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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Gewandelt durch Annäherung?

Dr. Jochen Willerding, Rangsdorf

 

Es ist 60 Jahre her, dass der langjährige Chefkommentator des RIAS und glühende Anti­kommunist im Juli 1963 an der Evangelischen Akademie in Tutzing einen, wie sich heraus­stellen sollte, Geschichte machenden Diskussionsbeitrag zur Frage der »Wiedergewinnung« der deutschen Einheit auf dem Wege der Überwindung des realen Sozialismus in der Sowjetunion und der DDR hielt. Er kam darin zur Schlussfolgerung, dass Wandel nur durch Annäherung möglich und erstrebenswert sei. Mit dieser neuen Strategie in Abgrenzung zur Konfrontationsstrategie der Adenauer-Regierung, die es mit der deutschen Einheit ver­meintlich nicht ganz so ernst genommen hätte, entwickelte er dann – schon als Außenpo­litiker bei Willy Brandt (erst Außenminister, dann Bundeskanzler) – die theoretischen Grundlagen der Neuen Ostpolitik der Ära Brandt gegenüber der DDR, der Sowjetunion, den Staaten des Warschauer Vertrages. Wir erinnern uns noch lebhaft des Passierscheinab­kommens Ende 1963, der Treffen von Willy Brandt und Willi Stoph in Erfurt und Kassel 1970, des Brandt’schen Kniefalls zu Warschau ebenfalls 1970, der im Laufe der Jahre immer intensiver werdenden »Deutschland-Verhandlungen« zwischen Bonn und Moskau. Sein Antikommunismus schien im Zuge der Zeit etwas abzuklingen, zumindest äußerlich. Kannte er in Tutzing ausschließlich die »Zone«, die sowjetische »Besatzung« und Walter Ulbricht als »letzten Stalinisten«, konnte er später doch die Deutsche Demokratische Repu­blik recht flüssig aussprechen. Doch viel mehr auch nicht. Auch wenn er die folgende inter­nationale Anerkennung der DDR zur Kenntnis nahm und versuchte, die Beziehungen zur DDR dem Auswärtigen Amt, also der bundesdeutschen Außenpolitik, zuzuschlagen, verlor er sein ursprüngliches Ziel niemals aus den Augen.

Altbekannte Nationalismen sind zurück

Sechzig Jahre später müssen wir feststellen, dass sich wahrhaftig Grundsätzliches gewan­delt hat. In der Sowjetunion ist die gesellschaftliche Ordnung zusammengebrochen, der reale Sozialismus in Osteuropa, aber auch in anderen Teilen der Welt ist (mit kaum einer Ausnahme) faktisch verschwunden. Der ostdeutsche sozialistische Staat, die Deutsche Demokratische Republik, in die die meisten von uns hineingeboren waren und die sie als ihre Heimat empfanden, die aber ohne die Sowjetunion nicht lebensfähig war, wurde inner­halb von wenigen Wochen in den Abgrund gerissen. Die internationale Bipolarität wurde aufgehoben, da der »Antipol« zu den USA die Entwicklungen nicht überlebte. Noch heute will es so mancher nicht wahrhaben, aber die Welt ist machtpolitisch nicht nur zur »freien« marktwirtschaftlichen Entwicklung, sondern zugleich zu den altbekannten, davon nicht zu trennenden Nationalismen des ausgehenden XIX. Jahrhunderts zurückgekehrt. Die einzige »Neuerung« für Europa besteht darin, dass eine nichteuropäische Macht in der europäi­schen Geostrategie die entscheidende (Führungs-) Rolle spielt. Der Ukraine-Krieg könnte kein besseres Beispiel dafür abgeben.

