Karl Marx: »Das Interesse des Rechts darf sprechen, soweit es das Recht des Interesses ist«
Prof. Dr. Hermann Klenner, Berlin
Transkript eines frei gehaltenen Vortrags vom 5. Mai 2018, der nach wie vor im Internet gehört und gesehen werden kann unter: Marx200Konferenz
Rosa Luxemburg hat gesagt, dass sie sich nichts von einem »Hurra-Revolutionarismus« verspreche. Und dass sie überhaupt dagegen sei, den Sozialismus auf »Hurra-Weise« zu lehren und erst recht nicht zu lernen.
Wir erleben gegenwärtig das exakte Gegenteil. Wir erleben einen Marx-Hype, der jeden, der mit Marx innerlich verbunden ist, gegen den Stachel löcken lassen muss. Und ich habe auch nicht vor, mich an so einem Hype zu beteiligen. Das heißt, ich möchte, nach dem Rat von Rosa Luxemburg, die anstelle von »Hurra-Sozialismus« gesagt hat, es geht um Einsichten, um die Vermittlung von Einsichten in die Realität, und um Vermittlung von Einsichten in die intellektuelle Widerspiegelung von Realitäten. Ich bin gegen jede Form von Event-Kultur und Event-Wissenschaft. Wir haben in Berlin erlebt, dass zwei sozialdemokratische Funktionäre aus dem Westen uns mit Hilfe ihrer Event-Ideen die »Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz« kaputt gemacht haben. Und ich möchte nicht, dass Vergleichbares mit der Wissenschaft passiert.
»... geeignet, Stürme auszulösen«
Ich habe heute Nacht, kurz nach Mitternacht, um 2 Uhr etwa, gedacht, nun wird doch wohl irgendwie ein Trompetenstoß kommen oder ein Posaunenchor. Denn um 2 Uhr ist Marx geboren in Trier. Und ich dachte, das darf sich doch so ein Event-Ideologe nicht entgehen lassen. Aber die sind eben nur Event-Ideologen und haben die Tatsachen nicht einmal festgestellt, wann Marx geboren ist.
In diesem Jahr ist ein gutes Buch von Andreas Fisahn, Professor in Bielefeld, erschienen, als Einführung in das politische Denken von Marx, unter dem Titel »Staat, Recht und Demokratie«. Was das Recht anbelangt, schreibt Fisahn am Beginn etwas despektierlich, könne man Marx und Recht nur so zusammenbringen – ich bitte um Entschuldigung, das ist wörtlich – wie Kuh und Klavierspielen.
Es ist zumindest so, dass normalerweise, obwohl Marx zunächst in Bonn und ab 1836 in Berlin Rechtswissenschaft studiert hat, und zwar bei bedeutenden Gelehrten, Marx mit dem Recht nicht in Verbindung gebracht wird. Man versteht unter Marx einen in Jena promovierten Philosophen, einen mit scharfer Feder schreibenden Journalisten, einen, der ein vierbändiges, wenn man die Theorien über den Mehrwert mit dazu nimmt, Großwerk, das leider auch noch nicht mal fertig geworden ist, nämlich »Das Kapital«, produziert hat. Man versteht unter ihm den Ko-Autor des Kommunistischen Manifests und weiß meistens nicht einmal, dass Marx es war, der die Auflösung des Bundes der Kommunisten forciert und nicht nur das Programm für ihn geschrieben hat.
Aber wie gesagt: Marx war Jurist. Ich habe in der DDR 1984 ein Büchlein veröffentlicht, in dem ich eine Zusammenstellung der Marx-Engels-Äußerungen zum Recht geboten habe. Und ich habe in einem vor zwei Jahren, 2016, ebenfalls erschienenen Büchlein diese Zusammenstellung erweitert. Im wissenschaftlichen Werk von Marx ist durchgängig vom Recht die Rede, denn Marx war von Haus aus Jurist.
Er hat in Berlin bei hochbedeutenden Wissenschaftlern studiert. Wir wissen, welche Vorlesungen er besucht hat, wir wissen es auch von seinem Studium an der Bonner Fakultät. Und wir wissen auch, dass er in jungen Jahren ein 200 Bogen großes Pamphlet verfasst hat, das leider Gottes zur Gänze verloren gegangen ist. Es gibt nur ganz wenige kurze Notizen darüber. Und wir wissen auch, dass der Vater von Marx, ebenfalls Jurist, an seinen Sohn geschrieben hat: »Deine Gedanken sind nicht ohne Wahrheit, was das Recht betrifft, aber in ein System gebracht, sind sie geeignet, Stürme auszulösen.« Das war 1836 und da war Marx mit Sicherheit kein Marxist.
