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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Otto von Bismarck und deutsche Außenpolitik

Dr. Jochen Willerding, Rangsdorf

 

Vor wenigen Tagen beschloss eine Bundesregierung »erstmalig in der Geschichte der Bun­desrepublik« eine sogenannte Nationale Sicherheitsstrategie. Und es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass die derzeitige Leiterin des federführenden Auswärtigen Amtes den Namen Otto von Bismarck und damit die bürgerliche Rückbesinnung auf den Begründer einer nachhaltigen deutschen Außenpolitik aus den Räumen ihres Amtes verbannte.

Wenn das mal kein Anlass ist, vor dem Hintergrund der heutigen politischen Herausforde­rungen der BRD über den Eisernen Kanzler [1] nachzudenken!

Für Interessenausgleich nach innen und außen

Natürlich war Bismarck ein Kind der Eliten seiner Zeit, ein Adliger, ein ostelbischer Junker, ein konservativer Monarchist. Seine Innenpolitik war bestimmt vom Kampf gegen die mit dem Industrieproletariat aufstrebende Sozialdemokratie. Die Sozialistengesetze jener Zeit klingen heute noch nach. Zugleich begründete er jedoch etwas, was man heute Sozialpoli­tik nennen würde. In den Jahren seiner Kanzlerschaft schuf er eine Krankenversicherung, eine Unfallversicherung und eine Invalidenversicherung sowie die (uns auch heute geläufi­ge) beitragsfinanzierte Rentenversicherung. »Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzuse­hen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte«, waren seine Worte. Eigent­lich ging es ihm trotz der Niederlage der bürgerlich-demokratischen Revolution 1848/49 eher um einen Kompromiss zwischen Adel und Bürgertum. Er nannte es schlichter »Bünd­nis zwischen Rittergut und Hochofen«. Ganz sicher wollte er auch auf diesem Wege den Sozialisten den Wind aus den Segeln nehmen. Ein sozial-ökonomischer Fortschritt war es in jener Zeit allemal. Und zugleich auch ein erster Sieg der sozialistischen Bewegung, aner­kannte doch der oberste Vertreter der herrschenden Klassen quasi den Wert der Ware Ar­beit und die Zweckmäßigkeit dessen stetiger Erhöhung. Dies war ein bisher nicht dagewe­senes, sozial-ökonomisch fortschrittliches Herangehen, das mit dem aufstrebenden Indus­triekapitalismus (sehr) langsam, aber stetig zur gesellschaftlichen Erkenntnis wurde.

Die wohl größte Leistung Bismarcks jedoch war die Zusammenführung der deutschen Kleinstaaten zu einem Nationalstaat, dem Deutschen Reich. Auch hier geschah dies mit politisch-militaristischem Druck von oben, aber auch der nachfolgenden Anerkennung der Interessen anderer Nationalstaaten. Der politische Druck manifestierte sich in den drei so genannten Einigungskriegen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich. Es war eine mili­taristische Vereinigung mit »Blut und Eisen«. Es entstand ein Staat mit einheitlicher Zoll- und Steuergesetzgebung, der deutschen Beamtenschaft und dem wohl größten Binnen­markt, den Europa bis dato kannte. Aus der Lage des neu entstandenen, zentral gelegenen und politisch wie wirtschaftlich den älteren (Groß-) Mächten ebenbürtigen deutschen Nati­onalstaates auf dem europäischen Kontinent entwickelte der Kanzler eine Außenpolitik, die tendenziell auf Stabilität und Balance ausgerichtet war.

So mancher meint, diese Entwicklung habe ihre Ursachen in Bismarcks Ängsten vor einer Einkreisung durch die älteren Großmächte, insbesondere den »Erbfeind« Frankreich sowie Russland, oder gar vor einer sozialistischen Weltrevolution. Vielleicht ist dies übertrieben, aber vorstellbar ist schon, dass der neu entstandene Koloss in Mitteleuropa von den alten Großmächten und Kolonialstaaten misstrauisch beäugt wurde. Und machte sich doch vor allem der Kaiser für ein eigenes deutsches Kolonialreich stark, das sich ganz bestimmt auf Kosten der Großbritanniens und Frankreichs herausbilden würde.

