»Organisierter Kapitalismus«?
Dr. Reiner Zilkenat, Hoppegarten
Der Kieler Parteitag der SPD im Mai 1927 [1]
Vom 22. bis zum 27. Mai 1927 tagte der SPD-Parteitag in Kiel. Besondere Aufmerksamkeit wurde ihm durch ein ausführliches Referat zum Thema »Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik« des Reichstagsabgeordneten und Mitglied des Parteivorstandes Dr. Rudolf Hilferding zuteil. Der Redner galt allgemein als der »Chefideologe« der Partei. Mit seinem 1910 veröffentlichtem Werk »Das Finanzkapital – Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus« hatte er, weit über die Reihen seiner Partei hinaus reichend, große Resonanz gefunden. In dieser voluminösen Untersuchung, die 1947 in der Sowjetischen Besatzungszone vom Dietz Verlag nachgedruckt wurde, hatte er u. a. die Prozesse der anwachsenden Konzentration und Zentralisation des Kapitals analysiert, aber auch die immer offener zu Tage tretende Tendenz zu unverhüllt reaktionären politischen Entwicklungen in den Ländern des Kapitals nachgewiesen. Auch Lenin schöpfte in seinem 1917 erschienenen Werk »Der Imperialismus – die höchste Stufe des Kapitalismus« vor allem aus dem bei Hilferding ausgebreiteten empirischen Material.
Mittlerweile lagen der Erste Weltkrieg, die Oktoberrevolution in Russland, die revolutionäre Nachkriegskrise, die Gründung der III. Kommunistischen Internationale und die sich entfaltende Stabilisierung des Kapitalismus in Deutschland als Erfahrungshorizont hinter den insgesamt 415 Delegierten, die sich im Kieler Gewerkschaftshaus versammelten. Gespannt warteten sie darauf, welche Perspektiven der Redner für die Sozialdemokratie in der Weimarer Republik entwickeln würde. Besonders interessierte sie, auf welchen Wegen er die sozialistische Zielstellung, die im Heidelberger Parteiprogramm von 1925 formuliert worden war, zu verwirklichen gedachte [2]. Doch zunächst ist es nötig, die ökonomische und politische Situation in Deutschland in der Mitte und am Ende der 1920er Jahre zu skizzieren.
Relative Stabilisierung des Kapitalismus
Seit der Überwindung der Hyperinflation im November 1923 hatten sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland spürbar verändert. [3] Die Massenarbeitslosigkeit war überwunden worden, die Güterproduktion war sprunghaft angestiegen und Deutschland avancierte innerhalb kurzer Frist zu einer der wichtigsten Exportnationen. Der deutsche Anteil am Weltexport betrug 1925 bereits 7,1 Prozent, 1926 und 1927 waren es jeweils 8,3 und 1928 sogar 9,1 Prozent. Moderne Produktionsmethoden, vor allem die so genannte Rationalisierung, wurden aus den USA übernommen und fanden rasch Verbreitung. Die modernen Industriezweige, die Elektro-, die Fahrzeug- sowie die chemische Industrie, prosperierten. Das dafür notwendige Kapital war nicht zuletzt in Form von Krediten in den USA aufgenommen worden. Nicht wenige US-amerikanische Konzerne beteiligten sich außerdem durch den Kauf von Aktienpaketen unmittelbar an deutschen Großunternehmen, wie zum Beispiel 1929/30 die General Electric Company an der AEG. Die Ford Motor Company gründete im April 1925 ein Tochterunternehmen, General Motors erwarb im März 1929 80 Prozent der Anteile an der Adam Opel AG, dem damals größten Produzenten von Kraftfahrzeugen in Deutschland.