Hier in Berlin hat er bei den damals bedeutendsten Juristen studiert, nämlich bei Savigny sowie bei dessen – in jeder Beziehung des Wortes – Gegenspieler, bei Eduard Gans. Die beiden waren sowohl persönliche wie intellektuelle Fundamental-Gegner. Savigny war ein Anti-Judaist. Von ihm selber ist das handschriftliche Votum im Archiv der Humboldt-Universität nachzulesen – ich habe es zusammen mit meinem Kollegen aus Österreich, Gerhard Oberkofler, der es aufgespürt hat, veröffentlicht: Die Emanzipationsmöglichkeiten, die der preußische Staat 1812 den Juden gegeben hat, gelten jedenfalls nicht für Juristen und nicht für Theologen. Und Eduard Gans war Jude. Er hatte in Heidelberg bei Hegel studiert, war Links-Hegelianer. In meinen Augen ist er der erste Jung-Hegelianer. Er war nach Berlin gekommen, um die akademische Laufbahn einzuschlagen, und Savigny hat ihm das vermasselt. Savigny hatte ungeheuren Einfluss, er war Staatsrats-Mitglied, Akademiemitglied, er war persönlicher juristischer Lehrer des Kronprinzen und er hat zumindest durchgesetzt, dass Gans im katholischen Frankreich zum Protestantismus konvertieren musste, um dann in Berlin eine Professur zu erhalten. Und als das dann passierte, da hat Savigny sich sofort an den Kronprinzen beschwerdeführend gewandt und hat geschrieben, Schwan und Gans dürfen nie auf einem Teich schwimmen. Und als dann Gans tatsächlich an der Berliner Fakultät Professor wurde, zog sich Savigny aus den Fakultätsgeschäften zurück. Er hat noch Vorlesungen gehalten, aber er hat dann direkt mitgeteilt, dass er nicht mehr an den Fakultätssitzungen teilnehmen werde, das hat er dann auch nicht mehr gemacht.
Wenn man den juristischen Weg des Studenten Karl Marx betrachtet – und ich will Einsichten vermitteln, ich will keine Reklame für Marx machen, er hat es nicht nötig –, stellt man fest, dass derjenige, der den Marx zunächst am meisten beeinflusst hat, Hegel war, und dass dann aber schon Eduard Gans kommt. Ich könnte zusammengefasst etwas komprimiert und nicht hundertprozentig wahrheitsgemäß sagen, von Hegel hat Marx die Dialektik, von Gans hat er den Blick in die Realität. Und Materialist ist Marx geworden durch seinen Blick in die Realität. Und wenn ich gesagt habe, dass Marx Jurist war, dann hat das auch noch in einem Nebensinn eine Bedeutung besonderer Art, die, eigentlich merkwürdigerweise, kaum bemerkt worden ist. Marx ist nämlich zu seiner materialistischen und dialektischen Gesamtauffassung der Welt gekommen über seine Beschäftigung mit dem Recht. Nicht durch seine Beschäftigung mit der Ökonomie. Das heißt mit anderen Worten, das Juristische hat einen Stellenwert in der Entwicklung von Marx, der normalerweise nicht berücksichtigt wird in der üblichen Literatur.
Wenn man die juristischen, auch die politischen, Schriften von Marx nimmt, dann stellt man fest, es sind in der Tat juristische Probleme, die er behandelt: Es sind Zensur-Probleme, es sind Ehescheidungs-Probleme, es sind in seiner Doppel-Rezension, die die Überschrift »Judenfrage« hat, die Beschäftigung mit Menschen- und Bürgerrechten, also wiederum mit den juristischen Aspekten des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Und das von ihm erörterte Holzdiebstahlsgesetz stieß ihn zum Materialismus.
Um das noch etwas genauer zu spezifizieren: Die bürgerliche Weltanschauung ist entstanden in Auseinandersetzung mit der theologischen Weltanschauung. Das kann man bei allen großen Denkern der europäischen Aufklärung nachweisen. Wenn etwa Pufendorf in seinem Meisterwerk von 1672 schreibt, von einem christlichen Naturrecht zu sprechen sei genauso verkehrt, wie von einer christlichen Chirurgie zu sprechen, dann sieht man die Abkopplung eines rechtstheoretischen, rechtsphilosophischen Denkens von der christlichen theologischen Denkweise des Mittelalters, die bereits bei Pufendorf radikal ist und bei den späteren Aufklärern erst recht.
