»Responsibility to protect«
Prof. Dr. Norman Paech, Hamburg
Die letzten großen Kriege haben nicht nur viele Menschenleben gekostet, sondern auch das Arsenal ihrer Rechtfertigungen weitgehend erschöpft. Wenn es keine Grundlage in der UNO-Charta gibt, hat auch die Berufung auf die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen und den internationalen Terrorismus viel von ihrer Legitimationskraft verloren.
Die »humanitäre Intervention« zur »Rettung der Menschenrechte« konnte schon 1999 nicht von der Legalität der Bombardierung Jugoslawiens überzeugen. Alle US-Administrationen vor Obama haben aber auch niemals Zweifel daran aufkommen lassen, selbst gegen die UNO und die Charta ihre Interessen zu verfolgen – die Beispiele Jugoslawien 1999, Afghanistan 2001 und Irak 2003 zeugen davon. Sie können bei ihren offenen Völkerrechtsbrüchen immer eine Anzahl »williger« Staaten als Vasallen mit ins Feld führen. Dennoch werden die politischen Kosten immer höher, sei es durch den wachsenden Widerstand im eigenen Land oder die Schwierigkeiten, gewichtige Staaten im Kielwasser zu halten – dafür bieten die Kriege in Irak, Afghanistan und Libyen sowie die Kriegsdrohungen gegen Iran genügend Anschauungsmaterial. Auch der zunehmende Widerstand Russlands und Chinas gegenüber Washingtons »neuer Weltordnung« macht die Suche nach einem neuen Legitimationsrahmen dringlicher, mit dem die Veto-Sperre dieser beiden Staaten im UN-Sicherheitsrat überwunden werden kann.
So nutzte die US-Regierung den Terroranschlag auf das World Trade Center vom 11. September 2001, um mit dem internationalen Terrorismus die permanente Selbstverteidigung an allen Brennpunkten der Erde zu rechtfertigen. Seit zehn Jahren muss diese »Ermächtigung« nun schon von Afghanistan bis Somalia herhalten und kein Ende ist absehbar. Dieser zeitlich und territorial unbegrenzte Kriegseinsatz ist allerdings mit Art. 51 UNO-Charta, der die Selbstverteidigung definiert, nicht mehr zu begründen. Diese Art »Selbstverteidigung« findet im Völkerrecht keine Stütze mehr.
Zusätzlich wurde bereits im September 2002 in der »New Security Strategy« der USA die Bedrohung durch Massenvernichtungsmittel als weitere Legitimation für militärisches Eingreifen als »präventive Selbstverteidigung« erfunden. Sie soll präventives Eingreifen ermöglichen, um schon den Erwerb bzw. die Herstellung dieser Waffen zu verhindern und das Übel an der Wurzel auszurotten. Art. 51 UNO-Charta – »Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung …« – ist allerdings so formuliert, dass präventive Maßnahmen gerade ausgeschlossen sein sollen. Die US-Administration hat dennoch mit dieser Konstruktion versucht, ihren Angriff auf Irak zu begründen, scheiterte darin allerdings an ihren eigenen Fälschungen und Lügen. Damit schien es so, als hätte sie auch diese Legitimationsstrategie für ihre Kriegsdrohungen z.B. gegen den Iran weitgehend selbst entwertet. Doch wird sie in der aktuellen Konfrontation zwischen Israel und Iran immer wieder von der israelischen Seite für eventuelle Angriffe gegen iranische atomare Aufbereitungsanlagen herangezogen.
