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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Paris ist frei!

Horsta Krum, Berlin

 

»Ich habe nie einen seltsameren und schöneren Vorbeimarsch gesehen. Er hatte nicht die strenge Gliederung und den Aufwand der großen Truppenschauen. Zuallererst erinnerten diese bunten Wagen, die mit sonderbaren Zeichen und Streifen weißer Farbe bedeckt waren, an einen etwas dürftigen Karneval, einen Kriegskarneval. Auf kleinen Lastwagen zogen Männer und Frauen langsam vorüber, wie auf den großen Wagen am Karnevalsdienstag. Nur hielten sie in ihren Händen Gewehre, Handgranaten, Revolver« Die Menge klatscht Beifall, ruft, singt »F.F.I.« (Forces Francaises de l'Intérieur), »sie spürte, dass es nicht nur darum ging, die Deutschen aus Frankreich zu verjagen, sondern darum, einen härteren und geduldigeren Kampf um die Eroberung einer neuen Ordnung zu beginnen.« [1]

Das ist der 26. August 1944

Die Stimmung muss ähnlich gewesen sein wie im Sommer vor 155 Jahren, als das Volk von Paris die Bastille stürmte. Auch damals hatte die Hauptstadt einen langen, harten und dunklen Winter durchlebt, die Menschen hungerten, wussten nicht, wie sie weiterleben könnten - und lehnten sich auf.

Am 18. August 1944 rufen Gewerkschaften zu Streiks auf, die Widerstandsbewegung, die »Résistance« verkündet den Aufstand. Die Polizeipräfektur wird von französischen Polizisten besetzt; bewaffnete Gruppen der Résistance (F.F.I.) greifen die deutschen Besatzer an. Sie reißen die roten Plakate herunter, die Geiselnahmen und Erschießungen bekanntgeben, ersetzen sie durch neue Plakate, verteilen Flugblätter, errichten Barrikaden gegen die deutschen Besatzer, teilen Waffen aus. Immer mehr Pariser, auch solche, die bis dahin unpolitisch zurückhaltend gewesen sind, schließen sich allmählich an: helfen beim Barrikadenbau, verteilen Getränke und Brot, malen ein großes V (victoire, Sieg) mit dem lothringischen Kreuz, dem Symbol der Résistance, an Wände und auf die Straße. Frauen tragen Kleidung in den Nationalfarben blau-weiß-rot, Männer tragen diese Farben irgendwo an ihrer Kleidung.

Für konservativ-nationalistische Pariser, die der Résistance skeptisch gegenüberstehen und auf eine Vereinbarung mit Vichy hoffen, kommt das Signal zum Aufstand zu früh. [2] Aber die meisten sind erleichtert, wachen auf aus ihrer lähmenden, bleiernen Angst, denn ein Ende der über vier Jahre dauernden Besatzung ist in Sicht.

Unter den acht Millionen Bewohnern des nördlichen Frankreich, die im Mai 1940, als Hitler-Deutschland den »Blitzkrieg« begann, nach Süden flüchteten, waren auch drei Fünftel der Pariser Bevölkerung. Sie alle flüchteten irgendwohin, um nur nicht den Deutschen in die Hände zu fallen.

Sie wurden von der deutschen Luftwaffe beschossen, gerieten zwischen die Fronten, kamen irgendwo an, wo es weder Platz noch Nahrung gab. Geschäfte, Bauernhöfe wurden geplündert von den Starken, die Schwachen lagen im Straßengraben, rafften sich auf, um weiterzugehen, unter ihnen französische Soldaten in Zivilkleidung. Tote, deren Namen niemand kannte, wurden schnell bestattet. »Ein Wind von Wahnsinn weht über Frankreich!« [3]

Regierung und Armeeführung waren ratlos. Der neue Regierungschef Marschall Philippe Pétain ließ sich von Deutschland ein Waffenstillstandsabkommen diktieren, das am 25. Juni in Kraft trat: Der nördliche und östliche Teil, knapp zwei Drittel des Landes, einschließlich Paris, wurden Besatzungsgebiet; der südwestliche Teil hieß offiziell »freie Zone«. Dass die Regierung der »freien Zone« unter Pétain, die Vichy-Regierung, keineswegs frei war, sondern zunehmend deutschen Interessen dienen musste, zeigte sich bereits am Anfang: so legte das Abkommen u.a. fest, dass die französische »freie« Regierung die Kosten der deutschen Besatzung tragen musste (etwa die Hälfte des Staatshaushaltes), von der Gestapo benannte deutsche Staatsbürger auslieferte, u.a. Rudolf Breitscheid.

Versprengte Militärs und Zivilisten, die den Waffenstillstand ablehnten, fanden sich zusammen. Noch bevor das Abkommen unterzeichnet war, begann der Widerstand: Flugblätter gegen die Deutschen, gegen die Vichy-Regierung und der erste Sabotageakt gegen die Wehrmacht.

