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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Rückblicke auf zwei Legislaturperioden

Ellen Brombacher, Carsten Schulz

 

Am 10. Juni 2012 fand eine Woche nach dem Göttinger Bundesparteitag die 4. Tagung des 3. Landesparteitages der Berliner LINKEN statt. Im ND hieß es tags darauf: "Bei seinem ersten offiziellen Termin als frisch gewählter Bundesvorsitzender der LINKEN wurde Bernd Riexinger auf dem Berliner Landesparteitag sehr herzlich empfangen. Riexinger unterbreitete der eher dem Reformerlager zuzurechnenden Berliner LINKEN, die den unterlegenen Dietmar Bartsch unterstützt hatte, das Angebot für einen Neuanfang". In der vorwiegend sachlich verlaufenden Diskussion sprachen 24 Genossinnen und Genossen, darunter der neugewählte Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn. Es überwog bei den Diskutanten die Hoffnung, dass die nach Göttingen existierende neue Chance für die Partei produktiv genutzt wird. Vereinzelt gab es auch andere Töne. So äußerte z.B. Heidi Knake-Werner ihre Zweifel, dass die LINKE zur Politik zurückkehrt, auch wegen hinhaltender Formelkompromisse. Neben der wirklich guten Aufnahme von Bernd Riexinger und seinem sehr überzeugenden Auftreten gehörte es zu den erfreulichen Seiten des Parteitages, dass - natürlich nicht zum ersten Mal - für außerparlamentarische Aktionen mobilisiert wurde. Das betraf vor allem die Demonstration am 18. Juni "Keine Rendite mit der Miete" und die Antinazikundgebung am 17. Juni auf dem Strausberger Platz. An beiden Veranstaltungen nahmen auch nicht wenige Protagonisten der Berliner LINKEN teil, darunter die auf dem Landesparteitag mit 71,1 Prozent neugewählte Landesgeschäftsführerin Katina Schubert.

Das Engagement der Berliner LINKEN im Rahmen von außerparlamentarischen Aktionen hat sichtbar zugenommen. Das ist sicher eine Schlussfolgerung aus dem Wahlergebnis vom 18. September 2011 und aus der Berliner Basiskonferenz vom 21. April 2012, auf der wir das nachfolgend dokumentierte Material zu zehn Jahren Regierungsbeteiligung in Berlin verteilten - ausgearbeitet von den Autoren, diskutiert und mit Änderungen bestätigt im Landessprecherrat der KPF Berlin am 1. Februar 2012:

 

Auf dem Berliner Landesparteitag am 26. November 2011 wurde beschlossen, dass alle Basisorganisationen und Zusammenschlüsse aufgefordert sind, ihre Schlussfolgerungen aus dem Wahlkampf, ihre Erfahrungen, Konzepte und Ideen dem Landesvorstand zu übermitteln. Schlussfolgerungen aus dem Wahlkampf zu ziehen ist untrennbar verbunden mit Überlegungen, welche die vergangenen zehn Jahre der rot-roten Koalition in Berlin betreffen. Darauf wollen wir uns nachfolgend konzentrieren und stützen uns hierbei nicht zuletzt auf eine diesbezügliche Analyse, die Ellen Brombacher und Carsten Schulz über die erste Legislaturperiode erarbeitet hatten.

Erinnern wir uns an die Anfänge 2001/2002. Die Stimmung in Erwartung der SPD-PDS-Koalition war gemischt. Da war Hoffnung, die PDS werde es anders machen. Da war Skepsis, die PDS habe gar nicht die Möglichkeiten, es wesentlich besser zu machen, als es andere an ihrer Stelle getan hätten. Hoffnung und Skepsis oft in ein und demselben Wähler. Ein solches Stimmungsgemenge war in dieser Situation nichts Ungewöhnliches. Den Skeptikern wurde entgegengehalten, die PDS würde sich nicht davor "drücken" können, die Koalition anzustreben. Sie sei moralisch und politisch dazu verpflichtet. Schon damals fragten Kritiker: "Hätten wir unsere Wähler getäuscht, wenn wir nur unter bestimmten Bedingungen in die Regierung zu gehen bereit gewesen wären? Es war doch nie gesagt worden: Gleich unter welchen Bedingungen - wenn uns die Koalition angeboten wird, werden wir koalieren".