Ein zentrales Problem für die internationale Friedenssicherung lag darin, dass das zentrale Organ der UNO, welches mit der Friedenssicherung beauftragt ist, der Sicherheitsrat, in all den vergangenen Kriegsfällen entweder durch offene Umgehung oder durch Erpressung faktisch ausmanövriert wurde. Der Zwang zur Einstimmigkeit der fünf Veto-Mächte war das größte Hindernis für eine Kriegsentscheidung, die die USA in allen drei großen Kriegen (Jugoslawien, Afghanistan, Irak) erhalten wollte. Erinnern wir uns deshalb an den Vorstoß einiger Staaten, im Vorfeld des Irak-Krieges im Frühjahr 2003 die UNO-Generalversammlung mit den Kriegsplänen der USA zu befassen, da der Sicherheitsrat zu keiner Entscheidung finden konnte. Diese Möglichkeit hatten die USA während des Korea-Krieges selbst eröffnet, als die Sowjetunion den Sicherheitsrat blockierte. Anfang November 1950 hatte US-Außenminister Dean Acheson die berühmte Resolution 377 V von 1950, genannt »Uniting for Peace«, durchgesetzt, um die Generalversammlung an Stelle des gelähmten Sicherheitsrats mit den Fragen der Friedenssicherung zu befassen. In der Resolution heißt es: »In allen Fällen, in denen eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorzuliegen scheint und in denen der Sicherheitsrat mangels Einstimmigkeit der ständigen Mitglieder seine Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit nicht wahrnimmt, [wird] die Frage unverzüglich von der Generalversammlung behandelt [...], mit dem Ziel, den Mitgliedern geeignete Empfehlungen für Kollektivmaßnahmen zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu geben, die im Falle eines Friedensbruchs oder einer Angriffshandlung erforderlichenfalls auch den Einsatz von Waffengewalt einschließen können.«
Vor dem Hintergrund des eindeutigen Kräfteverhältnisses in der damaligen 59 Mitglieder umfassenden Generalversammlung war die Resolution für die Sowjetunion ein schwerer Rückschlag, da auf diesem Weg ihr Vetorecht außer Kraft gesetzt werden konnte. Sie protestierte seinerzeit heftig gegen diesen Bruch der UNO-Charta, wandte die Resolution in späteren Jahren jedoch selbst an (1956 Suezkrise). Heute gilt sie gewohnheitsrechtlich als eine Möglichkeit, die Generalversammlung mit Fragen der Friedenssicherung zu befassen, die an sich in den Kompetenzbereich des Sicherheitsrats gehören. Als dieser Weg jedoch 2003 zur Lösung der Irak-Krise vorgeschlagen wurde, intervenierten die USA bei allen Mitgliedstaaten der UNO mit der Aufforderung, gegen eine solche Resolution zu stimmen oder sich der Stimme zu enthalten. In dem Brief vom 18. März 2003 hieß es: »Angesichts der hoch angespannten Atmosphäre würden die USA eine Sitzung der Generalversammlung zum Irak als nicht hilfreich und gegen die USA gerichtet ansehen. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass diese Frage ebenso wie Ihre Haltung dazu für die Vereinigten Staaten wichtig ist.« Diese Warnung, ergänzt um den Hinweis, dass eine solche Entscheidung die UNO weiter schwächen würde, reichte aus, die Staaten von diesem Weg wieder abzubringen.
Seit einiger Zeit gewinnt ein neues Konzept die Gunst der Interventionspolitiker: Die »responsibility to protect« (Schutzverantwortung). Es tauchte z.B. bei den Überlegungen von Bush und Blair auf, die Regierung von Sudan mit militärischen Mitteln davon zu überzeugen, ihren Widerstand gegen einen umfassenden Einsatz von UNO-Truppen in ihrer Westprovinz Darfur aufzugeben. Das Konzept wurde in den Jahren 2000/2001 von der International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) entwickelt. Die Kommission war von der kanadischen Regierung eingerichtet worden, um einen Ersatz für die auch von UNO-Generalsekretär Kofi Annan verworfene »humanitäre Intervention« zu finden. Das Versagen der UNO in Ruanda und Srebrenica haftete wie ein Menetekel an den Wänden der Organisation. Die Kommission sprach sich für eine Interventionsmöglichkeit in extremen und außergewöhnlichen Fällen aus. Wenn z.B. ein Staat infolge Bürgerkriegs, eines Aufstandes, interner Unterdrückung oder schwerer Verletzung der Menschenrechte seine Bevölkerung nicht mehr vor großem Leid bewahren könne oder dies auch nicht wolle, greife die Verantwortung der Staatengemeinschaft ein. Das Prinzip der staatlichen Souveränität und territorialen Integrität müsse in diesen Fällen dem neuen Prinzip der Verantwortung weichen. Damit wird aus der responsibility allerdings noch kein Recht oder gar eine Pflicht zur Intervention für einzelne Staaten, wie es z.B. von der US-amerikanischen Völkerrechtlerin und Co-Direktorin des Princeton Project on National Security, Anne-Marie Slaughter, schon gefolgert wird.
