzise auf den Punkt: »Es ist eine Wahnidee zu glauben, dass die Weltrevolution, die als ›Bolschewismus‹ über Russland hereinbrach, auf Russland lokalisiert werden könne. (…) Ich beschwöre den Geist der Verneinung und Zerstörung, den Geist des Bolschewismus von Russland her über das deutsche Volk und die Entente herauf. Ein Gespenst, ja, aber als ein reales, das ich kennen gelernt habe, als die Kraft, … welche alle destruktiven Strebungen aus der Tiefe der Menschheit heraufholt, welche die alte Wirtschaftsordnung nicht nur in den Grundfes­ten anfasst, sondern aus Zerstörungswut umstürzt, welche keine Ordnung mehr kennt, und keine Führung, keine Unterordnung, Überordnung und Einordnung, welche, alles nivellierend und zerstörend, von außen und von innen gegen unser Land heran-stürmt.« [11]

Für Deutschland ergab sich jedoch nach dem Ende des verlorenen Krieges eine kompli­zierte Situation. Zwar kämpften 1919 so genannte Freikorps, bestehend aus ehemali­gen Soldaten der kaiserlichen Armee sowie aus Freiwilligen, im Osten und im Inland gegen die »bolschewistische Gefahr«. Andererseits war Deutschland im Ergebnis des am 28. Juni 1919 geschlossenen Friedensvertrages von Versailles [12] auf der internatio­nalen Bühne in ähnlicher Weise isoliert wie Sowjetrussland. Die Reduzierung der Streit­kräfte auf 100.000 Mann, die über keinerlei schwere Waffen verfügen durften, ließen jeden Gedanken an einen neuen »Griff nach der Weltmacht« von vornherein als Illusion erscheinen. Und doch lagen die Dinge anders.

»… restlos Machtpolitik treiben«

Die in Deutschland herrschenden Eliten in Wirtschaft, Militär und Politik verarbeiteten die Niederlage im Ersten Weltkrieg überwiegend nicht als Resultat der eigenen Hybris. Der Griff zur Weltmacht war ohne eine realistische Analyse der ökonomischen und mili­tärischen Kräfteverhältnisse zwischen der Entente und den Mittelmächten unternom­men worden. Doch ein öffentliches Eingeständnis dieses während des Krieges offen zu Tage getretenen Sachverhaltes wurde vehement abgelehnt. Stattdessen wurde die Legende vom »Dolchstoß in den Rücken des deutschen Heeres« massenhaft in Wort und Schrift verbreitet, den die »vaterlandslose« Arbeiterbewegung, vor allem die Sparta­kisten und die Unabhängigen Sozialdemokraten, vollzogen hätten. [13] Immer lauter arti­kulierten sich antisemitische Hetzereien. Den Juden wurde pauschal »Drückebergerei« und unverhältnismäßige »Bereicherung« als Kriegslieferanten ebenso vorgeworfen wie ihre angeblich führende Rolle innerhalb der revolutionären Arbeiterbewegung. Statt nach den tatsächlichen Ursachen der Niederlage zu forschen, wurden gegen Deutsch­land gerichteten Verschwörungen von innen und außen die Verantwortung für den November 1918 zugeschoben. Vor allem General Erich Ludendorff trat mit seinen in großen Auflagen vertriebenen Schriften gegen Juden, Jesuiten, Freimaurer und andere »Dunkelmänner« hervor.

Eine besondere Rolle bei der Aufarbeitung der Niederlage spielte die Führung der Reichswehr. Hier wurden Gedanken geäußert und Pläne entworfen, als habe es im Ok­tober/November 1918 weder eine Kriegsniederlage noch eine Revolution in Deutsch­land gegeben. Der inzwischen zum Ersten Generalquartiermeister des Heeres avancier­te Generalleutnant Wilhelm Groener entwickelte im Mai 1919 in einem Vortrag vor der Obersten Heeresleitung in Kassel hierzu Überlegungen, die auf eine erfolgversprechen­dere Vorbereitung eines neuen Aggressionskrieges abzielten: »Wenn man um die Welt­herrschaft kämpfen will, muss man dies von langer Hand her vorausschauend mit rück­sichtsloser Konsequenz vorbereiten. Man darf nicht hin- und herschaukeln und Frie­denspolitik treiben, sondern man muss restlos Machtpolitik treiben«. [14]

