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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Programm ohne Analyse?

Thomas Hecker, Berlin

 

Liebe Genossinnen, liebe Genossen, im Februar 2010 trafen sich in New York Vertreter der fünf weltweit mächtigsten Hedgefonds und verabredeten – bei einem Essen – auf den fallenden Euro zu setzen. Seither sind Wochen unerhörter Spekulationen vergangen. Niemand vermag zu sagen, ob der Euro überlebt, aber jedermann kann wissen: Ob er überlebt oder nicht – für Abermillionen, nicht nur Europäer, wird die gegenwärtige Situation soziale Verwerfungen unerhörten Ausmaßes nach sich ziehen. Verabredet bei einem Essen! Entspricht das keinem, ich zitiere jetzt Stefan Liebich und Inga Nitz, "Horrorszenario der Welt"? Können wir die Frage im Antrag des Parteivorstandes G.01, "Wie wollen wir morgen leben", beantworten, ohne zuvor im Programmentwurf das Heute zu analysieren?

In Äußerungen von Inga und Stefan, von Klaus Lederer und Petra Pau, wird die im Programmentwurf vorgenommene Analyse grundsätzlich in Frage gestellt, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen, so heißt es, sei "die Beschreibung [der Realität] in einem solchen Maße vereinfacht, […] daß sie nicht mehr mit dem Erfahrungswissen von größeren Wählerschichten übereinstimmt, oder in der Konsequenz Veränderungspotentiale in der Gegenwart unberücksichtigt gelassen werden".

Laßt uns über die Veränderungspotentiale in einem System diskutieren, in dem letztlich der Profit alles bedeutet, und die Menschen und die Umwelt nur noch wenig – oder, wie in anderen Erdteilen – gar nichts mehr. Und laßt uns in der bevorstehenden Programmdebatte vor allem über die sozialen Erfahrungen sehr vieler Menschen reden. Nicht nur Funktionsträger der Partei und der Rosa-Luxemburg-Stiftung sollten öffentlich zu Wort kommen. Zu Wort kommen muß vor allem die Basis als ein Spiegel der Gesellschaft. Die Programmkommission und der neu zu wählende Vorstand könnten sich alsbald in einem offenen Brief an alle Basisorganisationen der Partei wenden, mit der Bitte, Meinungen zum Entwurf zu übermitteln. Die KPF wird einen entsprechenden Antrag an den Parteivorstand stellen.

Liebe Genossinnen, liebe Genossen, zurück zur Infragestellung der Gegenwartsanalyse durch das fds. Zum anderen wird gesagt, der Entwurf zeige, daß es in der LINKEN zwei Annäherungen an die gesellschaftliche Realität und politisch-programmatische Perspektiven gäbe. Die eine Sicht hielte erst die Verwirklichung von Sozialismus für notwendig, bevor Verbesserungen [...] ermöglicht würden [...]. Die andere, reformerische Sichtweise gehe von einem Prozeß aus, in dem sich Demokratie entfalten und Freiheit und Selbstbestimmung als Bedingung eines demokratischen Sozialismus gelten würde.

Hier handelt es sich wohl um ein Mißverständnis. Der Entwurf verweist nicht, wie Klaus Lederer es formulierte, auf das Jenseits. Er verzichtet mitnichten auf einen politischen Gestaltungsanspruch, der im Hier und Jetzt wurzelt. Er glorifiziert auch nicht den Protest. Wir würden ja so gerne den Chefs der fünf Hegdefonds sagen: Besprecht beim Essen, wie ihr die Welt rettet – nicht, wie ihr Griechenland und Europa kaputt spielt. Wir fürchten nur, daß die das einfach nicht machen und den Menschen, die von deren vernichtenden Manipulationen betroffen sind und sein werden, nichts anderes bleibt als der Protest, und zwar in ganz anderen Dimensionen als wir ihn heutzutage erleben. Protest für unabdingbar zu halten, bedeutet nicht, auf andere Facetten der Schadensbegrenzung zu verzichten.

Der Programmentwurf widerspiegelt die ganze Breite der Möglichkeiten linker Politik; er macht Massenbewegungen nicht zur einzigen Voraussetzung für politische Gestaltung. Allerdings verbreitet er auch keine Illusionen. Aber muß man denn – wenn man es für außerordentlich wichtig hält, daß ein LINKEN-Bürgermeister alles Denkbare für die Menschen in seiner Kommune tut – die Bedingungen schönen, unter denen er kämpft? Realistische Politik zu betreiben, erfordert doch nicht, die Realität zu verkennen, sondern sie vielmehr zum Ausgangspunkt des Handelns zu machen – abgeleitet von den Interessen jener, deren Hoffnung auf Sozialistinnen und Sozialisten beruht, weil sonst kaum jemand sich für die Lage der vom Kapitalismus Erniedrigten und Beleidigten interessiert. Viele von ihnen treibt das Problem um, was weiter auf sie zukommt – in Anbetracht der noch vor wenigen Jahren unvorstellbaren Unsicherheiten, die die Welt von heute charakterisieren, auch in puncto Krieg und Frieden. Die damit verbundenen Ängste werden nicht dadurch relativiert, daß der Kapitalismus zu technischen Innovationen gewaltigen Ausmaßes in der Lage ist. Daß dieser Fortschritt die Reichen immer reicher macht und die Armen immer elender – das ist das für Sozialisten entscheidende Problem. Deshalb geht es letztlich – ich betone letztlich – um den Systemwechsel. Über solche und andere Fragen ist in der Partei ein heftiger Streit entbrannt. Die Benennung dieser aktuellen Debattensituation gehört in einen Leitantrag. Ich verweise daher besonders auf den [in der Abstimmung zum Leitantrag abgelehnten – Red.] Änderungsantrag G.01.11.

Dieser für die Rostocker Tagung des 2. Parteitages der Partei DIE LINKE vorbereitete Diskussionsbeitrag konnte wegen der knappen Diskussionszeit bei ausgeloster Reihenfolge der Rednerinnen und Redner nicht gehalten werden.

 

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2008-06: Daß Nazis heute wieder frei herumlaufen, ist unfaßbar