Die Hinwendung Egon Bahrs zu einer an den machtpolitischen Verhältnissen orientierten Realpolitik entsprang zweifelsohne der Erkenntnis, dass eine Wiedervereinigung mit militä­rischen Mitteln angesichts der gewachsenen Stärke der UdSSR und ihrer Verbündeten nicht denkbar war. Denkanstoß gab ihm mit ziemlicher Sicherheit die Kuba-Krise, in der die USA in ihrer Rollback-Strategie zurückstecken mussten und der damalige Präsident J. F. Kennedy entsprechende Schlussfolgerungen gezogen hatte. Bahr formulierte in Tutzing: »Wenn es richtig ist, was Kennedy sagte, dass man auch die Interessen der anderen Seite anerkennen und berücksichtigen müsste, so ist es sicher für die Sowjet-Union unmöglich, sich die Zone zum Zwecke einer Verstärkung des westlichen Potentials entreißen zu lassen.« Es ist dies in der Substanz die Anerkennung des Prinzips der friedlichen Koexistenz, bei dem beide Seiten koexistieren, kooperieren und sich auf diesem Wege selbstverständlich zu beeinflussen versuchen. Dass ein entsprechendes Kräfteverhältnis der beiden Seiten die Voraussetzung für die Erkenntnis der Notwendigkeit der friedlichen Koexistenz durch bürgerliche Politik im Sinne der Friedenserhaltung darstellt, ist eine bedeutende Schlussfolgerung für die damalige Zeit. Das sollte eigentlich auch für heute gelten, da der östliche Pol zeitweise weggefallen ist und die USA das schon immer ungeliebte Prinzip der friedlichen Koexistenz durch »ihre wertebasierte Ordnung« ersetzt haben, sich zeitgleich jedoch neue Pole herausbilden. Eine weitere Erkenntnis besteht in der Anwendung des Prinzips der friedlichen Koexistenz nicht nur auf nach Sozialismus strebende Länder, sondern ebenso auf Staaten mit einer von der westlichen bürgerlichen Demokratie abweichenden anderen bürgerlichen oder auch vorfeudalen, halbfeudalen oder feudalen gesellschaftlichen Ordnung.

Es gab seinerzeit in Berlin, aber auch in Moskau, nicht wenige Skeptiker zu »Wandel durch Annäherung«. Und das – mehr als verständlich, formulierte doch Bahr in Tutzing weiter: »Die Zone muss mit Zustimmung der Sowjets transformiert werden.« All das bedeute, dass »Veränderungen nur ausgehend von dem zur Zeit dort (in der DDR) herrschenden verhass­ten Regime erreichbar« seien. Die Skepsis sollte in den Folgejahren weiter zunehmen, wie die Diskussionen innerhalb der Partei sowie in der Öffentlichkeit zum Korb III der KSZE in Helsinki 1975 wie auch dem Grundwertepapier zwischen SED und SPD 1987 unter dem Titel »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit« deutlich machten.

Kooperation und berechtigte Sorgen – nicht die Ursache für den Wandel

Doch gab es für die DDR eine vernünftige Alternative zu einem halbwegs friedlichen Nebeneinander, verbunden mit wirtschaftlicher und friedenspolitischer Kooperation? Selbst für die Sowjetunion (ohne Bahrs Bindestrich) gab es keine. Das Konzept, beruhend auf der Anerkennung der politischen Stärke der Staaten des Warschauer Vertrages, ver­sprach Entspannung in den Beziehungen, Rüstungskontrolle und Abrüstung, ruhigere und breitere Möglichkeiten für den sozialistischen Aufbau, da unsere Regeln beachtet werden müssten. Wenigstens zeitweise könnte die Aggressivität des kapitalistischen Westens unter Führung der USA etwas »eingehegt« werden. Und versprachen wir uns nicht auch größere Einflussmöglichkeiten auf den Westen in unserem gesellschaftpolitischen Sinne?! Noch heute wird davon gesprochen, dass viele hart erkämpfte sozialpolitische Fortschritte in der alten Bundesrepublik ohne das Vorbild der sozialistischen DDR nicht möglich gewe­sen wären. Die Entwicklungen in England, Frankreich blieben dahinter ja durchaus zurück. Sorgen bzgl. einer solchen Einflussnahme gab es aber auch auf der anderen Seite (viel­leicht gerade deshalb). Die Neue Ostpolitik unter Willy Brandt wurde nicht umsonst durch konservative und revanchistische Kräfte lange Jahre aufs Schärfste bekämpft.