Seit dem 14. Juni ist die Hauptstadt von deutschen Truppen besetzt. Die Lichterstadt Paris wird dunkel: geschlossene Cafés, verhängte Fenster. Mindestens vierzehn Einwohner begehen Selbstmord. Die Pariser, die während der kommenden Tage auf der Straße sind, lassen alle möglichen Reaktionen erkennen: »Ungläubiges Erstaunen, Scham, Entsetzen, stolze Trauer, Neugier, Erleichterung, Abneigung. Alles stimmt«, auch erste Annäherungsversuche. Viele Pariser sehen durch die Uniformierten hindurch, als seien sie nicht vorhanden. [4]

Der Unterstaatssekretär im Kriegsministerium, Charles de Gaulle, verlässt Paris sofort. Wenige Stunden, nachdem Pétain im Radio die französische Bevölkerung um Zustimmung und Ruhe bittet, hält de Gaulle am 18. Juni über den Londoner Rundfunk seine erste Rede an die Franzosen: »Ist unsere Niederlage endgültig? Nein! Glaubt mir, der ich mich in diesen Dingen auskenne und Euch sage : Nichts ist verloren für Frankreich. Was unsere Niederlage herbeigeführt hat, kann uns eines Tages zum Sieg verhelfen.« [5]

Am 10. Juli äußert sich die Kommunistische Partei: »... Wer kann Frankreich wieder aufrichten? Nicht die geschlagenen Generäle, nicht die Geschäftemacher, nicht die ratlosen Politiker. Sie taugen nur dazu, Frankreich zu verraten und zu verkaufen. Auch die korrupten Kreise des Kapitalismus können die nationale Wiedergeburt nicht herbeiführen. Nein, Träger der wirklichen Hoffnung auf nationale und soziale Befreiung ist das Volk ...« [6] Andere Proteste gegen die neue Regierung folgen.

In Paris haben die Deutschen die wichtigsten und schönsten Gebäude besetzt und mit Hakenkreuz-Fahnen versehen. Zur großen Überraschung und zur Erleichterung der Pariser Bevölkerung verhalten sich die deutschen Besatzer korrekt, sogar höflich - bis zum ersten Attentat auf einen deutschen Offizier im August 1941.

Danach folgen in steigendem Maße Repressionen, Geiselnahmen, Erschießungen, neue Attentate, überall im besetzten Frankreich. Nahrungsmittel, Heizungsmaterial usw. werden knapp, immer knapper, besonders in den großen Städten.

De Gaulle agiert von London und dann auch von Algerien aus. Er proklamiert das »Freie Frankreich« und arbeitet am Widerstand von außen, zusammen mit französischen Militärs und Zivilisten. Sie gründen die militärische Formation der »Forces françaises libres«, der sich Männer aus Frankreich und den Kolonien anschließen. Der englische Premierminister Winston Churchill und seine Regierung unterstützen ihn weitgehend und erkennen ihn an als Chef des »Freien Frankreich«, auch wenn ein kleines gegenseitiges Misstrauen nie ganz verschwand. [7]

An diesem 26. August 1944 ist es keineswegs selbstverständlich, dass die bewaffneten Einheiten der Résistance geschlossen am Triumphzug teilnehmen. Kamen sie doch aus ganz unterschiedlichen Traditionen: vom konservativ-nationalistischen, dem »patriotischen« Flügel bis zum kommunistischen Flügel, der de Gaulle offen oder verhalten kritisierte. Aber Maurice Thorez, der frühere Generalsekretär, der nach Moskau geflohen war, hatte die Partei im April 1941 angewiesen, gemeinsam mit anderen Widerstandsgruppen für die Unabhängigkeit Frankreichs zu kämpfen. [8] Im Februar 1943 führte Jean Moulin, die wichtigste Persönlichkeit der Résistance, die verschiedenen Gruppen und Bewegungen zusammen. [9]

Es ist keineswegs selbstverständlich, dass General Leclerc mit seinen Leuten aus der 2. Panzerdivision des »Freien Frankreich« an diesem Triumphzug teilnimmt. Zwar hatten die Alliierten ihn angewiesen, von Süden aus in Richtung Paris vorzurücken, aber am Triumphzug sollte er nicht teilnehmen. De Gaulle, der diesen Tag als nationales Ereignis - würdig der Erstürmung der Bastille - genau vorbereitet hatte, befahl ihm, die Anordnung der Alliierten zu ignorieren.