Dissens im UN-Sicherheitsrat zur Legitimation militärischen Interventionen
Die Entscheidung zur Intervention ist nach wie vor dem Sicherheitsrat gem. Art. 42 UN-Charta vorbehalten, wenn er zu der Überzeugung kommt, dass die zu beklagende Situation »eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung« (Art. 39 UN-Charta) darstellt. Auch wenn das Konzept 2005 in einer Resolution der Generalversammlung anerkannt wurde, ist damit nur die Aufforderung an die Staaten verbunden, ihren Schutzverpflichtungen gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung gewissenhafter nachzukommen. Denn die Durchbrechung des absoluten Gewalt- und Interventionsverbots in der UNO-Charta ist weder durch einen Kommissionsbericht noch durch eine Resolution der Generalversammlung möglich. Dazu bedarf es entweder der Änderung der Charta mit einer Zweidrittel-Mehrheit der Mitgliedstaaten oder einer gewohnheitsrechtlichen Änderung, die jedoch nur durch eine dauerhafte Praxis der Staaten eintreten kann.
Der jüngste Krieg der NATO gegen Libyen hat erneut die Legitimation einer solchen militärischen Intervention zur zentralen Streitfrage gemacht. Ist es der Schutz der Bevölkerung in einer sozialrevolutionären Erhebung gegen einen längst überfälligen Diktator – so die offizielle Position der Regierungen und ihrer Medien. Oder ist es ein erneuter Kolonialkrieg, der primär auf die Sicherung der Ressourcen (Öl, Gas, Wasser) und der geostrategischen Position im neuen »scramble for Africa« (Wettlauf um Afrika) zielt? Ein weiteres Beispiel der »neuen Ära des Energieimperialismus«? Die Frage ist nicht einfach durch einen Verweis auf die beiden Resolutionen 1970 vom 26. Februar 2011 und 1973 vom 17. März 2011 des UN-Sicherheitsrats zu beantworten. Mit ihnen hat es allenfalls die juristische Legitimation für den Kriegsauftakt im März 2011 zum Schutz der Zivilbevölkerung und zur Einrichtung einer Flugverbotszone gegeben. Doch die Stimmenthaltung fünf wichtiger Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats (Brasilien, China, Deutschland, Indien, Russland) hat den Dissens innerhalb des Sicherheitsrats deutlich gemacht, der sich im Laufe der NATO-Aktionen noch verschärfte. Der Widerspruch zwischen der Kriegsführung der NATO-Staaten und dem Mandat, welches der UN-Sicherheitsrat für einen militärischen Einsatz in Libyen gegeben hatte, bestand von Anfang an. In Washington, Paris und London wurde ganz offen von dem Ziel gesprochen, das Regime Gaddafi zu beseitigen. Im UN-Sicherheitsrat konnte man sich nur auf ein Waffenembargo, die Einrichtung einer Flugverbotszone und den Schutz der Zivilbevölkerung einigen. Mit diesen Mitteln aber war kein »regime change« zu erreichen. So führte man einen Krieg gegen Gaddafi jenseits der vom Mandat gesetzten Grenzen und ohne völkerrechtliche Legitimation.