Derartige Überlegungen blieben nicht folgenlos. Ungeachtet der Bestimmungen des Versailler Vertrages wurden 1925 von der Reichswehrführung und dem Reichsverband der Deutschen Industrie insgeheim Planungen für eine Wiederaufrüstung vorangetrie­ben. [15] Zu diesem Zweck wurde die »Statistische Gesellschaft« (Stega) gegründet, die geheime Rüstungen nicht nur vorbereitete, sondern auch bereits zu realisieren begann. Mehr noch: Bereits im Februar 1924 erarbeitete das Truppenamt im Reichswehrminis­terium, bei dem es sich um die Tarnbezeichnung des von den Alliierten verbotenen Generalstabes handelte, einen »Großen Plan«, dessen Realisierung ab 1931 zu einem 2,8 Millionen Mann starken Heer mit 102 Divisionen führen sollte. Ironie der Geschich­te: Mit genau dieser Mannschaftsstärke und der genannten Zahl von Divisionen entfes­selte das faschistische Deutschland im September 1939 den Zweiten Weltkrieg. [16] Alle vom Truppenamt in den zwanziger Jahren formulierten Mobilmachungs-, Aufrüstungs- und Kriegspläne gingen davon aus, dass Deutschland in absehbarer Zeit einen erneuten Krieg in Europa führen müsste. Der politischen Führung wurde dabei die Aufgabe zuge­wiesen, in möglichst schneller Frist die diplomatischen Voraussetzungen für eine militä­rische »Gleichberechtigung« Deutschlands zu schaffen. In einer Denkschrift der »Abrüs­tungsabteilung« des Truppenamtes vom 6. März 1926 hieß es hierzu unverblümt: »Es ist überflüssig, gerade angesichts der Nachkriegspolitik zu begründen, wie nötig die deut­sche Politik eines Rückhaltes durch militärische Machtmittel bedarf. Ebenso klar ist es, dass es sich zunächst (! – R.Z.) dabei nur um die Wiederherstellung eines gesunden Zahlenverhältnisses zu dem Rüstungsstande vor allem unserer Nachbarn und nicht um eine deutsche Aufrüstung schlechthin zu handeln braucht.« [17]

Das Intermezzo Rapallo

Und Sowjetrussland? Spielte es eine Rolle bei diesen Planungen? Wurde bereits in den zwanziger Jahren ein Krieg gegen den ersten sozialistischen Staat ins Kalkül gezogen? Die konkrete politische, ökonomische und militärische Situation, in der sich die Weima­rer Republik befand, erforderte eine nüchterne Analyse der Beziehungen zu Sowjetruss­land. Dabei spielten folgende Faktoren eine entscheidende Rolle. Beide Staaten waren in der internationalen Arena weitgehend isoliert und gehörten nicht dem Völkerbund an, der Deutschland erst im September 1926 aufnahm. Sie verfügten über komplemen­täre Güter für den Warenaustausch: Deutschland über hochwertige Produkte der Metall-, Elektro- und der chemischen Industrie, Sowjetrussland über Rohstoffe jeglicher Art, darunter Erdöl. Zugleich hatte Lenin erste Gedanken einer Doktrin der »friedlichen Koexistenz« von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung formuliert, die auf gegenseitigen Vorteil und die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des jeweils anderen Landes ausgerichtet waren. Der am 16. April 1922 zwischen Deutsch­land und Sowjet-Russland abgeschlossene Vertrag von Rapallo war ein Resultat dieser Konzeption. Beide Länder nahmen wieder diplomatische Beziehungen auf, verzichteten auf »den Ersatz ihrer Kriegskosten sowie auf den Ersatz der Kriegsschäden … (…) Des­gleichen verzichten beide Teile auf den Ersatz der Zivilschäden, die den Angehörigen des einen Teiles durch die sog. Kriegsausnahmegesetze oder durch Gewaltmaßnahmen staatlicher Organe des anderen Teils verursacht worden sind.« [18] Der Vertrag von Rapal­lo erfuhr vier Jahre später im Berliner Vertrag vom 24. April 1926 seine Bekräftigung. Hier verpflichteten sich beide Seiten neutral zu bleiben, falls einer der beiden Staaten in einen Krieg verwickelt werden würde. Außerdem erklärten Russland und Deutschland, dass sie an keinen wirtschaftlichen und finanziellen Boykottmaßnahmen, die sich gegen den Vertragspartner richten, teilnehmen würden. Im Übrigen wolle man in »freund­schaftlicher Fühlung untereinander bleiben.« [19] Im Jahr zuvor, am 12. Oktober 1925, hat­ten beide Länder in Moskau einen Handelsvertrag unterschrieben. Im Artikel 1 dieses Vertrages wurde als Zielstellung fixiert, »den Anteil beider Länder an der gegenseitigen Aus- und Einfuhr nach Maßgabe des Fortschritts des wirtschaftlichen Wiederaufbaus auf das Vorkriegsmaß zu bringen«. [20] Und tatsächlich bildeten die so genannten Russen­aufträge, gerade in den Jahren der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise, einen nicht unwesentlichen Bestandteil der deutschen Exporte.