Hegel mit französisch-utopischem Sozialismus amalgamiert
Bei dem bedeutenden englischen Aufklärungsdenker John Locke gelten für die bürgerliche Gesellschaft sowohl: »One law for rich and poor«, also Gleichheit vor dem Gesetz, als auch: »Preservation of property«. Sicherheit von Eigentum als Sinn von Gleichheit. Wenn man den anderen Fundamentaldenker der englischen Aufklärung nimmt, Thomas Hobbes, der den Naturzustand als »bellum omnium contra omnes«, als Krieg aller gegen alle, charakterisiert, den zu überwinden die bürgerlichen Gesellschaft, die »civil society« vereinbart werden müsse, damit dieser Kampf aller gegen alle aufhört. Das ist Sinn der bürgerlichen Gesellschaft, nach den Denkern speziell der englischen Aufklärung.
Bei Hegel aber, der seine rechtsphilosophische Vorlesungen hier in Berlin hielt und mit Verzögerung (weil er die Sorge hatte, dass sie wegen der Karlsbader Beschlüsse verboten werden würden, zumal zwei seiner Assistenten verhaftet worden waren) auch hier drucken ließ, heißt es im Paragraphen 249: Die bürgerliche Gesellschaft ist der Kampfplatz der Privatinteressen aller gegen alle. Das heißt, hier liegt eine Umkehrung dessen vor, was, speziell die englische Aufklärung, unter der bürgerlichen Gesellschaft verstand. In kaum einem der vielen Bücher über Hegels Rechtsphilosophie habe ich merkwürdigerweise jemanden gefunden, der diese Bemerkung als eine entschiedene Weiterentwicklung durch Hegel gegenüber dem, was die englische Aufklärung brachte, bemerkt hat.
Und weiter noch, schlimmer noch – in meinen Augen natürlich nicht schlimmer, sondern viel schöner und besser – Paragraph 246: Die bürgerliche Gesellschaft wird durch den Antagonismus des ungeheuren Gegensatzes von Reichtum und Armut über sich hinausgetrieben. Mir juckt es in den Fingern, wenn ich die Literatur der heutigen Transformationstheoretiker oder der Hegel-Auroren lese: Warum habt ihr nicht mal meine Edition der hegelschen Rechtsphilosophie, publiziert im Jahr 1982, gelesen?
Aber jetzt geht’s weiter, natürlich viel weiter, denn Marx hat ja nicht bei Hegel die Rechtsphilosophie-Vorlesungen gehört, sondern bei Eduard Gans gehabt. Dessen Grabmal findet sich übrigens im Dorotheenstädtischen Friedhof Berlins. Wenn jemand da mal hingeht – Brechts wegen oder Hegels wegen oder Fichtes wegen – Gans liegt auch da, allerdings ganz hinten links. Ganz hinten und links, da gehört er auch hin. Eduard Gans kam also nach Berlin, er war Schüler von Hegel aus der Heidelberger Zeit und hat die rechtsphilosophische Vorlesung – ich glaube zehnmal – gehalten in Berlin, Jahr für Jahr. Und er hat kein eigenes Lehrbuch zugrunde gelegt, sondern das Lehrbuch von Hegel, der Grundlinien der Philosophie des Rechts. So hat er es auch genannt und offen gesagt.
Überliefert sind fünf Mitschriften – nicht Nachschriften, das ist ein großer Unterschied – der Gans’schen Vorlesung, die auch veröffentlicht worden sind. Und in den Mitschriften ist natürlich auch noch ein Stück mehr von dem, was Gans im Original ist, als was Hegel geboten hat. Unter anderem hat übrigens auch ein Sohn Hegels die Gans-Vorlesung mitgeschrieben. Und im Jahre 1836, in dem Jahr, in dem Marx, frisch verliebt in seine Jenny, nach Berlin kam, hat Eduard Gans, in Berücksichtigung der französischen Revolutionsereignisse von 1830 und von utopisch-sozialistischer französischer Literatur, den Grundgedanken von Hegel, dass die bürgerliche Gesellschaft durch diesen Gegensatz von Armut und Reichtum über sich hinaus getrieben werde, weiterentwickelt. Bei Hegel, das muss ich redlicherweise hinzufügen, wird nicht gesagt, zu welchem anderen als diese bürgerliche Gesellschaft selbst ist, sie hingetrieben wird. Hegel bricht da ab. Bei Eduard Gans geht es weiter. Bei Eduard Gans wird dieser immanente Gegensatz zwischen Armut und Reichtum getrieben in die Vergesellschaftung! Das ist der Einfluss der französischen Sozialisten. Gans hat Hegel amalgamiert mit französisch-utopischem Sozialismus. Und das ist eine ungeheure Weiterentwicklung, die man erst einmal registriert haben muss, um zu verstehen, welche intellektuellen Einflüsse Marx dann weitergebracht haben in dessem Denken und Nachdenken.