Es ist keineswegs selbstverständlich, dass de Gaulle als Chef der provisorischen Regierung in die befreite Hauptstadt einzieht. Der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt will seit Jahren aus Frankreich eine alliierte Besatzungszone machen. [10] Seit die USA im Dezember 1941 in den Krieg eingetreten sind, hat Roosevelt konsequent versucht, de Gaulle an die Seite zu drängen und die Bedeutung der Résistance zu negieren. De Gaulle seinerseits schickte sofort einen Bevollmächtigten in das Gebiet der Normandie, das nach der Landung der Alliierten als erstes befreit war. Er selber begab sich am 14. Juni zum ersten Mal wieder auf französisches Territorium, in die befreite Stadt Bayeux, die ihm einen enthusiastischen Empfang bereitete. Die amerikanischen und französischen Historiker sind sich uneinig, wann genau Roosevelt seine Pläne fallen ließ. Sicher ist, dass der ranghöchste amerikanische Militär, Dwight D. Eisenhower, der auch die Landung in der Normandie befehligte, dabei eine Rolle spielte.

Es ist keineswegs selbstverständlich, dass der Triumphzug, wie geplant, stattfinden kann, denn es wird immer noch geschossen, mehr als hundert Pariser Zivilisten werden in diesen Tagen getötet. Auch auf den Triumphzug wird geschossen.

Es ist keineswegs selbstverständlich, dass es Paris überhaupt noch gibt. Hitler hatte befohlen, die Stadt zu zerstören, um sie nicht in die Hände der Alliierten fallen zu lassen. Am 23. August, einen Tag, bevor die ersten Soldaten von Leclerc in Paris ankommen, wiederholt er: »Paris darf nicht oder nur als Trümmerfeld in die Hände des Feindes fallen.« Der Befehlshaber von Paris, General Dietrich von Choltitz, führt diesen Befehl nicht aus und unterzeichnet am 25. August die Kapitulation. Bis dahin regierte die Angst, dass Paris das gleiche Schicksal erleiden würde wie Warschau.

Wer hat Paris befreit?

»Wenn man heute nicht verkündet, dass Paris sich selbst befreit hat, gilt man als Volksfeind. Dabei scheint es offenkundig, dass die Stadt nicht einmal im Traum daran hätte denken können, sich zu erheben, wären die Alliierten nicht ganz nahe gewesen. Und da die ihrerseits nicht einmal im Traum an eine Landung hätten denken können, hätten nicht die Russen den größten Teil der deutschen Divisionen aufgehalten und geschlagen, so muss man wohl den Schluss ziehen, dass die Befreiung von Paris, als Episode eines weltweiten Krieges, das gemeinsame Werk aller alliierten Kräfte gewesen ist.« [11]

 

Anmerkungen:

[1] Jean-Paul Sartre, Paris unter der Besatzung. Dieses Büchlein entstand im August/September 1944, weil Albert Camus, der Chefredakteur der Résistance-Zeitschrift »Combat«, Sartre gebeten hatte, seine Beobachtungen aufzuschreiben. Die Zitate sind der deutschen Erstausgabe von 1980 entnommen, (S. 32f).

[2] Jacques Bardoux, La délivrance de Paris (1958), S. 348.

[3] Henri Amouroux, La vie des Francais sous l'occupation (1961), S. 35.

[4] Ebenda, S. 31.

[5] Charles de Gaulle, Mémoires de guerre, Bd. I (1954), S. 329.

[6] Vollständiger Originaltext im internet »appel du 10 juillet 1940«, abgerufen am 18. Juli 2014 von vivelepcf.fr/438/lappel-du-10-juillet-1940-de-duclos-et-thorez.

[7] Einer traute dem anderen Hintergedanken taktischer und strategischer Art zu: Jean-Louis Crémieux-Brilhac, De Gaulle, la République et la France Libre (2014), S. 473ff.

[8] 1944/45 warnten Stalin und Thorez die Kommunisten Frankreichs vor dem Versuch, sich militärisch durchzusetzen und das Land zu destabilisieren: Crémieux-Brilhac, a.a.O., S. 371.

[9] In London legte er de Gaulle im September 1941 eine Studie über die verschiedenen Bewegungen und Gruppen der Résistance vor und entschloss sich, trotz anfänglichen Zögerns, mit de Gaulle eng zusammenzuarbeiten. Zwar ist Moulin überzeugt, dass die alten politischen Strukturen überlebt sind, integriert aber, in Übereinstimmung mit de Gaulle, Vertreter der politischen Parteien und Gewerkschaften, um ein Chaos oder gar einen Bürgerkrieg nach der Befreiung zu vermeiden. Moulin wurde im Juni 1943 durch die Gestapo verhaftet, grausam gefoltert und starb auf dem Transport nach Berlin.

[10] Das Geld für die französische Besatzungszone war schon hergestellt und in der Normandie verteilt!

[11] Sartre, a.a.O., S. 59.

 

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2014-07: Der 14. Juli 1789

2014-03: Die Bilderverbrennung

2014-01: Die Bilder sind unter uns