Vor allem eine Entwicklung sollte bei alledem nicht außer Acht gelassen werden: Die neue ökonomische Potenz des deutschen Imperialismus und die daraus folgenden politischen Konsequenzen. Der kommunistische Ökonom und Autor Richard Sorge definierte sie im Titel seiner 1928 unter Pseudonym (»R. Sonter«) publizierten Schrift als den »neuen deutschen Imperialismus«. [4]
Den ökonomischen Aufstieg des deutschen Imperialismus und seine Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt signalisierten die im Dezember 1925 bzw. im Januar 1926 gebildeten Riesenkonzerne »IG Farbenindustrie AG« und »Vereinigte Stahlwerke AG« (Vestag). Die Vestag verfügte über das für damalige Verhältnisse gewaltige Aktienkapital von 800 Millionen Reichsmark und stellte den weltweit zweitgrößten schwerindustriellen Konzern dar. Hauptaktionär und Aufsichtsratsvorsitzender war Fritz Thyssen, Generaldirektor sein Schwiegersohn Albert Vögler. Die IG Farben, entstanden vor allem aus den drei Großunternehmen Höchst AG, BASF und Bayer Leverkusen, zählten gemeinsam mit Du Pont (USA) und Imperial Chemical Industries (Großbritannien) zu den in ihrer Branche beherrschenden Konzernen. Hier war Carl Duisberg, der amtierende Präsident des mächtigen Reichsverbandes Deutscher Industrieller (RDI), Vorsitzender des Aufsichtsrates. Zu beachten ist, dass diese Monopole, ebenso wie z. B. die Siemens AG und die AEG, ihrerseits in vielen Ländern über Tochterunternehmen und Firmen verfügten, mit denen sie durch Kapitalbeteiligungen verbunden waren. Der Kapitalexport bildete also keineswegs eine Einbahnstraße von den USA nach Deutschland, sondern vollzog sich seit der Mitte der zwanziger Jahre ebenso von deutschen Großunternehmen in alle Himmelsrichtungen. Auch die deutschen Großbanken, an der Spitze die Deutsche Bank, die Dresdner Bank, die Commerz- und Privatbank, die Darmstädter und Nationalbank sowie die Berliner Handelsgesellschaft, exportierten Kapital in Größenordnungen, dienten den deutschen Monopolen als »Hausbanken«, waren vielfältig durch Aktienpakete an ihnen beteiligt, hatten Sitz und Stimme in ihren Aufsichtsräten, kurzum: sie waren mit ihnen weitgehend verschmolzen.
Die in den Konzernen und Betrieben der »neuen Industrien« in großer Eile realisierten Maßnahmen der Rationalisierung führten für die Monopole zu einer bedeutenden Steigerung der Produktivität. Das bereits 1921 unter tätiger Mithilfe des Reichswirtschaftsministeriums und von Carl-Friedrich von Siemens gegründete »Reichskomitee für Wirtschaftlichkeit in Industrie und Handwerk« spielte dabei die Rolle eines Kompetenzzentrums, das vor allem seit der Mitte der zwanziger Jahre auch den »know-how-Transfer« aus den USA beförderte und deutsche Unternehmen bei der Installierung neuer Produktionsmethoden unterstützte. [5] Für die Männer und Frauen an den Fließbändern war angesichts ihrer immer stärker in kleine und immer gleiche Arbeitsschritte aufgesplitterten Tätigkeiten und der Anwendung von immer differenzierteren Zeitmesssystemen, eine dramatische Erhöhung des Arbeitstempos die Folge. Aber auch in den Werken der Eisen- und Stahlindustrie sowie in den Verwaltungen hielten Rationalisierung und gesteigerte Arbeitshetze ihren Einzug. Zugleich ist zu beachten, dass der 8-Stunden-Arbeitstag, einer der wichtigsten sozialpolitischen Errungenschaften der Weimarer Republik, immer stärker ausgehöhlt wurde, nicht zuletzt im Bergbau und in der Schwerindustrie. Die »schöne, neue Welt« der Rationalisierung existierte nur für die Kapitaleigner und ihre Manager, die Ausbeutung des Proletariats erreichte neue Dimensionen.
Und die politische Bilanz? Im April 1925 war der kaiserliche Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, der Kandidat der politisch rechten Kräfte, zum Nachfolger des Sozialdemokraten Friedrich Ebert in das Amt des Reichspräsidenten gewählt worden. Keine acht Jahre später ernannte er bekanntlich Adolf Hitler zum Reichskanzler. Seit Januar 1927 regierte eine »Bürgerblock«-Regierung unter Beteiligung von vier Ministern der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), deren Mitglieder und Repräsentanten kein Geheimnis daraus machten, die Aufrichtung eines autoritären Regimes anzustreben. Sie träumten dabei von einer Wiederherstellung der Monarchie oder von Verhältnissen à la Mussolini-Faschismus. [6] Es war die bislang am meisten reaktionäre Regierung in der Geschichte der Weimarer Republik. Zeitgleich hatte sich die Reichswehr zu einem »Staat im Staate« entwickelt, die zusammen mit führenden Industriellen, vor allem Ernst von Borsig und Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, insgeheim die Wiederaufrüstung betrieben und die Vorbereitung eines zweiten »Griffs nach der Weltmacht« allmählich in den Blick nahmen. [7]
Vor dem Hintergrund dieser ökonomischen wie politischen Entwicklungen, die das politische Kräfteverhältnis weiter zugunsten der politisch rechten Kräfte verschoben hatten, durften die Delegierten des Kieler SPD-Parteitages gespannt sein, in welcher Weise Rudolf Hilferding die zukünftigen Aufgaben seiner Partei beschreiben würde.
