Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Pogrom 1938

Rudolf Hirsch und Rosemarie Schuder, aus: "Der gelbe Fleck"

In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 brannten im Deutschen Reich fast alle Synagogen. Es wird geschätzt, daß zwanzigtausend jüdische Menschen, meist wohlhabende, aus ihren Wohnungen herausgeholt und in die Konzentrationslager gebracht wurden. Die Wohnungen und Geschäfte wurden zerstört und geplündert. Viele der Entrechteten begingen Selbstmord.

Wie es nach dieser Nacht in den Konzentrationslagern zuging, hat Emil Carlebach, ein langjähriger Redakteur der Frankfurter Rundschau und später Mitglied des Hauptvorstandes der KPD, als Zeuge der Zeit erlebt und geschildert. Er war schon seit 1933 in Buchenwald inhaftiert.

"Bei ihrem Einmarsch stand die SS, mit Knüppeln und Peitschen bewaffnet, an der Straße von Weimar Spalier, so daß nur ganz wenige unverletzt das Lager erreichten. Die von blutigen Gepäck- und Kleidungsstücken bedeckte Straße, auf der zahlreiche Verwundete lagen, glich einem Schlachtfeld ... 70 jüdische Häftlinge wurden in Folge der furchtbaren Quälereien wahnsinnig. Man warf sie vorläufig in einen Holzverschlag. Von dort wurden sie nach einiger Zeit gruppenweise in den Bunker überführt und von SS-Hauptscharführer Sommer erschlagen."

In den folgenden Wochen wurden weitere Hunderte in den Konzentrationslagern umgebracht, zu Tode geprügelt, entkräftet oder zum Selbstmord getrieben. Dann wurden Übriggebliebene entlassen, ausgeplündert und erpreßt, wurden sie gezwungen, völlig mittellos in die Emigration zu gehen.

Im Heydrichschen SD(Sicherheitsdienst)-Bericht wurde behauptet, es seien nur einundneunzig Tötungen im Verlauf des Pogroms vorgekommen. Die tatsächliche Zahl ist unbekannt, sie liegt wesentlich höher. Gegen keinen der Mörder wurde ein ordentliches Gerichtsverfahren durchgeführt. Alle Fälle wurden dem Naziparteigericht überwiesen. Es bestätigte den Mördern, daß sie aus "anständiger nationalsozialistischer Gesinnung" über das Ziel hinausgeschossen seien. Einige erhielten eine Verwarnung, anderen, die sich zu schamlos bereichert hatten, wurde die Ämterfähigkeit auf drei Jahre aberkannt. Ganz offiziell also wurde der Mord für erlaubt erklärt. [...]

Die Nazis hatten einen willkommenen Anlaß für diesen Pogrom: die Erschießung des Legationssekretärs der Deutschen Botschaft in Paris, Ernst-Eduard vom Rath, durch einen jungen siebzehnjährigen Mann, Herschel Grynspan, einen polnischen Staatsangehörigen.

Die Familie Grynspan hatte lange Jahre in Hannover gewohnt, der Sohn Herschel war dort geboren. Doch sie hatten versäumt, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben. Der Sohn war schon ausgewandert, lebte in Paris – allerdings illegal –, als er erfuhr, daß in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, am 29. Oktober 1938, seine Verwandten, sein Vater, seine Mutter und seine beiden Geschwister, mit siebenundzwanzigtausend anderen jüdischen Menschen polnischer Staatsangehörigkeit plötzlich aus ihren Wohnungen geholt und ohne Vorankündigung nach Polen abgeschoben worden waren. Die polnische Obristen-Regierung, eine Diktatur mit stark antisemitischen Tendenzen, hatte kurz zuvor eine Verordnung erlassen, in der polnischen Staatsangehörigen – und das betraf meist Juden –, die längere Zeit im Ausland gelebt hatten, die polnische Staatsangehörigkeit aberkannt werden sollte. Sie mußten ihre Pässe zur Abstempelung oder zur Einziehung den polnischen Konsulaten vorweisen. Die polnischen Behörden ließen diese bedauernswerten Menschen nicht in das Land hinein. Tagelang, oft wochenlang, irrten sie ohne Nahrung, ohne hygienische Fürsorge im Niemandsland zwischen den beiden Grenzen umher.

Die unerhörte Brutalität gegen seine Leidensgenossen, vor allem auch die eigene Familie, empörte den jungen Herschel so, daß er sich zu einem Attentat entschloß. Er wollte den deutschen Botschafter in Paris erschießen. Er konnte aber nur den Botschaftssekretär vom Rath sprechen. Auf ihn richtete er seine Pistole, ihn erschoß er.

Herschel Grynspan ließ sich ohne Zögern von der französischen Polizei festnehmen und erläuterte dort die Motive seiner Tat.

