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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

»Ein ganzes Volk ist an ein Riesenkreuz genagelt . . .« [1]

Werner Wüste, Wandlitz

 

Zwei Jahre mögen vergangen sein seit jenem Gespräch, das den Anstoß gab: Mit Freund Bruno, Theatermann durch und durch, lange schon im »Ruhe«stand, dennoch hellwach. Unser Thema war der latente Antisemitismus.

Achtzig Jahre vergingen seit dem von seinen Urhebern verharmlosend mit »Reichskristallnacht« bezeichnetem Pogrom; angeblich »spontan« geäußerter »Volkswille«.

Muss ich hier polemisieren? Argumentieren? Wikipedia listet 103 Maßnahmen/Gesetze gegen Juden im »Dritten Reich« 1933 – 1943. Die auch hier so bezeichnete »Reichskristallnacht« steht an 46. Position. Fünfundvierzig »gegen Juden gerichtete Maßnahmen« hatten also bereits den gewünschten Hass organisiert.

Bruno sagte mir zwei Sätze. Zuerst: »Das musst du lesen!« Dann: »Wenn etwas von ihm bleibt, dann die Übertragung des Großen Gesangs!«

Er sprach von Biermann. Den Generaldirektor des Volkseigenen Kombinats Carl Zeiss Jena hatte er nicht im Sinn.

Ich war äußerst skeptisch. Wahrscheinlich sogar abweisend. Bruno redete mir zu. Er schrieb mir den genauen Titel auf: Jizchak Katzenelson, Dos lied vunem ojsgebargetn jidischn volk. Das Buch zu bekommen kostete einige Mühe. Sowieso mochte ich den Kerl nicht.

I.

Das war nicht immer so. Meine Abneigung hatte Biermann sich »ehrlich verdient«. Nur in kleinen Schritten verabschiedete ich mich von meiner anfänglichen Sympathie.

Und das muss ich erzählen.

Walter Besenbruch war ein Freund meines Vaters aus jungen Jahren. Sie hatten sich im KJVD in Barmen gefunden. Wie so manche freundschaftliche Beziehung unterbrach der Machtantritt der Nazis auch ihre. Die Regeln der Konspiration waren streng. Ihre Wiederbegegnung fand 1939 im KZ Moorlager Emsland statt.

»Ich kam sofort ins Revier ... Der erste hilfsbereite Geist, der mich auszog und ins Bett steckte, war ein Barmer Jung. Walter Besenbruch.«

Er hat meinen Vater ganz bestimmt vor Schlimmerem bewahrt, vielleicht ihm das Leben gerettet.

Als wir uns, 10 Jahre nach erster Begegnung, wieder trafen und schließlich Freunde wurden, war er Professor an der HU, war ich Student, und mein Vater lebte bereits nicht mehr.

So viel in kürzester Kürze zum Beleg, dass es ein ernster, reifer, gebildeter, politisch verantwortungsbewusster Mensch war, der meine Begegnung mit Biermann vermittelte.

Nein, keine direkte, keine persönliche. Aber die Begegnung mit Biermannschen Liedern. Und die gefielen mir. Die waren frisch, frech, ungewöhnlich; das waren Töne, die, wie ich fand, der DDR gut taten; die manches Krampfige, »Bierernste«, manches Dogmatische überspielten und auflösten. Sie waren nicht unsympathisch.

Zunächst. Und für eine gewisse Weile.

Auch gegen seine spöttischen Töne hatte ich nichts einzuwenden. »Ein gewisser Chef vom Fernseh'n drückt' mir neulich feucht dieHand ...« Bald aber ging manches an die Grenze. An die Grenze des »guten Geschmacks« wie auch des Tolerierbaren. Und darüber hinaus. Sein Spott wurde böse. Biermann gab sich das Image und den Ruf eines DDR-Feindes. Das trug ihm auch Sympathien ein. Und der DDR die heimliche, boshafte Häme von Seinesgleichen.

Geradezu empört hatte mich seine Verunglimpfung der »Alten Genossen«. Das war dann auch der Bruch, vielleicht die »Sollbruchstelle«(?).