Wie dem auch sei, aus dieser Gesamtkonstellation entwickelte Bismarck eine wirklich ers­te außenpolitische Strategie, die sich deutlich vom Streben Kaiser Wilhelms II. nach dem berüchtigten »Platz an der Sonne« abhob. Im Januar 1887 führte er im Reichstag aus: »Wir gehören zu den saturierten Staaten. Wir haben keine Bedürfnisse, die wir durch das Schwert erkämpfen könnten.« Natürlich ging der neue Staat aus in drei Kriegen »erkämpf­ter« Stärke hervor. Die daraus bei Bismarck erwachsene Erkenntnis für den Umgang Deutschlands mit seinen Nachbarn ist umso erstaunlicher und zugleich wegweisend. Bemühte er sich doch in seiner Kanzlerschaft bis 1890 um ein Bündnissystem, das aus Freundschaftspakten, Rückversicherungsverträgen und Neutralitätsverpflichtungen be­stand. Sein Ziel war der Ausgleich mit den Nachbarn, unmöglich ohne die Anerkennung und den Respekt vor deren Interessen. Unmöglich aber auch ohne die präzise Definition der eigenen Interessen, wie in der erwähnten Reichstagsrede geschehen. Und das ist auch schon der Kern der Bismarck’schen Außenpolitik, seiner Strategie.

Ideologisierung und blutige Nasen

Nach seiner Abdankung im Jahr 1890 setzte sich allerdings die Linie des Kaisers durch. Die Außenpolitik wurde zunehmend ideologisiert, Ideologie in Eigeninteressen umfunktio­niert, die Interessen anderer zunehmend negiert. Dies machte es anderen Großmächten aber auch möglich, den entfachten Expansionsdrang des Deutschen Kaiserreiches in die östliche Richtung zu steuern. Hatte sich Napoleon Bonaparte 1812 vor Moskau noch eine blutige Nase geholt, kam Frankreich (und natürlich Großbritannien) um die Jahrhundert­wende ein Stellvertreter für die Eroberung / Zerstörung Russlands in Form des Deutschen Reiches gerade recht. Wie das ausging, ist bekannt. Deutschland verlor den I. Weltkrieg sowie mit Versailles ein Gutteil seiner Souveränität.

Die Geschichte zeigt uns mit der ganzen Wucht der Wiederholung: Immer wenn deutsche Regierungen den Blick für die Realität verloren, Interessen mit Ideologie verwechselten (»Platz an der Sonne«, »Volk ohne Raum«, die deutsche »Herrenrasse«, »Die Juden sind schuld«, »Die Russen sind Barbaren« etc.), waren sie unfähig, die wohlverstandenen Eigenin­teressen sowie die wirtschaftlichen, politischen und Sicherheitsinteressen der Nachbarstaa­ten zu definieren bzw. zu beurteilen. Der II. Weltkrieg gibt kein geringeres Beispiel dafür ab als sein Vorgänger. Die Weimarer Republik war im Kampf gegen Versailles zeitweilig wieder auf dem Kurs einer realitätsbezogeneren Außenpolitik. In Rapallo schaffte sie es, Beziehun­gen zum gegenseitigen Vorteil mit Sowjetrussland herzustellen. Das änderte sich spätes­tens mit der Machtergreifung der Hitlerfaschisten, die Innen- und Außenpolitik zunehmend ideologisierten – bis hin zur erneuten »Aussteuerung« gen Osten, wo sie sich die nächste blutige Nase holten. Das Ergebnis waren erneut Millionen Tote, unermessliche Zerstörun­gen sowie die Teilung Deutschlands und der Beginn der Ära des Kalten Krieges.