Allerdings hatte bereits im Juli 2001 ein Landesparteitag einen auch von den Autoren gezeichneten Antrag abgelehnt, in das Wahlprogramm einige wenige, konkret ausgeführte Bedingungen für eine Regierungsbeteiligung aufzunehmen. Das deutete schon darauf hin, dass nicht nur unter bestimmten, sondern beinahe unter allen Umständen mitregiert werden sollte. Hier eine erste wesentliche Schlussfolgerung: Ein solches Herangehen darf es nie wieder geben.

Die 1. Koalitionsvereinbarung

Wie es 2002 zu Neuwahlen kam, wird als bekannt vorausgesetzt; ebenso die Umstände des Scheiterns der Verhandlungen über das Zustandekommen einer Ampelkoalition. Schon die Koalitionsvereinbarung offenbarte, wer die Lasten der Haushaltskonsolidierung zu tragen haben würde. Bereits mit ihr begann die SPD, die PDS vorzuführen; bei weitem nicht nur hinsichtlich der Präambel. Es wurde deutlich: Mit der PDS werden die größten Einschnitte auf sozialem Gebiet stattfinden, die es in Berlin nach Kriegsende gegeben hat, die umfangreichsten Privatisierungen.

Die Kritik daran wurde bereits auf dem Landesparteitag im Januar 2002 offen geübt, auf dem die Koalitionsvereinbarung mit siebzehn Gegenstimmen beschlossen wurde. Es ist nicht wahr, dass sich Kritiker, darunter wir, auf die Ablehnung der würdelosen Präambel beschränkten. "Wurden wir wirklich gewählt", fragten wir bereits auf dem Koalitionsparteitag, "um - wie es ver.di sagt - den Schlussverkauf öffentlicher Dienste mitzutragen? Wurden wir gewählt, damit das Wasser teurer und eine Uniklinik geschlossen wird oder für Formulierungen wie 'Steuern, Gebühren, Abgaben und Beiträge werden hinsichtlich ihrer Höhe überprüft und in vertretbarem Rahmen angehoben?' Was wird vertretbar sein, für wen ist was vertretbar?"

Unmittelbar nach dem Koalitionsparteitag veröffentlichten wir eine Analyse des Koalitionsvertrages, die - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - am Koalitionstext verdeutlichte, was auf die Stadt zukommen wird. Es würde den Rahmen dieser Analyse sprengen, im Detail auf unser damaliges Papier einzugehen. Es betrifft vor allem Aussagen zum Ausbau des Flughafens Schönefeld, zu den Unterrichtsverpflichtungen der Lehrkräfte in Abhängigkeit zu den Vereinbarungen im angestrebten Solidarpakt, zur Übertragung von in kommunaler Trägerschaft befindlichen Kitas an freie Träger, zu "aufgabenkritischen" Konsequenzen der Haushaltskonsolidierung für den Bereich Soziales, zur Veräußerung von Wohnungsbaugesellschaften oder von Wohnungsbeständen, zur Notwendigkeit der Gewährleistung "auskömmlicher Renditen" und zum Einsatz steuerrechtlicher Vergünstigungen bei Sanierungen und daraus resultierenden Mietverteuerungen, zur Einführung des Straßenausbaubeitragsgesetzes, das die Finanzierung der erstmaligen Erstellung von Straßen und des Ausbaus bestehender Straßen regelt, zur Entlastung der Personalausgaben im Zeitraum der Legislaturperiode um insgesamt 1,074 Mrd. Euro, zur Überprüfung der Höhe von Steuern, Gebühren, Abgaben und Beiträgen und ihrer Anhebung in vertretbarem Rahmen etc.

Die Berliner Koalition, die Bundestagswahlen 2002 und innerparteiliche Reaktionen

Alsbald wurde vielen PDS-Wählerinnen und Wählern klar, wie sehr ihre Erwartungen enttäuscht werden. Prof. Reißig benannte in einer Studie die tiefen sozialen Einschnitte und resümierte: "Die Landes-PDS hat in der neuen Konstellation Lehrgeld zahlen und Federn lassen müssen. Die Erwartungen ... sind vielerorts einer Ernüchterung und Enttäuschung gewichen … Die PDS verlor infolge der Einschnitte der rot-roten Koalition in die soziale und kulturelle Infrastruktur weiter an Zustimmung. Umso mehr, als die latente Krise der Bundespartei 2002 (Bundestagswahl) offen aufbrach ..."