»Organisierte Wirtschaft« und Staat
Hilferding begann sein Referat mit einer ausführlichen Schilderung der neuen Entwicklungsstufe kapitalistischer Entwicklung, die er mit dem Begriff »Organisierter Kapitalismus« zu definieren versuchte. Dieser sei geprägt durch die Ablösung der »Ära der freien Konkurrenz, in der der Kapitalismus rein durch das Walten der blinden Marktgesetze beherrscht war«; nunmehr »kommen wir zu einer kapitalistischen Organisation der Wirtschaft«. [8] Es sei vor allem in den neu entstandenen Industrien, besonders in der chemischen Industrie, zu beobachten, dass neben der auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden innerbetrieblichen Organisation des Produktionsprozesses die Trust- und Kartellbildung nicht nur in Deutschland, sondern bereits auch auf internationaler Ebene vollzogen werde, was »die Ausschaltung der Konkurrenz zwischen den nationalen Wirtschaften« [9] zur Folge hätte. Zugleich, so Hilferding, führe der höhere Grad der Vergesellschaftung der Produktion dazu, »dass auch der Privatbetrieb, die Wirtschaftsführung des einzelnen Unternehmers, aufgehört hat, Privatsache dieses Unternehmers zu sein. Die Gesellschaft hat verstanden, dass es ihr Interesse ist, wenn die Produktivität in jedem einzelnen Betriebe gesteigert wird, wenn also der betreffende Wirtschaftsführer auch wirklich seine technische und organisatorische, produktionssteigernde Pflicht als Unternehmer erfüllt.« [10] Die Frage, zu wessen Nutzen die Steigerung der Produktivität erfolgt und ob bzw. unter welchen Voraussetzungen dies für die arbeitenden Menschen Vorteile mit sich bringen könnte, wird in diesen diffus formulierten Aussagen nicht gestellt. Hilferding konstruiert eine abstrakte »Gesellschaft«, die ohne Berücksichtigung ihrer Klassenstrukturen und unterschiedlichen Klasseninteressen, insgesamt von der »Pflichterfüllung« des Unternehmers in der »organisierten Wirtschaft« profitieren würde. Sein primäres Interesse an der Maximierung des Profites ist offenbar zur nicht erwähnenswerten Nebensache geworden.
Hilferding fährt fort: »Organisierter Kapitalismus bedeutet in Wirklichkeit den prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip planmäßiger Produktion.« Und weiter: »Diese planmäßige, mit Bewusstsein geleitete Wirtschaft unterliegt in viel höherem Maße der Möglichkeit der bewussten Einwirkung der Gesellschaft, das heißt nicht anderes, als der Einwirkung durch die einzige bewusste und mit Zwangsgewalt ausgestattete Organisation der Gesellschaft, der Einwirkung durch den Staat.« [11] Hier haben wir es nun mit bürgerlicher Ideologie in Reinkultur zu tun: Der Staat besitzt einen klassenneutralen Charakter, die wissenschaftlichen Planungsprozesse im Betrieb oder innerhalb einer Branche werden nicht im Zusammenhang der Kapitalverwertungsinteressen interpretiert, sondern als Ausdruck von abstrakten allgemein-gesellschaftlichen Interessen, ja als geradezu »sozialistisch« ausgegeben.