Zeitgleich entwickelte sich in den Jahren der Weimarer Republik die geheime militäri­sche Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten. Die Reichswehr erhielt die Möglichkeit, in Russland mit schweren Waffen und den Giftgaskrieg zu üben, eine Ausbildungsstätte für Piloten zu unterhalten, ja sogar Schul- und Kampfflugzeuge zu produzieren. Die Rote Armee hingegen, die unter der ständigen Drohung eines erneuten Interventionskrieges imperialistischer Mächte stand, profitierte von den Erfahrungen deutscher Offiziere und Militärtechniker. [21] Wollten beide Mächte den Anschluss an die moderne Militärtechnik nicht verpassen, so schienen sie aufeinander angewiesen zu sein. Das war der Sinn ihrer Zusammenarbeit: nicht mehr und nicht weniger.

Unter der Drohung des Faschismus

Der 30. Januar 1933 stellte auch eine Zäsur für die deutsch-sowjetischen Beziehungen dar. Die Politiker und Diplomaten, die den Rapallo-Vertrag und den Berliner Vertrag abgeschlossen hatten, konnten sicherlich nicht zu den Bellizisten unter den Repräsen­tanten der deutschen Eliten gezählt werden. Reichskanzler Joseph Wirth (März 1921 bis November 1922) und Außenminister Walther Rathenau (Januar bis Juni 1922) waren ehrlich bemüht, mit Sowjetrussland gutnachbarschaftliche Beziehungen herzustellen. Außenminister Gustav Stresemann (August 1923 bis Oktober 1929) war ein Protagonist des außenpolitischen Revisionismus, der vor allem die Wiedergewinnung ehemals deut­scher Gebiete in Polen und einen mitteleuropäischen Wirtschaftsverbund unter deut­scher Führung anstrebte. Allerdings bevorzugte er politisch-diplomatische Mittel, um diese Ziele zu realisieren. Ein Krieg mit Russland stand für ihn, der den Berliner Vertrag unterschrieben hatte, nicht zur Diskussion.

Mit der Machtübertragung an die faschistische NSDAP änderte sich die Statik der deutsch-russischen Beziehungen. Zwar ratifizierte die Nazi-Regierung im Mai 1933 die bereits im Juni 1931 vollzogene Verlängerung des Berliner Vertrages, doch es gab in Moskau keinen Zweifel darüber, dass mit dem Machtantritt der Naziregierung zugleich ein neues Kapitel der bilateralen Beziehungen aufgeschlagen worden war.

Adolf Hitler hatte bereits in seiner programmatischen Schrift »Mein Kampf« unmissver­ständlich formuliert, welche außenpolitische Strategie eine von ihm geführte Reichsre­gierung verfolgen werde. Dort hieß es: »Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhun­derten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Eu­ropas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Ko­lonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Russland und die ihm untertanen Randstaaten denken.« Und weiter: »Das Riesenreich im Osten ist reif zum Zusammenbruch. Und das Ende der Judenherrschaft in Russland wird auch das Ende Russlands sein.« [22]

 

An dieser Stelle folgte in Reiner Zilkenats Vortrag am 10. April 2016 jener Teil, den die »Mitteilungen« im Heft 8/2023 als Auszug unter der Überschrift »Über die unmittelbare Vorgeschichte des Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffsvertrages vom 23. August 1939« (siehe kpf.die-linke.de/mitteilungen/detail/ueber-die-unmittelbare-vorgeschichte-des-deutsch-sowjetischen-nichtangriffsvertrages-vom-23-august-1939/) abgedruckt bzw. wiederabgedruckt hatten.