Wir wollen die Probleme nicht unter den Tisch kehren, vor denen die Berliner PDS stand und auch zukünftig wieder stehen kann: Natürlich müssen wir uns an Wahlen beteiligen, ergo kann man auch gewählt werden - und wie wir wissen, mit außerordentlich guten Ergebnissen. Was dann tun? Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Darum haben wir auch nie gesagt, man dürfe sich auf keinen Fall an einer Koalition beteiligen. Wir meinen allerdings: schon mit einem solchen Koalitionsvertrag, wie dem Berliner von 2002, hätte man nicht in die Regierung gehen sollen. Noch einmal: Den Problemen, vor denen wir bis heute stehen, ist mit einfachen Antworten nicht beizukommen. Wir müssen an Wahlkämpfen teilnehmen, parlamentarisch wie außerparlamentarisch präsent sein. Wir müssen in die Medien. Wir müssen als plurale Partei handlungsfähig bleiben. Wir müssen in den Widersprüchen leben und arbeiten, die das einmalige Profil unserer Partei permanent erzeugt - anders allerdings als in dieser Widersprüchlichkeit braucht uns auf Dauer keiner. Ein unerhörter Anspruch nicht nur an das Können, sondern auch an Redlichkeit und an das Verantwortungsbewusstsein der Parteimitglieder, vor allem aber ihrer gewählten Funktionäre und Parlamentarier. Mit "Augen zu und durch" ist diesen Problemen nicht beizukommen. Eher schon mit ehrlichen Analysen. Und die gab es - zumindest parteioffiziell - kaum. Überzeugende Analysen des Landesvorstandes Mecklenburg-Vorpommern zu vier bzw. acht Jahren Regierungsbeteiligung und aus Sachsen-Anhalt nach acht Jahren Tolerierung sind zumindest nie ernsthaft bekannt gemacht worden - wenn es sie überhaupt gibt. Auch in Berlin war selbst zur Halbzeit von Rot-Rot kaum etwas von der Absicht spürbar, einen Soll-Ist-Vergleich auf den Tisch zu legen.

Bereits im Dezember 2002 hatten zehn Berliner Genossinnen und Genossen im Vorfeld einer Landesbasiskonferenz in einem Brief mit konkreten Fragen vom Landesvorstand gefordert, dass in Vorbereitung des nächsten für 2003 vorgesehenen Landesparteitages der Basis eine Analyse vorgelegt wird.

Diese Forderung wurde einfach unter den Tisch gekehrt. Dafür wurden die Kritiker der rot-roten Koalition unentwegt gefragt, was sie denn anders machen würden - als ginge es primär um Ermessensfragen. Die Frage, was die Kritiker denn alternativ vorschlagen würden, wurde immer wieder unter dem Aspekt gestellt, dass es zum Mitregieren keine Alternative gäbe.

Statt also eine komplexe Einschätzung der Lage vorzunehmen und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, wurde mit dem Landesparteitag vom 21. September 2003 der unsoziale Sparkurs des rot-roten Senats "grundsätzlich" gebilligt. "Ganz Berlin", schrieb Karin Nölte wenige Tage später im ND, "trägt die Last des Spardiktats, aber die daran Mit-Schuldigen bekommen vom Gericht einen Persilschein. Mit keinem Euro müssen sie den von ihnen mitangerichteten Milliardenschaden wieder gutmachen". Am 7. Februar 2005 sagte Gerlinde Schermer, Sprecherin des "Donnerstagskreises - die Linken in der Berliner SPD" im ND zum Thema Bankenskandal und Risikoabschirmung: "Das Problem besteht darin, dass hier in einem umfangreichen System kriminelle, größenwahnsinnige Geschäfte gemacht wurden - zu Lasten der Berlinerinnen und Berliner, die das bezahlen müssen. Aber man hat sich gegenseitig abgesichert und gedeckt … Der Beschluss des Abgeordnetenhauses zur Risikoübernahme war das Eingeständnis des demokratischen Rechtsstaates, dass er größenwahnsinnige und kriminelle Geschäfte gewissenloser Banker nachvollzieht, den Raub öffentlichen Vermögens zu Gunsten Reicher legalisiert".