Hilferding führt seine Argumentationskette konsequent zu Ende und kommt dabei zu seinen Handlungsvorschlägen für die zukünftige Strategie der SPD:
»Das heißt nichts anderes, als dass unserer Generation das Problem gestellt ist, mit Hilfe des Staates, mit Hilfe der bewussten gesellschaftlichen Regelung diese von den Kapitalisten organisierte und geleitete Wirtschaft in eine durch den demokratischen Staat geleitete Wirtschaft umzuwandeln.« Durch die ökonomische Entwicklung selbst, so fährt der Redner fort, sei »das Problem des Sozialismus gestellt«. [12]
Auf welche Weise sollte der »demokratische Staat« veranlasst werden, im Hilferdingschen Sinne tätig zu werden? Die schlichte Antwort lautet: Mit Hilfe von Wahlen, die als Ergebnis einen dominierenden politischen Einfluss der Sozialdemokratie hervorbringen müssten. »Immer mehr«, so die Behauptung Hilferdings, »unterliegt die kapitalistische Gesellschaft dem zunehmenden Einfluss der Arbeiterklasse, immer mehr siegt das politische Prinzip der Arbeiterklasse, den Staat zu benutzen als Mittel zur Leitung und Beherrschung der Wirtschaft im allgemeinen Interesse.« [13] Worum es vornehmlich ginge, das sei der Kampf um parlamentarische Mehrheiten, wobei die Beteiligung an Koalitionsregierungen mit bürgerlichen Partnern nicht von vornherein abgelehnt werden dürfe. Um die Arbeiterklasse auf die Sozialdemokratie als ihre berufenen Interessenvertreterin zu orientieren, auch die katholischen Proletarier und die Landarbeiter in den ostelbischen Regionen, sei die Brechung des Bildungsprivilegs der herrschenden Klasse und eine systematische Schulungsarbeit vonnöten, die auch auf die Fähigkeit zur Leitung der Betriebe bezogen werden müsste.
Von außerparlamentarischen Aktionen (Streiks, Massendemonstrationen und -versammlungen, Fabrikbesetzungen) ist allenfalls am Rande die Rede, sie spielten für den Hilferdingschen »Weg zum Sozialismus« keine Rolle. Deshalb ist es ebenso konsequent wie verstörend, wenn er in seinem Referat die Arbeiterklasse stattdessen darauf orientiert, den Kampf um höhere Löhne nicht selbst auszufechten, sondern die Lohnfindung an den Staat und das Parlament zu delegieren: »Wir haben durch unser Tarifvertragswesen, durch die Schiedsgerichte heute eine politische Lohnregelung…Das persönliche Schicksal des Arbeiters wird bestimmt durch die Politik, die der Staat treibt.« [14] Namentlich den Arbeiterfrauen müsse es gesagt werden, »wenn ihr zur Wahl geht, entscheidet ihr gleichzeitig über Brot und Fleisch und über die Höhe des Lohnes.« [15] Insgesamt orientiert Hilferding seine Partei darauf, »sozialistische« Verhältnisse mit dem Stimmzettel und durch die Beeinflussung des aus seiner Sicht neutralen Staates einzuführen. Die entscheidende Frage, die Notwendigkeit einer Überführung des Privateigentums an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum, um tatsächlich eine sozialistische Gesellschaftsordnung schaffen zu können, hatte in seinem Grundsatzreferat keine Bedeutung.
Die Rolle der Arbeitenden in den politischen Auseinandersetzungen wird bei Hilferding weitgehend auf die Funktion von »Stimmbürgern« und potenziell an der Leitung von Betrieben Beteiligten (nicht: Eigentümern) reduziert. Die Verantwortung für die Realisierung eines Sozialismus nach Hilferdingscher Strickart bzw. für die auf dem Wege dorthin zu erzielenden Veränderungen der politischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse liegt offensichtlich bei den sozialdemokratischen Parlamentsabgeordneten und Ministern in Koalitionsregierungen. Eine Verklammerung der parlamentarischen Arbeit mit außerparlamentarischen Aktionen der Arbeiterklasse ist bei Hilferding nicht vorgesehen. Doch nur solche Aktionen, bei denen die Arbeiter handelnde Subjekte und nicht Figuren auf dem Schachbrett parlamentarischer Manöver gewesen wären, hätten Lernprozesse und Erfolge im Klassenkampf bewirken können. Von derartigen Erkenntnissen waren Hilferding und die große Mehrheit der Delegierten in Kiel jedoch weit entfernt.
