Niemals ist auch nur annähernd solcher Haß auf Nazideutschland erzeugt worden wie auf die DDR
Ellen Brombacher, Berlin
Eingangsstatement im Arbeitskreis "Woher wir kommen" im Rahmen des Hannoveraner Programmkonvents vom 7. November 2010
Im Zusammenhang mit dem Historikerbericht über die Beteiligung des Auswärtigen Amtes an den Naziverbrechen hieß es in einem in der Welt vom 2. November 2010 abgedruckten Brief einer Münchener Leserin: "Wieviel näher läge uns die Aufarbeitung der Ungeheuerlichkeiten des Unrechtsstaates DDR."
Wir wissen nicht, wer die Leserin ist. Vielleicht war sie ein strammes BDM-Mädel. Vielleicht war Opa bei der SS. Vielleicht gehört sie aber auch nur zu den vielen, die weder über die Nazizeit etwas wissen noch über die DDR, und die doch davon überzeugt sind, über die DDR genauestens Bescheid zu wissen, weil der Zeitgeist zu ihrer persönlichen Meinung geworden ist.
Ganz anders liest sich in der Ausgabe 41/2010 des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL ein Bericht von Wiebke Hollersen. Einen Tag vor dem Ende der DDR schrieben Schüler einer zehnten Klasse in der 2. Oberschule Berlin Prenzlauer Berg Briefe an sich selbst, die sie unlängst bei einem Klassentreffen öffneten und lasen. Die Deutschlehrerin hatte ihre Schüler am 2. Oktober 1990 gebeten, aufzuschreiben, was sie an diesem Tag denken und empfinden. Sie würde die Briefe in einem verschlossenen Umschlag aufbewahren und in fünf Jahren könnten sie gelesen werden. Die Lehrerin stellte nur eine Bedingung: Wer schreibt, solle ehrlich schreiben. Nicht nach fünf, sondern erst nach zwanzig Jahren war es dann soweit. Wiebke Hollersen, eine der damaligen Schülerinnen, heute für den SPIEGEL tätig, hat nun eine Art Reportage darüber verfaßt, was die seinerzeit Fünfzehn-, Sechzehnjährigen aufschrieben, was inzwischen aus ihnen geworden ist und wie sie sich sahen und heute sehen. Ich will über diesen sechsseitigen Bericht, den jeder nachlesen kann, nur einen Satz sagen: Er bedient keines der heute gültigen Klischees. Die Schüler müssen in einem anderen Land gelebt haben.
Zwei Extreme? Hier die Münchenerin, für die die DDR offenkundig schlimmer war als das Hitlerregime. Da die Schüler, die – nach heutiger Lesart – 1990 beinahe ausnahmslos die DDR verharmlosten? Ihre Briefe, um bei Freud oder den Mitscherlichs anzuknüpfen, zeugen von der Fähigkeit zu trauern – gelernt in der DDR.
Ich denke, wir haben es hier nicht mit Extremen zu tun. Der Zeitgeist ist kein Extrem, er spiegelt die veröffentlichte, die herrschende Meinung. Niemals ist in der Bundesrepublik Deutschland ein auch nur annähernd solcher Haß auf Nazideutschland erzeugt worden wie auf die DDR. Wer sich dem widersetzt, gilt mindestens als politikunfähig. Die normale Erinnerung an den Versuch, auf deutschem Boden ohne Kapitalherrschaft auszukommen – die Erinnerung also sowohl an das Bewahrenswerte aus dieser Zeit als auch an die nichtsozialistischen Tendenzen in der DDR – ist kein Extrem. Eine sachliche Bewertung der DDR wird zum Extrem hochstilisiert, damit die Unrechtstaatsthese ihre scheinbare Berechtigung erlangt. Wie verhält sich der vorliegende Programmentwurf zu dieser Problematik?
Mit dem Geschichtsteil im Programmentwurf kann ich irgendwie leben. Das "irgendwie" ist eine Umschreibung dafür, daß mir an mehreren Stellen die dialektische Betrachtung fehlt und daß es auch Aussagen gibt, die für einen wahrscheinlich nicht kleinen Teil der Mitglieder aus dem Osten eine ziemliche Zumutung sind. Ich möchte etwas zu dem Mangel an dialektischer Betrachtung sagen. Den Mainstream-Umgang mit der DDR charakterisiert ein ehernes Prinzip, das ich so beschreiben möchte: Die DDR existierte im luftleeren Raum. Es gab keine Startbedingungen (z.B. daß die DDR der wirtschaftlich wesentlich ärmere Teil Deutschlands war, daß sie alle Reparationsleistungen aufbringen mußte, daß sie keine Marshallplanhilfe erhielt etc.). Es gab keine Sachzwänge, und vor allem – die DDR hatte keine Gegner. Eigentlich hatten alle, vor allem die im Osten enteigneten Industriellen und Großgrundbesitzer, die DDR lieb und konnten lediglich kein Verständnis dafür aufbringen, daß von ihr nur schlechte oder zumindest dumme Sachen ausgingen.