Stufenweise Befreiung, auch unter Erwartungsdruck
Ich will jetzt auf einen schwerwiegenden Fehler von Marx kommen. Denn jeder anständige Marxist wendet sich selbstverständlich gegen jedes personenkultische Event-Verehrungs-Quatschtheater, dem wir gegenwärtig ausgeliefert sind. Und natürlich könnte man auch sagen, es bleibt irgendwas hängen. Diese Gedankenentwicklung bei Eduard Gans hat in der Tat geholfen, fundamentale Veränderungen mit zu bewirken.
Hegel war durch Savigny und durch Schleiermacher gehindert worden, Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu werden. Es wurde also von Linkshegelianern ein akademischer Nebenverein in Ergänzung zur Akademie der Wissenschaften, eine spezielle Gesellschaft, gegründet. Eduard Gans war der Spiritus Rektor, er hat auch den Generalsekretär gespielt, er hat den Verlag besorgt. Gans war auch dabei, als Hegel 1820 in Dresden in kleiner Runde auf einmal ein Glas Sekt »auf diesen Tag« trank und alle guckten dumm rum, sogar Eduard Gans wusste nicht, was los ist. – Am 14. Juli war die Bastille gestürmt worden. Also, auch diese persönlichen Dinge gilt es zu betrachten.
Aber ich habe ja gesagt, ich will auch auf einen fundamentalen Fehler kommen, den Marx über einige Jahre gehabt hat. Und zwar hat er in seiner Doppel-Rezension »Judenfrage«, die man übrigens genauso gut als »Christenfrage« oder überhaupt »Religiösenfrage« bezeichnen kann, die Menschenrechtserklärungen, speziell innerhalb der Vereinigten Staaten, also einiger Staaten in den USA, und der französischen Revolution, speziell die Robespierre’sche »Déclaration ...«, also die von 1793, analysiert. Und er sprach summa summarum sehr abwertend von ramponierten Bourgeois-Idealen.
Und da ist ja was Wahres dran. Das erleben wir bis heute. Wenn man das heutige Völkerrecht betrachtet, so ist das ja ein fantastisches Konglomerat von Normen, wenn man bedenkt, was nach 1945, nach dem opferreichsten Krieg der bisherigen Weltgeschichte, zustande gekommen ist. Und nimmt man die »Universal Declaration« von 1948 oder die Satzung der Vereinten Nationen, sind die ja zehn Kilometer links von dem, was wir an Realität erleben in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen. Gregor Schirmer hat mit Recht einmal die Frage aufgeworfen, und sie eindeutig beantwortet: Hat das überhaupt noch Sinn mit dem Völkerrecht? Er hat sich vehement auf die Seite des Völkerrechts gegen die Unrechtspraxis der Vertreter, die eigentlich die Vertreter des Völkerrechts sein müssten, gestellt. Und er hat völlig Recht in meinen Augen. Ein amerikanischer Völkerrechtsmarxist, China Miéville heißt er, ist sehr unbekannt, der hat ein Buch geschrieben mit dem Titel »Between Equal Rights«. Und »Between Equal Rights« ist ein Zitat aus der englischen Übersetzung aus »Das Kapital«. Und die Weiterführung bei Marx lautet »between equal rights force decides«. Und das ist eine ganz wichtige Seite. Ich schweife etwas ab, aber es ist wichtig für die Erkenntnis, die wir haben.
