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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

»Braucht Deutschland eigene Atomwaffen?«

Dr. Reiner Zilkenat, Hoppegarten

 

Zur Debatte um eine eigenständige deutsche Atommacht

 

Am 27. November 2016 überraschte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) die Leserin­nen und Leser mit einem Kommentar aus der Feder ihres Herausgebers Berthold Kohler. Allen Ernstes wurde dort unter der Überschrift »Das ganz und gar Undenkbare« vorge­schlagen, über den eigenständigen Besitz deutscher Atomwaffen nachzudenken. [1]  Als An­lass diente der nur wenige Wochen zurückliegende Wahlsieg von Donald Trump und seine mehrfach geäußerte Überlegung, die militärische Präsenz der USA in Europa deutlich ver­ringern zu wollen. Der Autor des Kommentars äußerte die Befürchtung, dass in diesem Zu­sammenhang auch die in Deutschland gelagerten Nuklearwaffen abgezogen und die »Ab­schreckung« potenzieller »Feinde«, deutsches Territorium anzugreifen, damit nicht mehr existieren würde. Deshalb, so seine Schlussfolgerung, müsse die BRD ernsthaft überlegen, eigene Atomwaffen zu produzieren, um dadurch einen Abzug entsprechender US-amerika­nischer Systeme zu kompensieren. Für die BRD seien »höhere Ausgaben für die Verteidi­gung, die Wiederbelebung der Wehrpflicht, das Ziehen roter Linien« unausweichlich, eben­so »das für deutsche Hirne ganz und gar Undenkbare, die Frage einer eigenen nuklearen Abschreckungsfähigkeit.« Was zunächst wie der Gedanke eines einzelnen, offenbar geistig verwirrten FAZ-Journalisten interpretiert werden konnte, wurde jedoch Gegenstand von Be­richten und Diskussionen unter Publizisten, Wissenschaftlern und Politikern im In- und Ausland. [2] Es lohnt, aufgrund des für den Weltfrieden außerordentlich gefährlichen Diskus­sionsgegenstandes, eine kurze Zwischenbilanz der seit Ende 2016 in verschiedenen Medi­en geführten Debatte zu ziehen.

Büchse der Pandora geöffnet

Fast zeitgleich mit Kohler äußerte sich der damalige Obmann der CDU/CSU-Bundestags­fraktion im Bundestag, Roderich Kiesewetter, zur Thematik. Er habe, so berichtete der »Economist«, die Forderung aufgestellt, dass angesichts der Wahl Trumps zum US-Präsi­denten »ohne Tabus« über die neuen Aufgaben der Bundeswehr diskutiert werden müsse, wozu auch die Verfügung über eigenständige deutsche Atomwaffen gehören müsse. Dass Kiesewetter sich »falsch verstanden fühlte«, versteht sich fast von selbst. Es sei ihm ledig­lich darum gegangen, wie zukünftig »ein europäischer nuklearer Schutz organisiert und wie eine britisch-französische Nuklearkooperation finanziert werden könnte.« [3] Im Klartext: In welchem Umfang Mittel aus dem Bundeshaushalt für die milliardenschweren atomaren Waffen und Trägersysteme Großbritanniens und Frankreichs zur Verfügung gestellt werden sollten. Dass sich dabei automatisch die Frage nach einer »atomaren Mitbestimmung« des Einsatzes dieser Waffen durch den Mitfinanzier BRD stellen würde, sei nur am Rande be­merkt.

Auch Karl-Heinz Kamp, der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, einer »Denkfabrik«, die als Beraterin der Bundesregierung tätig ist, gab seine Ansichten zu Proto­koll. Kamp, ehemals Referent der Konrad-Adenauer-Stiftung, Dozent am NATO Defense College und Mitglied des Planungsstabes im Auswärtigen Amt, hatte offenbar die Aufgabe zu erfüllen, die aufgeschreckten Geister wieder zu beruhigen. In einem Artikel der »Neuen Zürcher Zeitung« vom 17. März 2017 und in einem Fernsehinterview [4] lobte er die Teilhabe der BRD an den in Deutschland gelagerten nuklearen Waffen der USA (»Informationen«, »Konsultationen«, »gemeinsame Übungen«), schwadronierte jedoch zugleich über die Not­wendigkeit »neuer Anpassungen« dieser »Teilhabe« angesichts der vor allem angeblich durch die russische Politik zu verantwortenden »Wiederkehr der nuklearen Abschreckung« aus den Zeiten des Kalten Krieges. Doch dieser Beschwichtigungsversuch war vergeblich. Die Büchse der Pandora war geöffnet und ließ sich nicht mehr verschließen.