 

Anmerkungen:

[1] Die richtigen Lehren aus der Geschichte zu ziehen, wird seit Jahren immer dringender. Dies ist ein Auszug aus dem Teil 1 eines auf der Bundeskonferenz der KPF am 10. April 2016 gehaltenen Vortrags mit dem Titel »Unternehmen Barbarossa. Der Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. – Über historische Kontinuitäten, Diskontinuitäten und den Charakter dieses Aggressionskrieges«. Bearbeitet. Siehe Mitteilungen, Heft 9/2016, Seiten 9-19, oder kpf.die-linke.de/mitteilungen/detail/unternehmen-barbarossa-der-ueberfall-auf-die-sowjetunion-am-22-juni-1941-1/. Der abschließende Teil 2 erschien im Heft 10/2016 auf den Seiten 7-17. – Red.

[2] Siehe Bianka Peitrow-Ennker: Deutschland im Juni 1941 – ein Opfer sowjetischer Aggression? Zur Kontroverse über die Präventivkriegsthese, in: Der Zweite Weltkrieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz. Hrsg. von Wolfgang Michalka, 2. Aufl., München 1990, S. 586 ff.; Werner G. Fischer: Der Überfall auf die Sowjetunion und der Krieg im Osten 1941-1945 – Anmerkungen zur deutschen Historiographie, in: Vor 70 Jahren: Der Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion. Wissenschaftliches Kolloquium im Russischen Haus der Kultur und Wissenschaft, Berlin 2011, S. 117 ff.; Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Hrsg. von Bianka Pietrow-Ennker, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 2000.

[3] Siehe Manfred Weißbecker: Die Kritik an den historischen Wurzeln des Russlandbildes deutscher Faschisten – Ein »Medusenblick«, in: Vor 70 Jahren. Der Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion, S. 128 ff.

[4] Zitiert nach Peter Borowsky: Deutsche Ukraine-Politik 1918 unter besonderer Berücksichtigung der Wirtschaftsfragen, Hamburg u. Lübeck 1970, S. 30. Adressat dieses Berichtes war der Geheimrat Friedrich von Holstein, der Leiter der Politischen Abteilung im Auswärtigen Amt. Er galt als ein unversöhnlicher Gegner Russlands.

[5] Daniel Frymann (das ist Heinrich Claß): Wenn ich der Kaiser wär’. Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten, 5., erweiterte Aufl., Leipzig 1914, S. 169 f.

[6] Zitiert nach Dokumente zur deutschen Geschichte 1900-1914. Herausgegeben v. Dieter Fricke, bearbeitet v. Annelies Laschitza, Berlin 1976, Nr. 86, S. 100.

[7] Zitiert nach Dokumente zur deutschen Geschichte 1914-1917. Herausgegeben v. Dieter Fricke, bearbeitet v. Willibald Gutsche, Berlin 1976, Nr. 18, S. 43. Ganz geheime Richtlinien Bethmann Hollwegs v. 9. September 1914 über die Kriegszielpolitik. Einige der Denkschriften sind ebenda abgedruckt: Nr. 14, S. 37 f.; Nr. 17, S. 41 f.; Nr. 21, S. 47 f.; Nr. 30, S. 60; Nr. 35, S. 66 f.; Nr. 38, S. 69 f.; Nr. 44, S. 79 f.; Nr. 69, S. 128 f.; Nr. 77, S. 117 ff.

[8] Siehe Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf 1967, u.a. S. 117 ff., 166 ff., 230 ff., 305 ff., 370 ff., 415 ff., 474ff.

[9] Siehe zum Folgenden Reiner Zilkenat: »Wer Kiew hat, kann Russland zwingen!« Die Ukraine und die deutschen Kriegsziele im Ersten Weltkrieg, in: www.kritisches-netzwerk.de/forum/wer-kiew-hat-kann-russland-zwingen.

[10] Siehe Handbuch der Verträge 1871-1964. Verträge und andere Dokumente aus der Geschichte der internationalen Beziehungen. Herausgegeben v. Helmuth Stoecker, Berlin 1968, S. 171 ff.; Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht, S. 415 ff.