Der UN-Sicherheitsrat hatte in den Jahren zuvor durchaus bewiesen, dass er angesichts außergewöhnlicher akuter Notstände und humanitärer Katastrophen nicht handlungsunfähig ist. So reagierte er im Frühjahr 1991 auf die schweren, an Völkermord grenzenden Angriffe auf die Kurden im Norden des Irak durch Saddam Hussein mit der Resolution 688, die dem irakischen Regime den Zugang zu den kurdischen Gebieten verwehrte. Dies war ein schwerer Eingriff in die Souveränität des Irak und die erste Intervention des UN-Sicherheitsrats, die als eine »humanitäre Intervention« bezeichnet werden kann. Denn sie bezog sich auf eine rein innerstaatliche Situation, die vom Sicherheitsrat nur wegen der grenzüberschreitenden Flüchtlingsströme als eine Gefährdung des internationalen Friedens (gem. Art. 39 UN-Charta Voraussetzung für ein Tätigwerden) angesehen werden konnte. Der UN-Sicherheitsrat gab hier noch kein Mandat für ein militärisches Eingreifen, sondern sicherte nur einzelnen humanitären Organisationen den Zugang zu dem gefährdeten Gebiet.
Falsche Prämissen und von Anfang an intendierter Missbrauch
Weiter ging der Sicherheitsrat im Dezember 1992 mit seiner Resolution 794 angesichts des faktisch handlungsunfähigen Staates Somalia. Auch hier hat er einen internen humanitären Notstand als Bedrohung für den internationalen Frieden und die Sicherheit gewertet und gem. Art. 39 und 42 UN-Charta eine multinationale Truppe von 30.000 Soldaten unter Führung der USA zum militärischen Eingriff ermächtigt, um die Ordnung wiederherzustellen. Damit dehnte er den Begriff der »internationalen Friedensbedrohung« substantiell aus und erweiterte seine Kompetenz, auch in rein innerstaatliche Zustände eingreifen zu können. Die Mission scheiterte bekanntlich und die USA zogen sich unter entwürdigenden Umständen 1994 aus Somalia zurück. Das hinderte den Sicherheitsrat allerdings nicht, noch im gleichen Jahr der französisch geführten »Opération Turquoise« in Rwanda mit der Resolution 1992 ein militärisches Mandat zu geben. Auch dieses Mandat wurde vornehmlich mit dem Schutz Vertriebener, Flüchtlinge und Zivilisten begründet. Schließlich legitimierte der Sicherheitsrat mit seiner Resolution 940 vom Juli 1994 die Operation »Restore Democracy« unter Führung der USA in Haiti. Ziel war es, die unrechtmäßige Regierung zu beseitigen, was den Truppen diesmal gelang. Dies war zweifellos die weitestgehende Interpretation der »internationalen Friedensbedrohung« und die schwächste und am wenigsten überzeugende Begründung für militärische Maßnahmen.
Die Resolutionen 1970 und 1973 stehen in dieser Tradition »humanitärer Interventionen«. Die Kritik hat sich an den falschen Prämissen, an dem von Anfang an intendierten und absehbaren Missbrauch der Ermächtigung zu Zwecken, die weder die Resolutionen noch das Völkerrecht erlaubt, entfacht. Mag ein Diktator noch so brutal, abschreckend und langlebig sein, die Souveränität des von ihm beherrschten Staates schützt ihn vor ausländischen Interventionen, wenn er nicht den internationalen Frieden bedroht (Art. 39 UN-Charta) – und das konnte man von Gaddafi nicht behaupten.
Derzeit verweigern noch Russland und China ihre Zustimmung zu einer weiteren »humanitären Intervention« aus Gründen der »responsibility to protect« in Syrien. Doch werden die Stimmen immer lauter, den Rebellen schließlich auch ohne Mandat des Sicherheitsrats militärisch zu Hilfe zu kommen. Und es wird nicht wenige Stimmen geben, die einen solchen offenen und eindeutigen Bruch des Völkerrechts für legitim halten – so wie Verteidigungsminister de Maizière jüngst einen Angriff auf Iran für legitim erklärte. Dieser Bankrott des Rechtsbewusstseins sollte allerdings uns nicht veranlassen, UN-Charta und Völkerrecht ebenfalls nur nach für Festreden zu aktivieren. In diesen Dokumenten gibt es keine Ermächtigung zum Krieg aus »humanitären« Gründen oder aus »responsibility to protect«. Sie kodifizieren den Konsens der 193 Mitgliedstaaten der UNO, auf den sie sich verpflichtet haben und aus dem sie nicht entlassen werden dürfen.
Mehr von Norman Paech in den »Mitteilungen«:
2012-07: Die Cuban Five