Bei Marx ist das, was die Kapitalisten sich vom Mehrwert aneignen, höchstes Recht, wörtlich im »Kapital«: »Es ist das höchste gute Recht der Kapitalisten, sich den Mehrwert anzueignen, den die Arbeiter erwirtschaftet haben«. Das ist kapitalistisches Recht, höchstes Recht. Aber was zum Beispiel die Länge des Arbeitstages anbelangt, auch das im »Kapital« Band 1, was die Länge des Arbeitstages anbelangt: »between equal right force decides«. Das heißt, da ist der Gegensatz fundamental. Und um nochmal auf die ramponierten Bourgeois-Ideale zu sprechen zu kommen: Wir haben von Anfang an eine Doppelzüngigkeit aller bürgerlichen Ideal-Vertreter von Anfang bis Ende. Der Autor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung Thomas Jefferson, der in der Einleitung schreibt, jeder Mensch ist von seinem Gott ausgerüstet mit gleichem Recht und so weiter und so weiter, inklusive Streben nach Glück, »pursuit of happiness«, der war Sklavenhalter. Der hat gar nicht daran gedacht, seine Sklaven zu entlassen, obwohl er diesen Text geschrieben hat. Das war 1776. Als Thomas Jefferson 1826 starb, 50 Jahre danach, hatte sich die Zahl seiner Sklaven verdoppelt, also von wegen Redlichkeit. War das nicht ein ramponiertes Bourgeois-Ideal? Selbst Robespierre, den ich moralisch völlig anders bewerte als Jefferson, selbst Robespierre sagte in seinen großen Konvents-Reden, ungeheuer wichtig, aber: »Ihr Eigentümer, Dreck-Seelen, ich möchte euer Eigentum nicht antasten«. Das heißt, auch bei ihm ist Eigentum Menschenrecht, wenn Sie wollen, das fundamentale Menschenrecht. Ähnlich wie bei John Locke, »preservation of property«, kein Frauenwahlrecht und so weiter. Ich will nur sagen: ramponierte Bourgeois-Ideale ziehen sich durch. Ich brauch für die Gegenwart nicht weitere Beispiele zu wählen, die kennen Sie selber zumindest so gut wie ich.
Der Gegensatz von Marx, von der juristischen Seite her basierend auf Hegel und Eduard Gans, über den ich spreche, der hat unter anderem fundamental mit der Frage der Stellung von Savigny einerseits und Gans andererseits zum damals geltenden Recht, zum römischen Recht oder zu Preußens Allgemeinem Landrecht von 1794 zu tun. Nun muss ich sagen, Savigny war kein großer Freund des preußischen Allgemeinen Landrechts. Warum? In den Einleitungspartien des preußischen Allgemeinen Landrechts, darüber hat Uwe Jens Heuer promoviert, eine sehr gute Promotion, sind die Ideen der französischen Aufklärer drin. Bloß wenn es dann konkret wird, ist da eben die Ausklammerung der Juden, der Zigeuner, der Leibeigenen usw. Leibeigene waren es dann nicht mehr so sehr, das waren eben nur noch diejenigen, die in dem Gut arbeiteten und die also ihre Pferde, wenn sie welche hatten, zur Verfügung zu stellen hatten, wenn der Großgrundbesitzer rief. Für Savigny war eigentlich das preußische Allgemeine Landrecht schon angekränkelt von den Auffassungen speziell der französischen Aufklärer, die in der Berliner Mittwochsgesellschaft präsent waren. Moses Mendelssohn an der Spitze, der nicht Mitglied war, aus bestimmten Gründen, weil er die Speisevereinbarung da nicht einhalten konnte, infolge seines Glaubens, der aber Ehrenmitglied war. Da war also Savigny dagegen. Der war im Grunde genommen für das überkommene Recht, und das war weitestgehend römisches Recht in einem eben vorbürgerlichen Zustand. Und er hat das faktische, das tatsächliche Recht – Marx schreibt es so – er hat die Niederträchtigkeit von heute durch die Niederträchtigkeit von gestern legitimiert. Genau das ist der Punkt.
Und um jetzt in kleinen Sprung in die Gegenwart zu bringen. Im Dezember vorigen Jahres weilte Israels Premier uneingeladenerweise in Brüssel bei den europäischen Außenministern. Und er redete dann natürlich. Stolz sagte er, seit 22 Jahren ist wieder mal ein israelischer Premier in Brüssel. Und was sagt er? Die Europäer sollen aufhören, die Palästinenser zu verhätscheln, das ist wörtlich, sie sollen stattdessen begreifen, dass die Grundlage des Friedens die Anerkennung der Realität sei. Und nun sei nun einmal in Jerusalem der Sitz des Parlaments, des Präsidenten und des Premiers, also ist das die Faktizität, die anzuerkennen die Grundlage eines möglichen Friedens ist.