Es ist nicht abschätzbar, welchen moralischen Schaden die PDS seinerzeit dadurch nahm, dass sie in die Risikoabschirmung an maßgeblicher Stelle involviert war. Vor allem auch, weil mit der Zustimmung tiefe Einschnitte bei den konsumtiven Ausgaben einhergingen; sie betrafen u. a. die Kita-Gebühren, das Sozialticket, das Blindengeld, die Lernmittelfreiheit, aber auch die Kürzung der Mittel für Wissenschaft, Forschung und Kultur. Die Koalition erschien deshalb nicht nur als "Spar- und Streichkoalition" (Harald Wolf), sondern zudem als eine, die öffentliches Vermögen zu Gunsten spekulierender Reicher umverteilt. Vielen Wählerinnen und Wählern aber auch Parteimitgliedern musste der Gedanke kommen, dass mit zweierlei Maß gemessen wird. Doch wer mit zweierlei Maß misst, nimmt sich die Glaubwürdigkeit!

Eine sozialistische Partei sollte sich vom üblichen bürgerlichen Politikbetrieb auch dadurch unterscheiden, dass sie gegenüber den Menschen, die Hoffnungen in sie setzen, bestimmte Verbindlichkeiten eingeht. Die Erwartungen, die sich mit dem Namen der Partei verknüpfen, müssen zumindest tendenziell erfüllt werden. Niemand wird heute von einer sozialistischen Partei erwarten, dass sie morgen ihr Ziel realisiert. Aber die Partei muss eine konsequent auf die Wahrung sozialer Interessen der Schwächeren und Schwachen ausgerichtete Politik betreiben. Tut sie das nicht oder nur ungenügend, wird man ihr auch die hehren Ziele absprechen.

Die Darlegung der Ziele und Grundsätze einer Partei und die substantielle Übereinstimmung dieser Ziele und Grundsätze mit der Alltagsarbeit derselben ist ein permanenter Balanceakt, zumindest dann, wenn sich diese Partei wesentlich die Interessen jener auf die Fahne geschrieben hat, denen die Kapitalherrschaft eine menschenwürdige Existenz beschneidet oder unmöglich macht. Das betrifft nicht nur den Obdachlosen oder Sozialhilfeempfänger sondern auch den um seinen Arbeitsplatz Bangenden oder den Kleinunternehmer.

Trotz des alsbald erlittenen, beträchtlichen Vertrauensverlustes blieb es in den Augen vieler Wählerinnen und Wähler dennoch die PDS, bei der es am ehesten etwas bringen könnte, Druck auf die Partei auszuüben. Noch nahm man uns nicht als völlig druckresistent wahr. Das war in Berlin auch im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um das Blindengeld und mit den Studentenprotesten 2003/2004 wahrnehmbar, das zeigte sich mit der Ablehnung des Studienkontenmodells auf dem Parteitag im April 2004. Dass Druck eine gewisse Wirkung hat, zeigte sich auch daran, dass der Umgang mit Problemen der Regierungsbeteiligung in Berlin eine Spur realistischer wurde. Davon zeugte auch die Halbzeitbilanz des Landesparteitages; davon zeugte auch das bereits erwähnte Reißig-Papier.

Eine alternative Halbzeitbilanz

Am 16. Mai 2004 fand die 2. Tagung des 9. Berliner Landesparteitages statt. Zur Diskussion stand der Entwurf eines Bilanzpapiers über bisherige Ergebnisse der SPD-PDS-Regierungskoalition in der Hauptstadt. Im Vergleich zu früheren Einschätzungen des Wirkens der PDS in der Berliner rot-roten Koalition stellte die vorliegende Bilanz einen Qualitätszuwachs dar. Wesentliche Problemfelder des Agierens der PDS wurden benannt: So der Umgang mit dem Berliner Bankenskandal in Gestalt der Risiko-Abschirmung, die Anhebung der Kitagebühren für mittlere und höhere Einkommensgruppen, die bekannten Probleme des neuen Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst, die aus dem Landeshaushalt nicht mehr gewährleistete Finanzierung der Berliner Symphoniker, die Erhöhung der Wasserpreise, die Einsparung von 75 Millionen Euro in der Wissenschaftslandschaft, die Aufhebung der Lernmittelfreiheit (mit Ausnahme der Sozialhilfe-, Wohngeldempfangenden und Asylbewerber/innen), die Kürzung des Blindengeldes oder die (zeitweilige) Einstellung des nunmehr um ein Drittel teureren Sozialtickets infolge der Streichung des Landeszuschusses von 17,4 Millionen Euro an den Eigenbetrieb BVG (im Windschatten dieser Entscheidung schaffte die BVG gleich das Arbeitslosen- und Seniorenticket mit ab). Durch die Streichung des Zuschusses wurde die weder von der PDS noch von der SPD gut geheißene Forderung des Finanzsenators, die Sozialhilfe-Regelsätze auf Brandenburger Niveau abzusenken, kompensiert.