Im Nachhinein könnte man sagen, die Sorgen auf unserer Seite waren nicht wirklich unbe­gründet, erst recht unter dem heutigen Eindruck der Wandlungen des menschlichen Zu­sammenlebens in unserer Welt. Es bleibt jedoch die Frage, war es letztlich wirklich die Bahr’sche Annäherung, die die »Transformation« des realen Sozialismus bewirkte? Mir fällt da eine Äußerung von ihm noch vor der Wende in einem Gespräch ein, wo er meinte, das Januar-Plenum des ZK der KPdSU 1987 (Gorbatschow: »Der Sozialismus braucht die Demokratie wie die Luft zum Atmen.«) sei »der Anfang vom Ende« der Sowjetunion gewe­sen. Er hatte erkannt, dass dort bewusst oder unbewusst die führende Rolle der Kommu­nistischen Partei verhandelt wurde, nicht mehr und nicht weniger. Und er sollte recht be­halten. Er hatte offensichtlich auch verstanden, dass der Aufbau des Sozialismus maßgeb­lich eine Frage des Bewusstseins der Menschen war. Und Selbiges wurde immer wieder in die Gesellschaft getragen, oder eben – immer weniger. Er hatte auch ziemlich früh verstan­den, dass die Fortsetzung der Ware-Geld-Beziehungen, die nicht vollständige Vergesell­schaftung der Produktionsmittel das gesellschaftliche Bewusstsein der Massen permanent beeinflussen würde. Einen wichtigen Impuls dafür erfuhr er mit Sicherheit durch den sowjetischen Versuch marktwirtschaftlicher Reformen unter der Regierung von A. N. Kossygin in den 60er Jahren, die zwar in ihrer ursprünglichen Form durch das Politbüro kassiert wurden, aber trotzdem marktwirtschaftliche Kategorien, wie wirtschaftliche Rech­nungsführung, Gewinn als wesentliches Führungskriterium der Betriebe, die Schaffung von großen Betriebseinheiten, etc. in die Planung und Leitung der Wirtschaft sowie der sozia­len Entwicklung aufnahmen. Das stärkte entsprechendes bürgerliches Denken und führte zu wachsenden Zweifeln an dem eingeschlagenen sozialistischen Weg. Bahr meinte schon in Tutzing: »Die Sowjetunion ist angetreten, den Westen einzuholen und zu überholen. … Abgesehen davon, dass es sich dabei um ein Ziel handelt, das den Westen als Vorbild hin­stellen muss und an seiner Leistung orientiert ist, ist offensichtlich, dass diese Politik nicht allein die Zone innerhalb des Ostblocks ausnehmen kann.« Ja, und dann kam eben das Januar-Plenum. Das Scheitern der KPdSU war sicher durch Gorbatschow so nicht gewollt, durch die gesamte vorherige Entwicklung wie auch das Unverständnis für diese Zusam­menhänge bei handelnden Personen jedoch mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten.

Auch in der DDR gab die vorletzte Regierung nach dem 9. November 1989 stillschweigend die (in der Verfassung verankerte) führende Rolle der Partei auf und dem Runden Tisch ein politi­sches Mandat. Dafür mag es Gründe gegeben haben. Aber es bestätigte sich: es war nicht die Annäherung des Westens an den Osten oder umgekehrt. Den Wandel hat der reale Sozialis­mus selbst herbeigeführt. Ob bewusst oder unbewusst, ist jetzt nicht mehr die Frage.

Gültig bleibt allerdings Bahrs Grundherangehen an die Friedenssicherung durch die Anerken­nung der Interessen anderer Staaten. Reformen und Revolutionen können nicht exportiert werden. Änderungen kommen aus der eigenen Entwicklung heraus (wenn man sie zulässt). Vor wenigen Jahren bemerkte er vor Schülern in Heidelberg: »In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten.«

Das bleibt solange gültig, wie es Staaten gibt und – den Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit!

Juni 2023

 

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