Stellvertreter der neuen außereuropäischen Macht

Und noch etwas hat sich nach 1945 ereignet, das die Lage in Europa im Vergleich zu Bis­marcks sowie der Post-Versailles-Epoche ganz entscheidend verändert hat. Es etablierte sich in Europa eine außereuropäische Großmacht, die USA, die seither die außenpolitische Führung des westlichen Teils Europas übernahm. Der westliche alte deutsche Rumpfstaat BRD brauchte keine außenpolitische Strategie mehr. Die Sowjetunion (Russland) avancierte vom »Feind« Westeuropas zum »Hauptfeind« der USA und umgekehrt. Die Ost-West-Achse der Konfrontation in Europa verlief fortan zwischen den USA und der UdSSR. Westeuropa verwandelte sich in einen Junior-Partner der westlichen Großmacht. Außenpolitik für die BRD wurde von Stund an in Washington D.C. gedacht und gemacht. Dass die Interessen der USA mit denen der BRD, geschweige denn Frankreichs nicht kongruent waren, hatte schon Charles de Gaulle erkannt. In Bonn wurde dies jedoch beharrlich verschwiegen. Die Neue Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr schien zumindest eigene Nuancen mitzubringen, war aber letztlich wohl eingehegt in die US-Außenpolitik.

40 Jahre später zerbrachen die Sowjetunion und mit ihr der reale Sozialismus. Die USA schienen ihren Hauptfeind verloren zu haben. Es kehrten die alten Nationalismen der vor­letzten Jahrhundertwende nach Europa zurück. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die USA bis heute hier verblieben und sie aktiv für ihre eigenen Interessen instrumentali­sieren. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre stellten sie fest, dass Russland sich zu konsoli­dieren und seine eigenen wohlverstandenen Interessen zu artikulieren begann. Sogleich schalteten sie wieder auf die Konfrontation mit Russland und dessen erneute »Eindäm­mung« um, diesmal aus der Position ihrer vermeintlichen Stärke heraus. Der »Feind« war wieder da, die alte Achse – wieder hergestellt. Geltendes Völkerrecht wurde zunehmend durch die amerikanische »wertebasierte Ordnung« ersetzt. Damit lassen sich die europäi­schen Nationalismen besonders gut steuern. Der NATO-Überfall auf Jugoslawien 1999 war ein beredtes Beispiel. In Polen werden schon wieder Landkarten gedruckt, die Galizien, also die Westukraine, in das polnische Staatsgebiet integrieren.

Und dann geschah das eigentlich Vorhersehbare. Die Amerikaner organisierten zielstrebig einen weiteren Stellvertreterkrieg (entlang der Achse) gegen Russland, »wertemäßig« wohl vorbereitet. Und ihnen es ist gelungen, neben der Ukraine auch Deutschland zu einem ent­scheidenden ihrer »Stellvertreter« zu machen. Die Bundesregierung geht dermaßen in ihrer erneut ferngesteuerten Rolle auf, dass sie sich selbst für die Zerstörung ihrer Infrastruktur in D.C. bedankt.

Die Ideologisierung der deutschen Außenpolitik ist in den Köpfen der Eliten und der soge­nannten Nationalen Sicherheitsstrategie bzw. der »feministischen« Außenpolitik angekom­men. Und nun, im Jahr 2023, kommen SPD und Grüne mit einer angeblich eigenen »Sicher­heitsstrategie« daher, in der die alten und neue Feindbilder der USA gläubig übernommen werden. Doch steht der Feind der BRD wahrhaftig nicht im Land von Borodino und Stalin­grad oder dem des Boxeraufstands. Für Russland und China war in der Geschichte zumeist Deutschland (und Frankreich und England) der Feind, ideologisch verblendet und expansiv. Heute haben die USA diese Rolle für Russland und China übernommen. Die Funktion als US-Stellvertreter ist deshalb für unser Land, von dem nach 1945 »nie wieder Krieg ausge­hen« sollte, mehr als unangemessen, ja extrem gefährlich.

Das ist das Mindeste, was man wohl von einem konservativen, dem Militarismus nicht abholden, Monarchisten lernen kann – die Ursachen der Gefahr für den Frieden und die eigene Existenz, die von der Überhebung über andere Völker und ideologischer Verblen­dung ausgeht. Hoffen wir, dass sich nach dem Ende des aktuellen Stellvertreterkrieges jemand noch daran erinnert, wenn in Deutschland mal wieder Aufbauarbeit ansteht.

Juni 2023


Anmerkung:

[1] Otto von Bismarck (1. April 1815 – 30. Juli 1898).

 

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