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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Das Münchner Abkommen und die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges

Dr. Reiner Zilkenat, Hoppegarten

 

»Fall Grün« – so lautete die Bezeichnung des Operationsplanes für die Zerschlagung der Tschechoslowakei durch die Nazi-Wehrmacht. [1] Er beinhaltete unter anderem solche Maß­nahmen, die öffentlichkeitswirksame Anlässe für den Einmarsch faschistischer Truppen in das Nachbarland liefern und zugleich die Lage in der damaligen CSR am Vorabend dieser geplanten Aggression destabilisieren sollten. Mit der am 1. Oktober 1933 gegründeten Su­detendeutschen Partei (SdP) [2] unter der Leitung von Konrad Henlein, die an der Jahreswen­de 1937/38 über fast 550.000 Mitglieder verfügte [3], stand Hitler, seinen Parteidienststel­len, Generälen, Geheimdiensten und Diplomaten eine Organisation zur Verfügung, die in der Lage und willens war, den für den Sommer 1938 geplanten Angriff, der als »Befreiung« der von den Tschechen »geknechteten« Sudetendeutschen erscheinen musste, optimal vorzubereiten.

Wohl selten in der neueren Geschichte wurde systematisch eine derartige Fülle von gehei­men Operationen unterschiedlichster Art gegen ein friedliches Nachbarland organisiert.

Annexion war vorherzusehen

Die neuen Gefahren, die durch die von Hitler geführte Regierung für die CSR entstanden waren, analysierte Außenminister Edvard Benesch öffentlich bereits am 31. Oktober 1933 in einer Grundsatzrede vor dem Außenpolitischen Ausschuss beider Kammern des tsche­choslowakischen Parlamentes. Benesch verglich zunächst die Außenpolitik der Nazi-Regie­rung mit derjenigen ihrer Amtsvorgänger der Weimarer Republik und gelangte dabei zu fol­gender Einschätzung: »Nach meinen Ansichten lagen die Endziele und Ideale der Strese­mann’schen Politik im großen und ganzen nicht allzu weit von den Endzielen der Politik des heutigen Deutschlands; sie unterschieden sich nur in den Methoden, im Vorgehen und dem größeren Verständnis für die Ziele, Bestrebungen und Bedürfnisse des übrigen Europa ...« Zwar ruhe die Außenpolitik Deutschlands bereits seit 1848 auf einer »alldeutschen Grundlage« und dieser »allgemeine alldeutsche Rahmen« sei auch Basis der Hitler-Regie­rung, aber nach der Auffassung von Benesch habe »das heutige Deutschland … das Tempo und die Methoden des Stresemann’schen Deutschlands zur Verwirklichung der deutschen nationalen Ziele als zu langsam angesehen, es hat die Entwicklungslinie zerrissen und be­gann radikalere Methoden anzuwenden.« [4]

Die daraus sich ergebenden Folgen seien Angst und Misstrauen in Europa.

Zehn Monate nach der Machtübernahme der deutschen Faschisten war es nicht einfach, ja es war nicht möglich, vorherzusehen, welche Katastrophe beispiellosen Ausmaßes sich auf dem europäischen Kontinent anbahnte, zumal die Geschwindigkeit und der genaue Zeit­plan sowie die Etappen der Kriegsvorbereitungen der Nazis selbst noch nicht in jedem Fal­le – so wie in einem Drehbuch – festgelegt sein konnten. Allerdings erkannte Benesch be­reits, dass »die Revolution des nationalsozialistischen Deutschlands zweifellos … eine all­mähliche Änderung der gesamten europäischen Kontinentalpolitik«Vgl. Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918-1945 (im Folgenden: ADAP). Aus dem Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes, Serie D (1937-1945), Bd. II: Deutschland und die Tschechoslowakei (1937-1938), Baden-Baden 1950, Nr. 133, S. 190f.; Nr. 221, S. 281ff.; Nr. 282, S. 377ff.; Nr. 448, S. 578ff. Zu den geplanten Luftangriffen auf das Zentrum Prags im Rahmen des »Falles Grün« vgl. ebenda, Nr. 590, S. 737 u. Nr. 623, S. 762. [5] bedeutete.

Wenige Monate später benutzte Staatspräsident Tomas Masaryk in der Öffentlichkeit eine deutlichere Sprache als sein Außenminister. In einem weit verbreiteten Interview mit dem US-amerikanischen Journalisten H.R. Knickerbocker antwortete er auf die Frage nach einer von Deutschland ausgehenden Kriegsgefahr in einer ganz undiplomatisch zu nennenden Art und Weise:

»Die ganze (Nazi-) Bewegung wie auch der heutige deutsche Staat, sind auf der Konzeption aufgebaut, dass die Deutschen ein Herrenvolk sind. Es ist eine ernste Sa­che, wenn ein Volk von 65 Millionen in dieser Richtung geführt wird. (...) Die Deutschen sprechen vom Drang nach Osten. Aber was bedeutet das? Polen und Russland? (...) Die Deutschen sind ein ernstes Problem für ganz Europa.« [6]