Man kann, auch aus heutiger Sicht, darüber streiten, ob und wie berechtigt seine Ausweisung war bzw. das Verbot seiner Wiedereinreise. Klug jedenfalls fand ich das damals nicht. Und unbestreitbar ist, dass sie für ihn unschätzbare Starthilfe »im Westen« bedeutete, ihn als Märtyrer aufbaute, als Vehikel des Antikommunismus.

Und den sollte ich lesen? Und ernst nehmen? Der sollte Gültiges über Antisemitismus und Judentum geliefert haben?

II.

Doch. Er hat.

Mit drei Kapiteln begleitet Biermann den von ihm übertragenen »Großen Gesang«. Einleitend: KATZENELSON, EIN JUDE, nachbetrachtend: KATZENELSON, A MENSCH: ... das heißt auf deutsch übersetzt nicht etwa ein Mensch, sondern bedeutet: ein guter Mensch, ein menschlicher Mensch – mitfühlend, heiter, neugierig, hilfsbereit und ein bißchen verrückt.

Dem dritten Kapitel, KATZENELSON, DER JID, in dem es um die Arbeit des Übersetzers geht, entnehme ich diese Erläuterung: Das Wort »hargenen« kommt aus dem Hebräischen und heißt töten. Das jiddische Wort »Harige« bedeutet Massaker. Mit der deutschen Vorsilbe »ojs« – also: »aus-getötet« wird das hebräische Wort dramatisch verstärkt, verschlimmert. Das Wort »ojsgeharget« übersetzt sich dann mit aus-gelöscht, aus-gemerzt, aus-gerottet, ab-geschlachtet, hin-gemetzelt, um-gebracht, vernichtet, ermordet.

Keinen Tag meines Lebens würde ich dafür verschwenden, um meinem deutschen Volk abermals zu erklären, daß es grad eben mein jüdisches Volk umgebracht hat. Die magische Zahl 6 Millionen will keiner mehr hören ... Und ob Du, lieber Leser, Dich beknirschst oder berühmst, es würde meinen Vater nicht wieder lebendig machen.

Biermann stellt uns den jüdischen Dichter vor, erzählt über dessen Leben. Und über sein Sterben.

Die Warschauer Ghettokämpfer hatten ihn mitten im Aufstand auf die arische Seite geschmuggelt und ihm honduranische Papiere verschafft. Sie wollten unbedingt, daß wenigstens dieser Mensch am Leben bleibt ... Seine Freunde hofften, er könnte später einmal die furchtbare Wahrheit über den Weltuntergang des jüdischen Volkes so sagen, daß die Nachwelt ihm glaubt, obwohl er die Wahrheit spricht.

Katzenelson wurde in ein sogenanntes Vorzugs-KZ in das französische Städtchen Vittel gebracht. Dort gelang es ihm, sein Epos niederzuschreiben, sein Poem in 15 Gesängen.

Der Hunger, die Kälte, der Schmerz um seine Frau Chana und seine Söhne Ben und Jom, die alle in Treblinka vergast worden waren ... die panische Sorge, daß jeder Tag der letzte sein könnte, lähmender Zorn und wilde Trauer – alle Widrigkeiten der Welt trieben ihn an, und so schrieb er vom Oktober 1943 bis zum darauffolgenden Januar sein Poem nieder.

... bis er dann doch nach Osten deportiert wurde. Er starb am Tag seiner Ankunft, es war ein Erster Mai in Auschwitz.

III

Dritter Gesang, IHR TAGE MEINES LEIDS

Beobachtet hab ich die Büttel. Hinterm Fenster stand ich da

Die Prügler, die Geprügelten habe ich hilflos angegafft

Ich krümmte mich vor Scham. O unsre Schande, das ist wahr:

Man hat ja auch mit Hilf der Juden all die Juden weggeschafft

Getaufte Juden, Stiefel blankgewichst. Kein Stück sentimental

Auf ihren Mützen sahn die Davidsterne schon wie Hakenkreuze aus

Die konnten nicht mal richtig Jiddisch, mies! Sie stießen uns brutal

Die Treppen runter, zerrten die Versteckten aus der Wohnung raus

Karrn voll mit Juden, ich verrenk die Hände, rauf mein Haar

Die Schweigenden – ihr Schweigen ist der schrillste Schrei

Ihr Blick spricht Bände: Ist das hier ein Alptraum, ist es wahr?