Eduard Gans würde solches Argumentieren einen Verpuppungsprozess des Faktischen zum Recht nennen. Später wird man das als normative Kraft des Faktischen bezeichnen. Das heißt, die Rechtfertigung der Gewalt, weil sie Gewalt ist, weil sie sich durchgesetzt hat. Das ist natürlich der Gegensatz zu dem, was die Aufklärung mit all ihren großen Gedanken erreichen wollte. Der Versuch, die tatsächlichen Verhältnisse zu legitimieren oder zu illegitimieren, und zwar mit Hilfe von Vernunft.
Bei Hegel – was ich jetzt zitiere, ist aus seiner letzten Vorlesung, drei Tage vor seinem Tod: »Freiheit ist die Grundsubstanz von allem, was gegenwärtig zu geschehen hat«. Freiheit. Natürlich kann man sagen, das ist eine Phrase. Es ist bei Hegel keine Phrase. Ich hab ja zwei Paragrafen zitiert, das Berühmteste in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts ist vielleicht aus der Vorrede, in der Hegel sagt: »Das Vernünftige ist das Wirkliche und das Wirkliche ist das Vernünftige«. Der vermutlich am häufigsten missverstandene Satz von Hegel. Es gibt bei Heinrich Heine (der ja bei Hegel wie auch bei Gans Vorlesungen gehört hat) in der »Lutetia« eine wunderbare Stelle, in der Heine von seiner (erfundenen) Begegnung mit Hegel berichtet: Ich war also beim großen Meister, und er hatte etwas Beklemmung mit dem Identitätssatz von Vernünftigkeit und Wirklichkeit. Aber, so habe Hegel gesagt, nachdem er sich umgesehen hat, ob auch niemand spitzel-weise zuhört: es hätte ja auch heißen können oder man müsse es so verstehen: das Vernünftige muss sein. Muss sein, also diese Identität von Wirklichkeit, die bei Hegel etwas anderes ist als Existenz, etwas fundamental anderes.
Ich bin an den Punkt gekommen, an dem ich von einem fundamentalen Fehler von Marx sprach. Es ist überhaupt charakteristisch für viele Sozialisten und Kommunisten, dass sie dann Fehler machen, wenn sie die Wirklichkeit für fortgeschrittener halten als sie ist. Marx und Engels (auch August Bebel, der drei Tage vor der blutigen Beendigung der Pariser Kommune mit ihren 72 Tagen aus dem Knast entlassen worden war) haben eine Jubelhymne auf die Pariser Kommune in der illusionären Annahme gehalten, dass nun die proletarische Revolution gesiegt habe. Es gibt von Marx sogar Briefe aus London von 1852, in denen er enthusiastisch schreibt: »Heute hat die englische Revolution begonnen«. Das ist dieser Erwartungsdruck. Und was nun diesen fundamentalen Fehler, von dem ich sprach, betrifft, so hat Marx eben nicht nur die Menschenrechtserklärung der französischen Revolution für ramponierte Bourgeois-Ideale gehalten, sondern auch gesagt, wir in Deutschland haben diese Ideale gar nicht nötig. Bei uns wird es keine stufenweise Befreiung mehr geben, wir, im Unterschied zu den Franzosen, wir machen die Sache gleich. Die große Sache. Das waren ein paar Jahre, da war er tatsächlich dieser Meinung. Er hat dann später aufgegeben und in den späteren Schriften von ihm finden Sie natürlich seine Rechtfertigung dessen, was große Demokratie sein muss. Und das geht eben nicht ohne den Fortschritt, den die bürgerliche Revolution gebracht hat.
Was man heute voreilig Rechtsstaat nennt
Und ich will nun noch etwas zu einem Autoren sagen, den ich all denen sehr empfehle, die ihn nicht kennen, und der zugleich mit einer persönlichen Niederlage von mir zu tun hat. Als Student, der ich keine Lehrer hatte, die Marxisten waren, habe ich in der Bibliothek ein mir unbekanntes, mir wichtig erscheinendes Buch gefunden: Paschukanis »Allgemeine Rechtslehre und Marxismus«. Und natürlich habe ich es ausgeliehen und, habe es mir sofort abschreiben lassen, genauso, wie ich mir auch die ersten 70 Seiten der »Deutschen Ideologie« abschreiben ließ, weil man die damals noch nicht kaufen konnte.