In der Bilanz wurden die massiven, die Belange der Bezirke betreffenden Einschnitte in die soziale und kulturelle Infrastruktur nur allgemein erwähnt. Wie viele Clubs und Bibliotheken geschlossen, wie viele Projekte eingestellt oder wo Eintrittspreise, zum Beispiel für Schwimmbäder, erhöht wurden etc. wurde im Einzelnen nicht aufgeführt.

Benannt wurden auch unter Rot-Rot erzielte Fortschritte: Die Vermittlung von Sozialhilfeempfangenden in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung (nach BSHG, und also bis 31. Dezember 2004 auch in anderen Bundesländern), Bargeld statt Chipkarten und eigene Wohnungen statt Massenunterkünfte für Flüchtlinge, innovative Schritte im Drogenbereich, die Mittelsteigerung für außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, die Zunahme der polizeilichen Deeskalationsstrategie bei Demonstrationen oder das Verhalten der rot-roten Koalition bei einer Reihe wichtiger Entscheidungen im Bundesrat.

Unsere Hauptkritik an der Bilanz bestand darin, dass zwei Prämissen das Papier wie ein roter Faden durchzogen:

Zum einen die Behauptung, de facto hätten wir in die Koalition eintreten müssen und zum anderen, dass die Haushaltskonsolidierung der Dreh- und Angelpunkt unseres Wirkens im Rahmen der Koalition sein müsse.

Dieses Herangehen tabuisierte die Frage erneut, ob es unter den gegebenen Voraussetzungen (der Schuldenberg hatte derzeit einen Umfang von ca. 53 Mrd. Euro erreicht) richtig war, in diese Koalition einzutreten. Damit wurde zugleich jede Debatte über den realen Wert konsequenter Opposition unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen abgeblockt. Dieses Herangehen verstellte ebenso den Blick auf die Frage, ob es angesichts der Halbzeitbilanz richtig sei, in der Koalition zu verbleiben. Damit wurde die vorliegende Bilanz - wenngleich Tatsachen zunächst einmal offen benannt worden waren - vom Grundsatz der Apologetik beherrscht.

Wir trugen und "gestalteten" weiterhin an der Seite der Berliner SPD einen Kurs mit, der letztlich die Hasardeure des Kapitalismus auf Kosten jener schützt, die wenig besitzen oder zumindest nicht zu den wirklich Begüterten zu zählen sind. Dass wir diesen Kurs hier und da abmilderten, war in den Augen vieler, die Hoffnungen in uns setzten, viel unbedeutender als es für sie bedeutend war, dass wir ihn mit ermöglichten. Es ging nicht einfach darum, dass im Eifer des Gefechts auch außerhalb der Beschlusslage Wahlversprechungen geäußert wurden, wie es in der Halbzeitbilanz hieß. Es ging um die Wahrung von Interessen. Und die Frage erhob sich zunehmend: Wessen Interessen vertreten wir in erster Linie? Eine weitere wesentliche Schlussfolgerung besteht also darin, dass wir bei einer Regierungsbeteiligung stets so agieren müssen, dass nie in Zweifel gestellt werden kann, wessen Interessen wir zuvörderst vertreten.

Zu Problemen in der PDS-Landesorganisation

Die hinsichtlich der Regierungsbeteiligung vorhandene apologetische Sichtweise wurde von Teilen der Basis der Partei zunehmend kritischer betrachtet. Das Wissen darum mag der Hauptgrund gewesen sein, warum Versuche schon im Ansatz negiert wurden, im Prozess der Erarbeitung der Halbzeitbilanz 2004 über die Ergebnisse der PDS-Koalitionsbeteiligung auch zu einer Einschätzung von diesbezüglichen Stimmungen und Meinungen in der Berliner Landesparteiorganisation zu gelangen. Eine dennoch an die Basisorganisationen gerichtete Aufforderung des PDS-Bezirksvorstandes Mitte, ihre Auffassung zu bisherigen Ergebnissen der rot-roten Koalition zu formulieren, brachte aufschlussreiche Ergebnisse, ebenso eine später in Marzahn-Hellersdorf organisierte Mitgliederbefragung.