Es artikuliert sich Widerspruch
Immerhin blieb das Referat Hilferdings in der anschließenden Diskussion nicht ohne Widerspruch. Vor allem Toni Sender, Mitglied des Parteivorstandes, und Siegfried Aufhäuser, Reichstagsabgeordneter und Vorsitzender des Allgemeinen freien Angestelltenbundes (AfA-Bund), hielten Gegenreden. Toni Sender führte u. a. aus: Die Bourgeoisie habe sich »mit der Republik abgefunden, weil die Republik noch nicht die Republik der Arbeiterschaft geworden ist, sondern es den Kapitalisten noch ermöglicht, vielleicht in noch krasserer Form als vorher ihre wirtschaftliche Macht aufzurichten.« [16] Und zu den vorgetragenen Argumenten Hilferdings für die Beteiligung an bürgerlichen Koalitionsregierungen erwiderte sie, dass die Regierungsbeteiligung der SPD »nur dann eine Machtstellung« sei, »wenn starke, aktive, soziale Kräfte in der Gesellschaft hinter der Regierung stehen, wenn wir auch uns in der Gesellschaft eine Machtstellung erobert haben. Sie werden vielleicht entgegenhalten: das ist eure Scheu vor der Verantwortung! Wir haben keine Scheu, eine Verantwortung für unsere Politik zu übernehmen, aber wir scheuen davor zurück, eine Verantwortung tragen zu müssen für eine Politik, die in starkem Maße von dem bürgerlichen Teil in der Regierung beeinflusst ist.« [17]
Siegfried Aufhäuser hob in seiner Entgegnung auf Hilferding folgenden Gedanken hervor: »Der Bürgerblock ist eigentlich kein Zeichen dafür, dass der Einfluss des Staates auf die Wirtschaft gewachsen ist, sondern dafür, dass die Kapitalisten heute mehr als je den Staat beherrschen. (…) Wer heute die Stellungen in unserer Republik erobern will, muss zunächst bereit sein, in der Opposition gegen die Widersacher der Republik und ihre falschen Freunde, die dort herrschen, den Kampf aufzunehmen. (Bravo! und Händeklatschen.)« [18]
Sender und Aufhäuser begründeten eine Resolution, die in Abgrenzung zu Hilferdings Referat u. a. folgende Formulierungen enthielt: »Die bisherigen Versuche, im Reiche durch Koalitionen mit bürgerlichen Parteien die Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten, haben zu keinem Erfolge geführt. Die Aufgabe der Sozialdemokratie in der deutschen Republik ist die Vertretung der proletarischen Klasseninteressen gegenüber der Klassenherrschaft des Kapitalismus, der Kampf für soziale Forderungen und für den Sozialismus. Gegenüber dieser Aufgabe tritt der Kampf für die Erhaltung der Republik, mit der sich die Bourgeoisie abgefunden hat, an Bedeutung zurück.« Und weiter: »Die Kampffront in der deutschen Republik bildet sich nicht mehr unter der Parole: hie republikanisch – hie monarchistisch, sondern hie sozialistisch – hie kapitalistisch. Angesichts dieser Konstellation muss die Taktik der Sozialdemokratie sein: Opposition statt Koalition. Der Parteitag beschließt, diese Opposition ohne Rücksicht auf bürgerliche Parteien im Geiste des proletarischen Klassenkampfes mit allen geeigneten parlamentarischen und außerparlamentarischen Mitteln zu führen.« [19] Diese Resolution wurde mit 83 zu 255 Stimmen abgelehnt, das Referat Rudolf Hilferdings erzielte die Stimmen der Mehrheit der Parteitagsdelegierten.