Und als ich später etwas etablierter war, habe ich versucht, die »Allgemeine Rechtslehre und Marxismus« von Paschukanis herauszugeben. Und das wurde dann zu einer Niederlage meines Lebens. Ich wurde immer zurückgepfiffen, »geht nicht, geht nicht, geht nicht«. Die Russen, die Sowjets, wie man damals zu sagen pflegte, die haben es nicht wieder aufgelegt; Paschukanis sei ein Trotzkist gewesen und was weiß ich was. Ich wusste damals auch nicht, dass Paschukanis sowie derjenige, der 1924 die deutsche Ausgabe der »Allgemeinen Rechtslehre und Marxismus« herausgebracht hat, der jüdische Kommunist Felix Halle, Opfer von Stalins Willkür-Justiz in den 1930er Jahren geworden waren. Geglückt ist mir eine Paschukanis-Edition erst nach der Wende, 1991 oder 1992, denn dann erst habe ich in Freiburg im Breisgau einen Verlag gefunden, der eine ganze Schriftenreihe von mir publiziert hat, unter anderem natürlich den Paschukanis. Sein Werk geht von dem Grundgedanken des »Kapitals« aus. Wer die MEW-Bände kennt, Marx-Engels-Werke Band 23, »Kapital« Band 1, Seite 99 – das ist die zentrale Passage, auf die sich Paschukanis beruft und von der er eine marxistische Rechtstheorie entwickelt. Das ist sehr einseitig, ich bin nicht der Meinung, dass das vollendet geglückt ist, aber es ist großartig in seiner Konzeption.
Und genau das ist der Punkt, von dem aus ich jetzt weiter argumentieren möchte. Natürlich waren Marx, und erst recht Engels, der Meinung, dass die Gesellschaft nicht befreit werden kann, wenn nicht jeder Einzelne befreit wird. Das heißt, eine Konzeption, die fundamental ist für die Gestaltung dessen, was man heute voreilig Rechtsstaat nennt. Das ist eine der zentralen Erkenntnisse, die Rosa Luxemburg bei ihrer kritischen Betrachtung der russischen Revolution immer wieder erwähnt hat. Man kann mit dem Recht unterdrücken, aber man darf nicht den Quell unterdrücken, der die Fortentwicklung der ganzen Gesellschaft, ja der Menschheit garantiert. Und das ist die Geistesfreiheit als Teil der persönlichen Freiheit. Das ist eine fundamentale These von Luxemburg. Man müsse zwischen einerseits der Enteignung von Produktionsmitteln und andererseits der Entmündigung in der Form einer Unterdrückung der Meinungsfreiheit, also der Quelle, die den weiteren Fortschritt erst ermöglicht, unterscheiden. Ich versäume nicht hinzuzufügen, dass Rosa Luxemburg die heftigsten Vorwürfe nicht an Lenin richtete, sondern an die deutschen Kommunisten und an das internationale Proletariat.
Recht als ein Maß der Macht
Es hat in der DDR, um diese Schwäche auch von einer anderen Seite her zu beleuchten, tatsächlich als herrschende Meinung über Jahrzehnte gegolten, dass das Recht ein Mittel der Macht ist. Das ist nicht falsch. Aber wenn man nicht ergänzend hinzufügt, dass in einer sozialistischen Gesellschaft das Recht auch ein Maß der Macht sein muss, dann wird die Diktatur des Proletariats undemokratisch. Zur sozialistischen Demokratie gehört ein geregelter Freiraum des Einzelnen, gehören seine subjektiven Rechte. Das sozialistische Recht kann nur als Mittel und als Maß von Macht den erforderlichen Fortschritt bringen. Sonst bricht er zusammen, wir haben es erlebt.
Weitere Einzelheiten will ich eigentlich hier nicht mehr zum Besten geben. Ich stelle fest, es reicht. Aber da wir Rosa Luxemburg ins Spiel gebracht haben, die große Theoretikerin, die ich ja auch schon zwei-, dreimal erwähnt habe, will ich dann doch etwas sagen, was vielleicht etwas überraschen wird. In den letzten Jahren und Jahrzehnten ist Rosa Luxemburg einseitig ins Spiel gebracht worden als Kritikerin der russischen Revolution, einseitig als Negation dessen, was Lenin gedacht und getan hat. Gerade deshalb möchte ich etwas ganz anderes hier von ihr bringen und es für fundamental erklären. Jetzt kann ich nicht mehr frei sprechen, ich muss ablesen. Ich bitte um Entschuldigung. Rosa Luxemburg. 1916.
»Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit –, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.«
Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Anhang (nur in der Online-Fassung des Beitrags)
Marx/Engels über juristische Probleme:
Karl Marx / Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA), Bd. 1 ff., Berlin, seit 1975:
Bemerkungen über die neueste preußische Zensurinstruktion (Bd. I/1, S. 97-118).