Um Mißverständnisse zu vermeiden: Ich will die DDR nicht schöner reden als sie war, und es gab zweifelsfrei genügend Unschönes. Wir waren nie so gut, wie wir uns sahen und machten, und wir waren nie so schlecht, wie wir heute gemacht werden. Ich möchte wiederholen: Die Hauptmethode der totalen Denunziation der DDR ist die Abstrahierung von den konkret-historischen Bedingungen, unter denen der sozialistische Versuch auf deutschem Boden stattfand. Es gibt zwei Maßstäbe, mit denen gemessen wird:
- der ahistorische, rein moralisierende für den gewesenen Sozialismus
- und der sachzwangfixierte für den Kapitalismus.
Zu diesen doppelten Standards findet sich im Programmentwurf nichts. Allerdings findet sich Positives über die DDR und das ist bereits viel, gilt dies doch in der veröffentlichten Meinung schon als Blasphemie. Zugleich führt der Entwurf im Kontext mit der DDR Dummes, Schlechtes und Unverzeihliches auf und erweckt den Eindruck, allein daran sei der Sozialismus kaputtgegangen.
Man muß sich fragen, wieso dann der Kapitalismus noch existiert? Oder die katholische Kirche – oder gar die Mafia. An Mangel an Moral scheint so schnell nichts kaputtzugehen. Kaputt gehen die Schwächeren – auch wenn sie einen löblichen Anspruch haben. Und wir sind – vor allem ökonomisch – immer die Schwächeren geblieben.
Unverzeihlich war, daß wir uns das nie eingestanden haben. Statt dessen wurden Probleme gedeckelt, über Lösungswege wurde weniger und weniger gestritten, und so manche von denen, die diesen Mangel an Analyse und Streit kritisierten, wurden von uns zu Gegnern gemacht. Letztlich erstarrten wir so und haben zunehmend fehlende Gesellschafts- und auch Politikkonzepte durch Sicherheitskonzepte ersetzt. Und so etwas kann nicht funktionieren. Das gilt übrigens nicht nur für die DDR. Ich hoffe, verständlich gemacht zu haben, daß ich die DDR weder unkritisch sehe noch etwas von Nostalgie halte. Ich will nur eins: daß wir dem Versuch, in einem Teil Deutschlands ohne die verheerende Macht des Kapitals auszukommen, historische Gerechtigkeit widerfahren lassen. In diese Richtung werden auch Änderungsanträge gehen.
Und noch eine Bemerkung zum Geschichtsteil: Umgang mit der Geschichte ist zugleich ein Umgang mit ungezählten Mitgliedern der Partei. Zählen könnte man allerdings diejenigen, die uns verließen, weil sie Geschichtsklitterungen auch innerhalb der Partei nicht mehr ertrugen. Nun könnte man unterstellen, die seien alle nur unbelehrbar und nicht bereit, kritisch mit der Geschichte und der eigenen Biografie umzugehen. Aber – so einfach ist das wirklich nicht. Es stimmt ja, was im Programmentwurf steht: "Viele Ostdeutsche setzten sich nach 1945 für den Aufbau einer besseren Gesellschaftsordnung und für ein friedliebendes, antifaschistisches Deutschland ein ... Zu den Erfahrungen der Menschen im Osten Deutschlands zählen die Beseitigung von Arbeitslosigkeit und die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Frauen, die weitgehende Überwindung von Armut, ein umfassendes soziales Sicherungssystem, ein hohes Maß an sozialer Chancengleichheit im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie in der Kultur." Schon diese wenigen Sätze wirken in der heutigen Gesellschaft wie Gotteslästerung und werden durch die veröffentlichte Meinung auch so behandelt.
Deren Maßstab darf der unsrige nicht sein. Es geht – nicht nur, aber nicht zuletzt – auch darum, daß unsere älteren Genossinnen und Genossen ihren ganz persönlichen Anteil am sozialistischen Versuch auf deutschem Boden haben. Es wäre ausgesprochen gut, diesen Sachverhalt nicht zu ignorieren.
Eine abschließende Bemerkung zum Geschichtsteil des Programmentwurfs: Es gibt einen Punkt, den ich für unerträglich halte: Die dreimalige Verwendung des Begriffs Nationalsozialismus bzw. nationalsozialistisch. Das war die von den Hitlerfaschisten – und ich gebrauche diesen Begriff hier bewußt, wenngleich ich für das Programm darauf nicht bestehen würde – das war also die von den Nazis gewählte Selbstbenennung, um den Menschen, vor allem den Arbeitern vorzumachen, man wolle Sozialismus, allerdings den nationalen, auf keinen Fall einen internationalistischen. Der Begriff Nationalsozialismus ist durch und durch verlogen, und Sozialisten sollten ihn niemals verwenden. Wenn der Begriff "deutscher Faschismus" partout nicht verwandt werden soll – was mir unverständlich wäre, kennte ich nicht die Wurzeln der Ablehnung des Faschismus-Begriffs – so kann problemlos vom "Aufstieg der Nazis", von "Nazi-Barbarei" und letztlich von "deutschen Nazis" gesprochen werden. Der Begriff "Nazi" ist hinlänglich abwertend und assoziiert ausschließlich Negatives.
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