Außenminister Edvard Benesch antwortete Knickerbocker auf die gleiche Frage noch direk­ter – und leider mit einer Vorhersage, die sich tatsächlich bewahrheiten sollte:

»Wenn die nationale Hochspannung, die jetzt in Deutschland zu beobachten ist, fünf Jahre lang fort­schreiten wird, so werden die Aussichten auf einen Krieg mehr als fünfzigprozen­tig sein.« [7] Im vertrauten Kreise gab der tschechoslowakische Außenminister mehr als ein­mal seiner Überzeugung Ausdruck, dass sich die CSR auf einen Krieg mit dem faschis­tischen Deutschland vorbereiten müsse. So notierte der damalige Botschafter der USA in Deutsch­land, William E. Dodd, am 1. Dezember 1933 in sein Tagebuch: »Um 6.30 Uhr hat­te ich eine vertrauliche Unterredung mit Edvard Benesch … Er ist keineswegs optimistisch und meint, die Deutschen seien entschlossen, einen Teil der Tschechoslowakei, wenn nicht das ganze Land, zu annektieren.« [8]

Die politisch Verantwortlichen in Prag, allen voran Tomas Masaryk und Edvard Benesch, machten sich also ungeachtet aller heuchlerischen »Friedens«-Beteuerungen aus Berlin keinerlei Illusionen über den Charakter und die expansionistischen Ziele des Naziregimes. Sie erkannten durchaus, dass sich hier eine Außenpolitik »neuer Qualität« entwickelte, die zwar nicht voraussetzungslos war, sondern deren Wurzeln auch in das abenteuerliche All­deutschtum des Wilhelminismus und den Revisionismus deutscher Außenpolitik in der Weimarer Republik hinabreichten.

Zugleich analysierten sie aber auch das in Ansätzen bereits zu erkennende Neue: Den ag­gressiven Rassismus, der sich nicht zuletzt gegen die slawischen Völker und Staaten rich­tete. Dieses »Herrenmenschentum« bedrohte den tschechoslowakischen Staat aber nicht allein von außen. Seit der Machtübernahme der Nazis war die CSR auch von innen durch den deutschen Faschismus bedroht. Denn der 30. Januar 1933 bedeutete eine enorme Er­mutigung und Bestätigung für alle diejenigen Kräfte unter den Sudetendeutschen, die der CSR den Kampf angesagt hatten. Diese schnell anwachsende, existenzielle Bedrohung von außen wie von innen war das Charakteristikum der Lage der Tschechoslowakei in den drei­ßiger Jahren. Angesichts dieser zugespitzten Lage ist der zynisch klingend Satz aus der politischen Jahresübersicht der Gesandtschaft in Prag für das Jahr 1933 nicht unzutref­fend: »Die nationale Revolution versetzt die tschechoslowakische Regierung und Öffent­lichkeit in schreckhafte Erregung.« [9]

Unerfüllbare Forderungen

Die militärische und diplomatische Vorbereitung des »Einmarsches« der Nazi-Wehrmacht in die Tschechoslowakei am 1. Oktober 1938 ist immer wieder Gegenstand historischer Studien gewesen [10], so dass es an dieser Stelle nur um eine knappe Skizzierung einiger der in diesem Zusammenhang wichtigsten Entscheidungen und Entwicklungen gehen kann.

Seit dem zweiten Halbjahr 1937 waren die Würfel für die zielgerichtete Vorbereitung einer Aggression gegen die Tschechoslowakei gefallen. Die Naziführung formulierte »das Ziel, Österreich anzuschließen, den tschechoslowakischen Staat zu zerschlagen sowie Böhmen und Mähren Deutschland anzugliedern«. [11] Mit den Worten Adolf Hitlers am 22. April 1938 klang dies so:

»Handeln nach einer Zeit diplomatischer Auseinandersetzungen, die sich all­mählich zuspitzen und zum Kriege führen. Blitzartiges Handeln auf Grund eines Zwischen­falls (z.B. Ermordung des deutschen Gesandten im Anschluss an eine deutschfeindliche Demonstration).« [12] Und noch einmal Hitler, diesmal am 30. Mai 1938: »Es ist mein unabän­derlicher Beschluss, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Akti­on zu zerschlagen. (...) Eine unabwendbare Entwicklung der Zustände innerhalb der Tsche­choslowakei oder sonstige politische Ereignisse in Europa, die eine überraschend günstige, vielleicht nie wiederkehrende Gelegenheit schaffen, können mich zu frühzeitigem Handeln veranlassen.« [13]

Der Weg bis zum Einmarsch in die sudetendeutschen Gebiete im Oktober 1938 ist be­kannt: Nachdem am 12. März 1938 der so genannte Anschluss Österreichs an das »Dritte Reich« vollzogen worden war, ging Hitler zielstrebig daran, den Überfall auf die Tschecho­slowakei vorzubereiten.