Und drumherum, o Schande: stiefelstramm die Judenpolizei

Sechster Gesang, DIE ERSTEN

Zuerst warn Kinder dran mit Sterben. Waisenkinderchen, verlaßne Brut

Sie warn das Liebste, Schönste, was die finstre Erde je gebar. Aus ihrem Angesicht

Aus diesen Waisenkindchen hätte uns erwachsen können Lebensmut

Aus diesen traurigdüsteren Gesichtchen hätte uns gestrahlt ein Morgenlicht

Als es ans Sterben ging, warn sie die ersten. Als der Tod zu seinem Schlachtfest fuhr

Warf man auf Wagen sie wie'n Haufen Dreck. Die Ärmchen schwach, doch stark

Die Seelchen. Weggeschleppt und feige umgebracht, blieb nicht die kleinste Spur

Von meinen Liebsten. Weh ist mir, wund bin ich und verwüstet bis ins Mark

Vierzehnter Gesang, DAS ENDE

Wir werden weniger von Tag zu Tag. Wer stirbt hier noch normal

Schön sterben wie man früher starb, das schafft heut keiner mehr

Den einen trifft 'ne Kugel auf der Straße, 'n andrer wird zerhackt

Doch gibt’s auf dieser Welt noch Trost.

So mancher Lump ward abgeknallt wie 'n toller Hund

Denn besser noch, zehn schlechte Juden sterben als ein Nazischwein

Doch manchen Geldsack lassen unsre Leute leben. Man kassiert

Bei den Verrätern lieber eine Steuer: Waffen kaufen kostet Geld

Fünfzehnter Gesang, NACH ALL DEM

Und meine Kommunist'n, Hitzköpf! Nie mehr machen die sich breit

Bekämpfen nie mehr meine treuen, freien Briderlech vom BUND

Ach Die! Und Unsere! Dabei trugen beide gleich und stolz das Joch

Der Welt. Und jeder von uns hat gekämpft, gelitten und gestrebt

Chaluzim [2], unsre Jungen haben an die Menschheit sich verschenkt

Verflucht hab ich so oft, daß ihr euch beißt wie Katz und Hund

Mit unsern Roten. Doch nun jammert mich das Ende dieses Streits

Denn würdet ihr noch streiten, wüßt ich wenigstens: Ihr lebt.

 

Und nun schließe für einige Minuten die Augen, verehrter Leser, und versuche, Dir das Grauen vorzustellen, von dem Du eben Bericht gelesen hast! Und frage Dich: Wie kann man damit leben? Wie soll die Menschheit mit der Unmenschlichkeit umgehen? - Nein, kleiner geht's nicht. Es ist eine, es ist überhaupt die Menschheitsfrage.

»Aufarbeiten«? Eine gängige Floskel. Unverbindlich. Beliebig. Jeder kann sich vorstellen, was er sich vorstellen will.

Und dann? Wenn »aufgearbeitet« ist? Schlussstrich ziehen?

Ich lasse Dich jetzt allein mit diesen Fragen, verehrter Leser. Denn Du musst sie auch für Dich allein beantworten! Muss jeder. Niemand kann es Dir abnehmen.

 

Anmerkungen:

[1] Aus dem neunten Gesang von Jizchak Katzenelsons »Großer Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk«, 1943/44 geschrieben und 1994 ins Deutsche übertragen.

[2] Chaluzim = Pioniere beim Aufbau Israels.

 

Mehr von Werner Wüste in den »Mitteilungen«: 

2018-08: So waren die Zeiten

2018-04: »Und doch gefällt mir das Leben ...«

2017-07: Du verstehst, das Harte unterliegt