In einem Papier des Landesvorstandes wurde jedoch bewusst darauf verzichtet einzuschätzen, welche Auswirkungen die Regierungsbeteiligung auf die politische, ideelle und strukturelle Verfasstheit der Landesparteiorganisation hat, welche Stimmungen und Meinungen es unter Berliner PDS-Mitgliedern gibt. Die mehrfach geäußerte Begründung hierfür: Jeder habe andere Kontakte, jeder stoße auf andere Meinungen, manchmal wechselten Stimmungen gar im Rahmen einer Parteiveranstaltung. Es gäbe also - als hätte das jemand behauptet - keine einheitlichen Auffassungen zu Rot-Rot und deshalb gehöre ein Stimmungsbild nicht in eine Bilanz über den Realisierungsstand des Koalitionsvertrages. Mit anderen Worten: Für Koalitionsprobleme war in der Bilanz Platz, nicht so für die aus der Koalitionsbeteiligung resultierenden Folgen für unsere Partei.

Demzufolge wurde auch kein Wort über Parteiaustritte in den vergangenen zweieinhalb Jahren verloren, die wohl nicht selten unmittelbar oder mittelbar (letzteres gilt vor allem für den sich dem großen Koalitionspartner anbiedernden Umgang mit der Geschichte) mit Koalitionsfragen zusammenhingen. Seit Mitte 2002 bis Mitte 2004 gab es nach unserer Kenntnis ca. 1.500 Austritte und darüber hinaus ca. 350 Streichungen, häufig in Folge nicht gezahlter Beiträge. Noch etwas: In der Halbzeitbilanz wurde der Wählerschwund ebenfalls mit keinem Wort erwähnt. Das Problem des Glaubwürdigkeitsverlustes, den die Berliner PDS hinnehmen musste und muss, fanden wir in der Bilanz nicht. Nicht einmal den Begriff.

Nicht nur unser Antrag, der Landesvorstand möge dem Landesparteitag dann zumindest im ersten Quartal 2005 eine Analyse über die Auswirkungen der PDS-Regierungsbeteiligung auf den PDS-Landesverband vorlegen, wurde abgelehnt, sondern ebenso ein Antrag der BO 20 (Marzahn/Hellersdorf), der Landesvorstand solle "eine Analyse der politischen Situation im Land Berlin und der Wahrnehmung der PDS durch die Bevölkerung" erstellen.

Zur Legislaturperiode 2006 bis 2011

Spätestens nach der katastrophalen Wahlniederlage 2006 wären in unserer Landesorganisation endlich die Frage zu diskutieren gewesen: Was bringt Regierungsbeteiligung, wenn äußerst negative Ausgangsbedingungen und ein mehr als ungünstiges Kräfteverhältnis dem Wunsch nach Gestaltungsspielraum zunehmend voluntaristischen Charakter verleihen?

Die Wahlen 2006 erbrachten die Quittung für den Kurs der in der zurückliegenden Legislaturperiode beinahe uneingeschränkten Anpassung an Wowereits Regierungsführung. Der entschied sich dennoch erneut für ein Regierungsbündnis mit unserer Partei. Inzwischen blieb die Berliner LINKE nicht mehr ohne Kritik aus der Gesamtpartei. Auch dieses Korrektiv bewirkte, dass sich DIE LINKE zwischen 2006 und 2011 im Rahmen der Koalition deutlicher profilierte. Während des Wahlkampfes und auch in den Tagen unmittelbar nach dem 18. September 2011 sind Vorzüge der nunmehr abgewählten rot-roten Koalition immer wieder benannt worden. Sei es der ÖBS für Langzeitarbeitslose, sei es die Gemeinschaftsschule oder sei es zum Beispiel der Berlin-Pass. Wir wollen noch hinzufügen: In den vergangenen zehn Jahren wurde die Demonstration im Rahmen der Luxemburg-Liebknecht-Ehrung nicht ein einziges Mal auseinandergeprügelt. Von Schönbohms und Werthebachs Polizei waren wir anderes gewohnt.