»Organisierter Kapitalismus« in der Krise
Die im Referat Hilferdings enthaltenen Analysen und Vorschläge für eine politische Strategie, die im Kern die Möglichkeit eines Hinüberwachsens des Organisierten Kapitalismus in den Sozialismus beinhalteten, wurden zur Leitlinie der Sozialdemokratie. Die im Referat nicht offen ausgesprochene, aber immanent vorhandene Anschauung, dass von nun an die wissenschaftliche Planung und Organisation der Produktion auch zu einer Vermeidung, zumindest aber zu einer Abflachung kapitalistischer Krisen führen werde, wurde bereits zwei Jahre später mit dem Beginn der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise ad absurdum geführt. Und spätestens am 30. Januar 1933 wurde offenbar, dass »die Demokratie« (gegen den Gebrauch des Adjektivs »bürgerliche« hatte Hilferding mit großem Engagement polemisiert) unter bestimmten Voraussetzungen zum Nährboden für den Faschismus werden kann. Was aber hatte er unter großem Beifall zu Protokoll gegeben? Es sei dem preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun und seinem Innenminister Carl Severing (beide SPD) gelungen, »dass die Wellen sowohl des Bolschewismus als des Faschismus sich an Preußen gebrochen haben. Das war eine welthistorische Leistung! Die Geschichte wird einst erzählen, was Severing für … ganz Europa geleistet hat.« [20] Otto Braun, Carl Severing und Rudolf Hilferding trafen sich nach der Übertragung der Macht an die Faschisten gemeinsam im Exil. Hilferdings Illusionen über den »Organisierten Kapitalismus« trugen dazu bei, dass sich innerhalb der Sozialdemokratie eine Politik durchsetzen konnte, die von Ratlosigkeit und Passivität geprägt war, wo entschlossenes außerparlamentarisches Handeln gefordert war. Zur Ehre Hilferdings sei gesagt, dass er viele seiner Positionen, die er auf dem Kieler Parteitag vorgetragen hatte, im Exil revidierte – leider erst im Exil.
Anmerkungen:
[1] Erweiterte Fassung eines Beitrages, der am 22.5.2017 in der »jungen Welt«, S.12 f., unter der Überschrift »Hilferdings Märchen« veröffentlicht wurde.
[2] Siehe Das Parteiprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. (Angenommen auf dem Heidelberger Parteitag.), in: Sozialdemokratischer Parteitag 1925 in Heidelberg. Protokoll mit dem Bericht der Frauenkonferenz, Berlin 1925, S. 5 ff. Dort hieß es u.a.: »Das Ziel der Arbeiterklasse kann nur erreicht werden durch die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum. (…) Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern notwendigerweise ein politischer Kampf. (…) Den Befreiungskampf der Arbeiterklasse zu einem bewussten und einheitlichen zu gestalten und ihm sein notwendiges Ziel zu weisen, ist die Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei.« (S. 6)
[3] Zur ökonomischen Lage Deutschlands zwischen Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise siehe Kurt Gossweiler: Großbanken – Industriemonopole – Staat. Ökonomie und Politik des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland 1914-1932, Berlin-DDR 1971, S. 266 ff.; Manfred Nussbaum: Wirtschaft und Staat in Deutschland währende der Weimarer Republik, Berlin-DDR 1978, S. 113 ff.; Wolfgang Ruge: Deutschland 1917 bis 1933, 3. Aufl., Berlin-DDR 1978, S. 284 ff. Zur Entwicklung der Weltwirtschaft in den 1920 Jahren siehe Derek H. Aldcroft: Die zwanziger Jahre, München 1978, S. 216 ff.; Gilbert Ziebura: Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/24 bis 1931, Frankfurt a.M. 1984, bes. S. 35 ff.
[4] Diese Studie Richard Sorges wurde 1988 in der DDR nachgedruckt, ergänzt durch ein Vorwort von Jürgen Kuczynski.
[5] Siehe Heike Knortz: Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik. Eine Einführung in Ökonomie und Gesellschaft der ersten Deutschen Republik, Göttingen 2010, S. 126 ff.
[6] Siehe Reiner Zilkenat: Durchweg reaktionär, Vor 90 Jahren nahm die »Bürgerblock«-Regierung unter Einschluss der Deutschnationalen ihre Amtsgeschäfte auf, in: junge Welt, 28./29.1.2017, S. 15 (auch in: www.jungewelt.de/artikel/303566.durchweg-reaktionär.html).
[7] Derselbe: Die Prinzenaffäre. Das Bekanntwerden umfassender Aufrüstungs- und Kriegspläne, in: junge Welt, 8./9.10.2016, S. 12 f. (auch in: www.jungewelt.de/artikel/295104.die-prinzenaffäre.html).
[8] Sozialdemokratischer Parteitag 1927 in Kiel. Protokoll mit dem Bericht der Frauenkonferenz, Berlin 1927, S. 166.
[9] Ebenda, S. 167.
[10] Ebenda, S. 168.
[11] Ebenda, S. 168.
[12] Ebenda, S. 169.
[13] Ebenda, S. 171.
[14] Ebenda, S. 169.
[15] Ebenda, S. 170.
[16] Ebenda, S. 185.
[17] Ebenda, S. 186.
[18] Ebenda, S. 190.
[19] Ebenda, S. 272.
[20] Ebenda, S. 180.
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