Als weiterer Diskutant begab sich Ulrich Kühn von der US-amerikanischen Carnegie-Stif­tung für internationalen Frieden, zugleich Dozent an der Universität Hamburg, in die Arena. Im Fernseh-Magazin »Panorama« am 2. Februar 2017 erklärte er die Auffassung, Deutsch­land müsse über eigene Atomwaffen verfügen, für »nicht komplett absurd«.

Es müsste darüber nachge­dacht werden für den Fall, dass Russland ferner »den Frieden in Eu­ropa bedroht« und sich die USA zugleich militärisch zurückzögen. [5] Die Autoren des »Panorama«-Beitrages, Robert Bongen, Johannes Jolmes und Volker Steinhoff, beendeten ihren Film, in dem kritische Stimmen von Wissenschaftlern oder Politikern zur Stationie­rung von US-Atomwaffen in Deutschland und zur möglichen Atombewaffnung der Bundes­wehr nicht zu Wort kamen, mit den sehr bemerkenswerten Sätzen: »Die offene Debatte scheut die Politik bisher weit­gehend – auch über eine deutsche Atombombe. Die ist wohl technisch möglich, aber auf­grund vieler Verträge wie den Atomwaffensperrvertrag, momentan nicht erlaubt.« [6]

Nur wenige Tage nach der Ausstrahlung des »Panorama«-Beitrages meldete sich die »Bild«-Zeitung zu Wort. Unter der Überschrift »Bekommt Deutschland eigene Atomwaffen?« las man: »Die Welt ändert sich rasant – und plötzlich wird diskutiert, ob Deutschland zum bes­seren Schutz eigene Atomwaffen besitzen sollte.« [7] Zur Beruhigung der Leserschaft dienten die eingeholten Meinungen des Ex-Bundeswehr-Generals Domröse, des ehemaligen Bot­schafters Ischinger und des langjährigen »Sicherheitsberaters« von Bundeskanzler Helmut Kohl, Horst Teltschik, die sich unisono gegen die Herstellung eigenständiger deutscher Atomwaffen aussprachen. Doch das Thema blieb in einflussreichen Medien weiter präsent.

Besonders ärgerlich für alle offenen oder heimlichen Befürworter einer deutschen Atom­macht war ein Artikel in der wichtigsten außenpolitischen Zeitschrift der kapitalistischen Länder, den »Foreign Affairs«. Dieses »Leitmedium« aller an außen- und sicherheits­politischen Fragen interessierten Politiker und Wissenschaftler publizierte im Juli/August 2017 unter der Überschrift »Keine Atombombe, Bitte – Why Germany Should Not Go Nuclear« einen Artikel, der sich ablehnend zu Atomwaffen-Plänen der BRD äußerte. [8] Auch die zweite meinungsbildende außenpolitische Fachzeitschrift in den USA, »Foreign Policy«, widmete sich im August 2018 dieser Thematik. Stephen F. Szabo vom American Institute for Contemporary German Studies lehnte unter der Überschrift »Should Germany Go Nuclear?« die atomare Bewaffnung der BRD strikt ab, nachdem er die Debatte in Deutschland knapp referiert hatte. [9] Es ist kaum anzunehmen, dass die beiden führenden außenpolitischen Zeitschriften der USA, von denen zumindest die vom Council on Foreign Relations herausgegebene »Foreign Affairs« als offiziös gelten kann, Beiträge zu einem derartig brisanten Thema publizieren, ohne sich dabei des Einverständnisses des State Departments versichert zu haben. Auf jeden Fall war der Diskussion um eine eigenständige deutsche Atommacht jetzt eine internationale Aufmerksamkeit zuteil geworden, die zumindest zu diesem Zeitpunkt wohl nicht erwünscht war.

Den Testballon zurückweisen!

In Deutschland profilierte sich Christian Hacke, emeritierter Professor für Politikwissen­schaft an der Universität Bonn, in mehreren Veröffentlichungen als Protagonist einer ei­genständigen atomaren Bewaffnung der Bundeswehr. Zuletzt brachte er in einer kurzen Stellungnahme in der Zeitschrift »loyal« (Herausgeber ist der Reservistenverband der Bundeswehr) seine Anschauungen präzise zum Ausdruck: »Die politischen Eliten in Berlin plädieren für Nicht-Weiterverbreitung atomarer Waffen und für totale nukleare Abrüstung. Sie äußern sich aber nicht zur prekären Frage der nuklearen Abschreckung. So wird Deutschlands Sicherheit aufs Spiel gesetzt, denn der deutsche Nuklear-Eskapismus dünnt die nukleare Abschreckungsgarantie weiter aus. Deutschland muss seine Sicherheits­politik vom Kopf auf die Füße stellen. Es muss lernen, in strategischen und geopolitischen Kategorien zu handeln und eine anspruchsvolle sicherheitspolitische Kultur zu entwickeln. Angesichts wachsender nationaler Egoismen muss Deutschland besser als bisher für seine eigene Landesverteidigung sorgen. Optimal gesehen muss jeder potenzielle Angreifer nu­klear abgeschreckt werden.« [10] Die Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen Katja Keul wies Hacke in ihrem Beitrag, der im gleichen Heft erschien, zu Recht darauf hin, dass »ein nationaler und auch noch nuklearer Alleingang Deutschlands in der Sicherheits­politik das Fatalste wäre, was diesem Land einfallen könnte.« Dem ist nichts hinzuzufügen.