[11] Eduard Stadtler: Weltkrieg-Welttragödie-Weltbolschewismus. Vortrag, gehalten am 14. Februar 1919 in Berlin, in: derselbe: Die Weltkriegsrevolution. Vorträge, Leipzig 1920, S. 124 u. 132 f. Zur überaus interessanten Biographie Stadtlers u. zu seiner politischen Tätigkeit siehe Joachim Petzold: Die Demagogie des Hitlerfaschismus. Konservative Theoretiker des deutschen Faschismus. Jungkonservative Ideologen in der Weimarer Republik als geistige Wegbereiter der faschistischen Diktatur, Berlin 1982, bes. S. 42 ff.

[12] Siehe Handbuch der Verträge 1871-1964, S. 182 ff.; Gerhard Schulz: Revolutionen und Friedensschlüsse 1917-1920, München 1967, S. 186 ff.

[13] In einer Broschüre äußerte sich ein kaiserlicher General hierzu folgendermaßen: »Der Dolchstoß wurde gerade im gefährlichsten Augenblick gegen das Heer und damit gleichzeitig gegen das Volk geführt, durch ihn wurde den Ententemächten die Möglichkeit gegeben, ihre Waffenstillstandsbedingungen, da es einen beachtenswerten Gegner nicht mehr gab, ins Ungemessene zu steigern und sie im Friedensdiktat nicht nur aufrecht zu erhalten, sondern zu verschärfen. (…)« General Hans v. Zwehl: Der Dolchstoß in den Rücken des siegreichen Heeres, Berlin 1921, S. 26 f.

[14] Zitiert nach Weltherrschaft im Visier. Dokumente zu den Europa- und Weltherrschaftsplänen des deutschen Imperialismus von der Jahrhundertwende bis 1945. Herausgegeben u. eingeleitet von Wolfgang Schumann u. Ludwig Nestler unter Mitarbeit von Willibald Gutsche u. Wolfgang Ruge, Berlin 1975, Dok. 62, S. 165.

[15] Karl Nuß: Militär und Wiederaufrüstung in der Weimarer Republik. Zur politischen Rolle und Entwicklung der Reichswehr, Berlin 1977, S. 163 ff. u. 198 ff.; Militärgeschichtliches Forschungsamt, Hrsg.: Deutsche Militärgeschichte 1648-1939, Bd. 6: Reichswehr und Republik (1918-1933), Herrsching 1983, S. 228 ff., bes. 232 f. Die führende Rolle innerhalb der Stega spielte der Berliner Großindustrielle und Vorsitzende der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Ernst von Borsig.

[16] Siehe Karl Nuß: Militär und Wiederaufrüstung in der Weimarer Republik, S. 182 ff.; Carl Dirks u. Karl-Heinz Janssen: Der Krieg der Generäle. Hitler als Werkzeug der Wehrmacht, Berlin 1999.

[17] Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918-1945. Serie B: 1925-1933, Bd. I/1: Dezember 1925 bis Juli 1926, Göttingen 1966, Nr. 144, S. 342 f.: Die Abrüstungsfrage nach realpolitischen Gesichtspunkten betrachtet (Geheime Kommandosache).

[18] Siehe Handbuch der Verträge 1871-1964, S. 228. Siehe auch Wolfgang Ruge: Deutschland von 1917 bis 1933, 3. Aufl., Berlin 1978, S. 185 ff.; Ulrike Hörster-Philipps u.a., Hrsg.: Rapallo – Modell für Europa?, Köln 1987, bes. S. 57 ff. (ausführlicher Dokumententeil) u. 137 ff.

[19] Handbuch der Verträge 1871-1964, S. 250.

[20] Zitiert nach Alfred Anderle: Die deutsche Rapallo-Politik. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922-1929, Berlin 1962, S. 161.

[21] Siehe zu dieser Thematik Olaf Groehler: Selbstmörderische Allianz. Deutsch-russische Militärbeziehungen 1920-1941, Berlin 1992.

[22] Zitiert nach Joachim Petzold: Die Demagogie des Hitlerfaschismus, S. 187 f.

 

Mehr von Reiner Zilkenat in den »Mitteilungen«: 

2023-08: Über die unmittelbare Vorgeschichte des Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffsvertrages vom 23. August 1939

2020-04: Appeasement oder kollektive Sicherheit?

2020-01: Der Persische Golf: Ein Binnenmeer der USA