Solche Fortschritte wurden auch von den Wählerinnen und Wählern wahrgenommen. Die Umfragewerte der Partei verbesserten sich und lagen über dem Wahlergebnis von 2006. Doch das änderte sich wieder - gerade im Verlaufe des Jahres 2011 - und endete mit 11,7 Prozent (170.829 WählerInnen) für DIE LINKE am 18. September - noch einmal ein Verlust von 1,7 Prozent im Vergleich zu den vorangegangenen Abgeordnetenhauswahlen. 2006, das soll hier noch einmal betont werden, verloren wir verglichen mit 2001 mehr als die Hälfte der Stimmen (2001 stimmten 366.296 Berliner für die PDS. Das waren 22,6%; 2006 stimmten 185.000 Berliner für unsere Partei. Das waren 13,4%). Wir heben das hier hervor, weil diese Zahlen eine klare Sprache sprechen. Die Verluste, die der Berliner Landesverband in der Zeit der Regierungsbeteiligung erlitt, sind u. E. nicht in erster Linie durch jene Debatten zu erklären, die der Partei 2011 über Monate, teils von innen (auch aus Berlin), teils von außen, aufgezwungen wurden, sondern hingen vor allem mit dem beträchtlichen Glaubwürdigkeitsverlust zusammen, den wir als Preis für die Regierungsbeteiligung zahlten. Als sich dann im Wahlkampf noch ein Eindruck von tiefer Zerstrittenheit hinzugesellte, wurde es richtig problematisch. Der Bundesspitze war das eher nicht anzulasten. Ansonsten teilen wir die auf der Bundesvorstandssitzung vom 19. September 2011 erarbeitete Position, dass eine Partei gemeinsam gewinnt und gemeinsam verliert. Wir verloren vor allem im Osten Stimmen, auch in jenen Stadtbezirken, die als Hochburgen der LINKEN schlechthin galten. Es wäre absolut verkürzt, der Diskussion über den Kommunismusbegriff, der Antisemitismusdebatte und den Auseinandersetzungen im Kontext mit dem 50. Jahrestag des Mauerbaus für das Berliner Wahlergebnis einen größeren Stellenwert beizumessen als zehn Jahren Regierungsbeteiligung und neunzehntausend kurz vor den Wahlen ausgesprochenen Mieterhöhungen. Darüber hinaus kosteten zumindest im Osten Berlins Boykottaufrufe gegen die junge Welt und Entschuldigungen für Glückwünsche an Fidel Castro eher Stimmen, als dass sie welche gebracht hätten. Es bleibt notwendig, die Verluste, besonders im Osten der Stadt, genau zu untersuchen.

Zum Berliner Wahlkampf

Uns scheint, im Rahmen einer solchen Analyse sollte nicht zuletzt der Berliner Wahlkampf und dessen unmittelbare Vorphase unter die Lupe genommen werden - besonders auch die Auswirkungen des Berliner Landesparteitages vom 28./29. November 2010. Erinnern wir uns: Da waren mehrere Anträge, die den Parteitag aufforderten, den vom Berliner Wassertisch initiierten Volksentscheid zu unterstützen. Die Anträge wurden weggestimmt. Und mehr als das: Bezirksvorstände, die in ihren Räumlichkeiten Unterschriftensammlungen für das Stattfinden des Volksentscheids durchführen wollten oder durchführten, wurden seitens des Landesvorstandes gerügt. Genossinnen und Genossen, die danach fragten, wie sie sich hinsichtlich des Volksentscheides verhalten sollten, wurde von manchen Funktionären die Antwort gegeben, am besten wäre es, sie blieben zu Hause. Und als hätte das alles noch nicht genügt, erklärte der Landesvorsitzende nach dem Entscheid, es sei zu überlegen, ob man nicht klagen sollte. Und noch einmal zurück zum Landesparteitag vom November 2010. Eine Delegation der Bürgerinitiative vom Fanny-Hensel-Kiez in Kreuzberg wandte sich hilfesuchend an uns. Auch in diesem Kiez standen horrende Mieterhöhungen an. Dort waren ursprünglich Sozialmieten zu zahlen. Wegen des Wegfalls der einkalkulierten Mieten-Förderung durften die Eigentümer nunmehr die tatsächliche Kostenmiete verlangen - für viele Mieter unbezahlbar. Darüber sprachen die Vertreter der Hensel-Kiezbewohner. Doch die Chance wurde vertan, durch eine öffentliche Erklärung oder einen entsprechenden Beschluss die unmissverständliche Solidarität mit den Mieterinnen und Mietern zum Ausdruck zu bringen. Faktisch ergebnislos verließen die Leute vom Fanny-Hensel-Kiez den Parteitag, und ähnlich geschah es auf dem Landesparteitag am 27. März 2011, auf dem sie noch einmal über ihre hoffnungslose Situation berichteten. Da brachte dann ein Wahl-Plakat nichts mehr, auf dem versprochen wurde, "Mieter vor Wild-West schützen" zu wollen. Dieses Plakat hat uns im Übrigen so mancher Sympathisant im Westen übel genommen.