Debatten über Preßfreiheit (Bd. I/1, S. 121-169).
Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz (Bd. I/1, S. 199-236).
Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule (Bd. I/1, S. 191-198).
Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Staatsrecht. (Bd. I/2, S. 3-137).
Zur Judenfrage (Bd. I/2, S. 141-169).
Zur Kritik der preußischen Preßgesetze (Bd. I/3, S. 376-385).
Die Lage Englands. Die englische Konstitution (Bd. I/3, S. 565-589).
Die deutsche Reichsverfassungskampagne (Bd. I/10, S. 37-118).
Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 (Bd. I/10, S. 119-196).
The Constitution of the French Republic, November 4, 1848 (Bd. I/10, S. 535-548).
Revolution and Counter-Revolution in Germany (Bd. I/11, S. 3-85).
Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte (Bd. I/11, S. 96-189).
Capital Punishment (Bd. I/12, S. 24-27).
Exzerpte zur Geschichte der Diplomatie (Bd. IV/12, S. 5-368)
Exzerpte zur Geschichte Spaniens (Bd. IV/1, S. 369-946)
Die britische Konstitution (Bd. I/14, S. 170-172).
Die Parlamentsreform (Bd. I/14, S. 365-368).
Der Bürgerkrieg in Frankreich (Bd. I/22, S. 179-226).
[Rechtsentwicklung, Naturrecht, Gerechtigkeit], (Bd. I/24, S. 12-17, 65-81).
Das Reichsmilitärgesetz (Bd. I/24, S. 357-364).
[Über Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit] (Bd. I/25, S. 9-25).
Moral und Recht (Bd. I/27, S. 285-316).
[Über die Entstehung von Staatsordnungen], (Bd. I/29, S. 214 f., 223 f., 243 f.).
[Über die Gleichberechtigung von Mann und Frau], (Bd. I/29, S. 185-187).
Juristen-Sozialismus (Bd. I/31, S. 397-413).
[Über Produktions- und Rechtsverhältnisse], Bd. II/2, S. 100-101).
[Über Warenproduktion und Recht], (Bd. II/10, S. 82, 160, 210, 357, 484, 552).
***
Marx / Engels, Werke (MEW), Bd. 1-42, Berlin 1956-1983:
Kritik des Hegelschen Staatsrechts (Bd. 1 in der 16., überarbeiteten Auflage, Berlin 2006, S. 203-333).
Die Judenfrage (Bd. 2, S. 91-95, 99-104, 112-125).
Enthüllung der Geheimnisse des Rechts (Bd. 2, S. 187-202).
Das Recht. Das Gesetz. Das Verbrechen (Bd. 3, S. 297-331).
Die Verletzung der preußischen Verfassung (Bd. 4, S. 18-19).
Die preußische Verfassung (Bd. 4, S. 30-36).
Der Status quo in Deutschland (Bd. 4, S. 40-57).
Drei neue Konstitutionen (Bd. 4, S. 514-518).
Der preußische Preßgesetzentwurf (Bd. 5, S. 240-242).
Der Bürgerwehrgesetzentwurf (Bd. 5, S. 243-252).
Der Gesetzentwurf über die Aufhebung der Feudallasten (Bd. 5, S. 278-283).
Die preußische Konterrevolution und der preußische Richterstand (Bd. 6, S. 138-144)
[Zwei Prozeßreden] (Bd. 6, S. 223-257).
Drei neue Gesetzentwürfe (Bd. 6, S.339-343).
Die neue preußische Verfassung (Bd. 6, S. 483-484).
Die neue Standrechts-Charte (Bd. 6, S. 493-502).
Das göttliche Recht der Hohenzollern (Bd. 12, S. 95-101).
Das neue Gesetz über die Bank von Frankreich (Bd. 12, S. 222-225).
Über die Folterungen in Indien (Bd. 12, S. 268-273).
Die Franzosenprozesse in London (Bd. 12, S. 425-433).
Die Lage in Preußen (Bd. 12, S. 613-620).
Über das Erbrecht (Bd. 16, S. 367-369, 559-562).
Die Preß- und Redefreiheit in Deutschland (Bd. 17, S. 283-285).
Über die Nationalisierung des Grund und Bodens (Bd. 18, S. 59-62).
Der Austauschprozeß [als Rechtsverhältnis] (Bd. 23, S. 99-108).
[Über Gerechtigkeit, Regel, Ordnung und Freiheit], (Bd. 25, S. 351 f., 801 f., 828).
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