Wir halten fest: Die in diesem Beitrag zitierten Beiträge stellen lediglich einen kleinen Aus­schnitt aus der laufenden Debatte zur eigenständigen atomaren Aufrüstung in der BRD dar. Wichtig erscheint vor allem zweierlei:

Erstens muss die Regierung im Bundestag veranlasst werden, sich zu dieser anhaltenden Diskussion zweifelsfrei zu positionieren und nicht nur allgemeine Erklärungen abzugeben. Denn es verfestigt sich der Eindruck, dass die skizzierte Debatte zunächst als »Testballon« dienen soll, um die Reaktionen der Öffentlichkeit in der BRD, aber auch in anderen Län­dern, zu testen. Wer verharmlosend argumentiert, es handle sich bei den Kontrahenten im Wesentlichen um politisch einflusslose Journalisten und Wissenschaftler, verkennt auf fata­le Weise, wie in der hiesigen Medienlandschaft Stimmungen für reaktionäre politische Pro­jekte erzeugt werden. Die Geschichte der BRD liefert genügend Beispiele dafür, dass aus zunächst als randständig erachteten Meinungen und Stimmungen schließlich Regierungs­politik wurde. Die Diskussionen, die BRD solle den Status einer eigenständigen Atom­macht anstreben, sind von derart wichtiger Bedeutung, dass sie kontinuierlich mit beson­derer Sorgfalt und Aufmerksamkeit beachtet und zurückgewiesen werden müssen.

Zweitens muss sich die Friedensbewegung dieser Thematik annehmen. Denkbar breitester Widerstand sollte organisiert werden. Das offen ausgesprochene Ziel atomarer Aufrüstung ist erklärtermaßen Russland. Hier ist Aufklärung ebenso vonnöten wie Aktionen gegen die­jenigen, deren »sicherheitspolitische« Vorschläge das Land geradewegs in ein atomares In­ferno führen könnten.      

 

Anmerkungen:

[1]  Bernhard Kohler: Das ganz und gar Undenkbare, in: FAZ, 27.11.2016. Siehe hierzu den Beitrag von Erhart Crome: Ungeheuerliches, in: Das Blättchen, Nr. 25, 5. Dezember 2016, in: das-blaettchen.de/2016/12/ungeheuerliches-38188.html.

[2]  Unter anderem informierten die Washington Post, die Financial Times, der Economist und der Daily Express in teilweise ausführlichen Artikeln über Kohlers FAZ-Kommentar. Siehe uebermedien.de/13764/auslandspresse-sieht-atombombenstimmung-in-deutschland.

[3]  Siehe Anna Sauerbrey: Deutschland will die Bombe, in: Der Tagesspiegel, 30.6.2017.

[4]  Eingabe bei »google«: Karl-Heinz Kamp, Neue Zürcher Zeitung, Die Atom-Phantomdebatte; siehe auch www.youtube.com/watch?v=fKqobt0sJp0.

[5]  Siehe www.youtube.com/watch?v=AHvZidMEGUU.

[6]  Zitiert nach ebenda, Unterstreichung von mir - R.Z.

[7]  Zitiert nach Albert Müller: Zur Zukunft der Europäischen Union. Deutsche Debatten, in: www.nachdenkseiten.de/?p=39508.

[8]  Siehe www.foreignaffairs.com/articles/germany/2017-06-13/keine-atombombe-bitte.

[9]  Siehe www.aicgs.org/2018/08/should-germany-go-nuclear.

[10]  Loyal. Das Magazin für Sicherheitspolitik, Nr. 10/Oktober 2018, S. 7.

 

Mehr von Reiner Zilkenat in den »Mitteilungen«: 

2019-01:  Weltuntergangs-Szenarien: Daniel Ellsberg über US-amerikanische Atomkriegspläne

2018-09:  Das Münchner Abkommen und die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges

2018-05:  Paul Robesons Verhör am 31. Mai 1948, die »unamerikanischen Aktivitäten« und der Kalte Krieg