Fazit: Im November 2010 haben wir gleich in zwei für den Wahlkampf entscheidenden Themen das falsche Signal gegeben. Vermutlich aus Rücksicht auf die SPD, die dadurch allerdings kaum Schaden nahm. Von ihr erhoffte man sich offenkundig in sozialen Fragen nur noch sehr bedingt Gutes. Von der LINKEN hingegen wird ein hohes Maß an sozialer Kompetenz erwartet. Und das ist gut so, auch wenn uns diese Erwartungshaltung immer dann auf die Füße fällt, wenn wir ihr nicht gerecht werden. Gerade im Kontext mit den eben geschilderten Vorgängen verloren wir z.B. das Vertrauen vieler in außerparlamentarischen Bewegungen Agierender und damit Stimmen, nicht zuletzt von jungen Wählerinnen und Wählern. Das war ein wesentliches Manko für unsere Partei. Darin liegt aber auch eine große Chance für unser zukünftiges Wirken in der Opposition. Dafür kann und muss ein antikapitalistisches Programm die Richtschnur sein. Die Partei DIE LINKE braucht sich nicht neu zu erfinden. Sie war und ist in sozialen Fragen und ebenso in puncto Friedenspolitik die einzige auch parlamentarisch verankerte Kraft. Und sie ist ein wesentlicher antifaschistischer Faktor. Das bleibt extrem wichtig, auch wenn die Nazis Stimmeinbußen zu verzeichnen hatten. Dennoch erhielten NPD (31.243), "Pro Deutschland" (17.829) und "Die Freiheit" (14.019) insgesamt über 63.000 Stimmen und zogen - wenngleich nicht in Fraktionsstärke - in drei Bezirksverordnetenversammlungen ein. Erschreckend bleibt es, mit welcher Selbstverständlichkeit sie in der Stadt massenhaft, aggressiv und menschenverachtend plakatieren konnten - die materiellen Möglichkeiten von Splitterparteien sehen im Normalfall anders aus. Das war und bleibt ein deutliches Warnsignal und eine Verpflichtung auch für unsere Partei, die antifaschistische Arbeit zu aktivieren.

Die Kommunistische Plattform hat sich trotz kritischer Sicht auf die zwei Legislaturperioden, in denen wir in der Koalition wirkten, aktiv am Wahlkampf beteiligt. Wir haben, wie viele andere Basis-Genossinnen und Genossen auch, Wahlzeitungen und Schreiben an die Wähler in Briefkästen gesteckt, Plakate aufgehängt, an Wahlveranstaltungen teilgenommen, persönliche Gespräche geführt und an Ständen Wahlmaterialien verteilt. Und wir werden auch bei der weiteren Entwicklung der Landesparteiorganisation und in Vorbereitung der in knapp anderthalb Jahren stattfindenden Bundestagswahl einen soliden Beitrag leisten.

 

Mehr von Ellen Brombacher in den »Mitteilungen«: 

2012-06: Entscheidender Konsens: Das Parteiprogramm

2012-06: Verdienter Erfinder des Volkes?

2012-06: Wir wollen im Wesen das Gleiche

 

Mehr von Carsten Schulz in den »Mitteilungen«: 

2011-10: Nachtrag zu den Berliner Wahlen

2011-08: Grünen-Chef Özdemir für mehr Soldaten für Auslandseinsätze

2011-08: Was sie reden, Was sie tun: DIE GRÜNEN