Es gibt Anzeichen, daß dieser Verzweiflungsakt des Herschel Grynspan gefördert, daß ihm die Pistole in die Hand gedrückt wurde. Eines dieser Anzeichen ist: Herschel Grynspan, der bei der Besetzung von Paris den Nazibehörden in die Hände fiel und in die Gefängnisse der Gestapo kam, sollte vor den Volksgerichtshof gebracht werden. Aber der Prozeß kam nie zustande. Immer wieder bewirkten Interventionen vom Reichssicherheitshauptamt, also von Himmler, seine Vertagung. Goebbels hingegen, also das Reichspropagandaministerium, wollte unbedingt die Durchführung.

Das weitere Schicksal des Herschel Grynspan liegt im dunkeln.

Auf jeden Fall, der Naziregierung kam diese Tat gelegen. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß man eine Großaktion plante. Man wollte etwas demonstrieren. [...]

Warum [...] gehandelt werden mußte, [...] ist von Hitler erklärt worden. Auf seiner Rede am 10. November 1938 vor den "Schriftleitern" der "Deutschen Presse": "Die Umstände haben mich gezwungen, jahrzehntelang nur vom Frieden zu reden. Nur unter der fortgesetzten Betonung des deutschen Friedens und der Frie­densabsichten war es mir möglich, dem deutschen Volk Stück für Stück die Freiheit zu erringen und ihm die Rüstung zu geben, die immer wieder für den nächsten Schritt als Voraussetzung notwendig war. Es ist selbstverständlich, daß eine solche jahrzehntelang betrie­bene Friedenspropaganda auch ihre bedenklichen Seiten hat... Es war nunmehr notwendig, das deutsche Volk psychologisch ein wenig umzustellen und ihm langsam klarzumachen, daß es Dinge gibt, die, wenn sie nicht mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden können, mit Mitteln der Gewalt durchgesetzt werden müssen. Dazu war es aber notwendig, nicht etwa nun die Gewalt als solche zu propagieren, sondern es war notwendig, dem deutschen Volk bestimmte au­ßenpolitische Vorgänge so zu beleuchten, daß die innere Stimme des Volkes selbst langsam nach der Gewalt zu schreien begann. Das heißt also, bestimmte Vorgänge so zu beleuchten, daß im Gehirn der breiten Masse des Volkes ganz automatisch allmählich die Überzeugung ausgelöst wurde: Wenn man das eben nicht im Guten abstellen kann, dann muß es eben mit Gewalt abgestellt werden; so aber kann es auf keinen Fall weitergehen. Diese Arbeit hat Monate erfordert, sie wurde planmäßig begonnen, planmäßig fortgeführt, verstärkt. Viele haben es nicht begriffen, meine Herren; viele waren der Meinung, das sei doch alles etwas übertrieben. Das sind jene überzüchteten Intellektuellen, die keine Ahnung haben, wie man ein Volk letzten Endes zu der Bereitschaft bringt, geradezustehen, auch wenn es zu blitzen und zu donnern beginnt."

Sie wußten, was sie taten und wie sie es taten.

In diesem Pogrom von 1938 wurde deutlich: Was wir wollen, setzen wir mit Gewalt durch. Wir sind die Herrenrasse. Die anderen sind zum Dienen geboren, auf der letzten Stufe stehen dabei die Juden. Wir setzen uns über jede humanitäre Regung hinweg. Und so wird es gemacht, erst im Inneren und dann, wenn es zu blitzen und zu donnern anfängt, auch im Äußeren.

Wie genau diese Absicht von der Kommunistischen Partei erkannt wurde, geht aus einer Erklärung vom November 1938 hervor: "Getreu den stolzen Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung, im wahren Geist der größten deutschen Dichter und Denker hebt die Kommunistische Partei Deutschlands ihre Stimme gegen die Judenpogrome Hitlers, die vor der gesamten Menschheit die Ehre Deutschlands mit tiefster Schmach belegt haben.

Es ist eine elende Lüge, daß die Pogrome ein Ausbruch des ‚Volkszorns’ gewesen seien. Sie wurden von langer Hand vorbereitet, befohlen und organisiert allein von den nationalsozialistischen Führern ... Immer in der Vergangenheit hat die Reaktion, wenn sie ein Volk aufs Schlimmste ausplünderte und die Erbitterung des Volkes fürchtete, sich der schmutzigen Mittel der Judenhetze und der Pogrome zum Zwecke der Ablenkung von den wahren Schuldigen am Volkselend bedient.

Die Kommunistische Partei wendet sich an alle Kommunisten, Sozialisten, Demokraten, Katholiken und Protestanten, an alle anständigen und ehrbewußten Deutschen mit dem Appell: Helft unseren gequälten jüdischen Mitbürgern mit allen Mitteln ... Die deutsche Arbeiterklasse steht an erster Stelle im Kampf gegen die Judenverfolgungen. Gegen die mittelalterliche barbarische Rassenhetze bekennt sie sich mit allen aufrechten Deutschen zum Wort Johann Gottlieb Fichtes von der ‚Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt’."

Der gelbe Fleck. Von Rudolf Hirsch und Rosemarie Schuder, Verlag Rütten & Loening Berlin 1987, 1. Auflage 1989, S. 623-629