Nur wenige Tage später, am 28. März, empfing Hitler Konrad Henlein und seinen Stellver­treter Karl Hermann Frank zu einem fast dreistündigen Gespräch. Hier wurden die ent­scheidenden Weichen für die Politik der Sudetendeutschen Partei in den kommenden Mo­naten gestellt. Hitler stärkte zunächst Henlein den Rücken, indem er erklärte, »er wisse, wie beliebt dieser sei und dass er der berechtigte Führer des Sudetendeutschtums wäre und auf Grund seiner Beliebtheit und Volkstümlichkeit die Dinge meistern würde. Auf den Einwand Henleins, dass er, Henlein, nur ein Ersatz sein könne, erwiderte Hitler: ich stehe zu Ihnen, Sie sind auch morgen mein Statthalter.« [14]

Hitler und Henlein legten die Strategie fest, mit deren Hilfe die tschechoslowakische Regierung in die Defensive gedrängt werden sollte: »Die Tendenz der Anweisung, die der Führer Henlein gegeben hat, geht dahin, dass von Seiten der SdP Forderungen auf Selbstverwaltung und Wiedergutmachung gestellt werden sollen, die für die tschechische Regierung unannehmbar sind. (...) Henlein hat dem Führer gegenüber seine Auffassung fol­gendermaßen zusammengefasst: Wir müssen also immer so viel fordern, dass wir nicht zu­frieden gestellt werden können. Diese Auffassung bejahte der Führer.« [15]

Nach dieser Marschroute wurde in den darauf folgenden Monaten verfahren. Die Sudeten­deutsche Partei präsentierte auf ihrem »Volksthing« in Karlsbad am 24. April 1938 jene Forderungen, die für die tschechoslowakische Regierung als »unerfüllbar« gelten mussten: besonders eine Realisierung der »Beseitigung des dem Sudetendeutschtums seit dem Jahr 1918 zugefügten Unrechts und Wiedergutmachung der ihm durch dieses Unrecht entstan­denen Schäden« sowie die »volle Freiheit des Bekenntnisses zum deutschen Volkstum und zur deutschen Weltanschauung« [16] – womit nichts anderes als der Hitlerfaschismus gemeint war – mussten, neben der Forderung, dass in deutschen Gebieten nur Deutsche dem öf­fentlichen Dienst angehören sollten, für jede tschechoslowakische Regierung von vornher­ein indiskutabel sein. Im Kern liefen die »Karlsbader Forderungen« auf einen Zustand hin­aus, in dem die sudetendeutschen Gebiete nicht mehr von Prag aus regiert werden könn­ten, sondern sie de facto ein eigenständiges staats- und wohl auch völkerrechtliches Sub­jekt darstellen würden. Henlein ließ in Ansprachen, die er am 1. Mai 1938 in Reichenberg, Teschen und Aussig hielt, keinen Zweifel an der Qualität seiner Forderungen, die er als For­derungen bezeichnete, »die ich als die einzig mögliche und als die gerade noch zulängliche Grundlage betrachte, auf der das nationale Problem einer Lösung zugeführt werden könn­te«. In dankenswerter Offenheit gab er dann unter dem Jubel der Anwesenden die folgende Erklärung ab: »Ich konnte es nicht mehr länger ertragen, unsere Gesinnung länger zu ver­schweigen. Wir sind Deutsche. Und weil wir Deutsche sind, bekennen wir uns zur deut­schen, das heißt zur nationalsozialistischen Weltanschauung.«

»Mourir pour Prague?«

Von besonderem Interesse war natürlich die Reaktion Frankreichs und Großbritanniens auf den eskalierenden Konflikt um die CSR. Die Frage lautete also: Waren Frankreich und Großbritannien im äußersten Falle bereit, der Tschechoslowakei militärischen Beistand zu leisten?

Alle entsprechenden Hoffnungen, die vor allem der mittlerweile als Staatspräsident amtie­rende Edvard Benesch gehegt hatte, nicht nur ein Freund und Alliierter, sondern ein Be­wunderer französischer demokratischer Traditionen, ja der französischen Lebensart, wur­den bitter enttäuscht. »Mourir pour Prague?« [17] – diese Frage wurde negativ beantwortet. Doch die Kapitulation beider bürgerlicher Demokratien vor dem deutschen Faschismus hatte sich für den aufmerksamen Beobachter der politischen Szenerie bereits seit dem Frühjahr 1938 angekündigt.

Zweideutige Erklärungen des Premierministers Chamberlain im Unterhaus, mehrere, an­geblich von der Regierung initiierte Artikel der meinungsbildenden Londoner »Times«, die Verständnis für die Forderungen Henleins signalisierten, nicht zuletzt die Entsendung von Lord Runciman, der am 3. August 1938 mit einer aus Diplomaten und Militärs zusammen­gesetzten Delegation in Prag eintraf und wochenlange Informationsreisen unternahm, um der britischen Regierung einen Vorschlag für die Lösung des Konfliktes zu unterbreiten (»Runciman-Mission«), aber auch die insgesamt drei gemeinsamen Beratungen der franzö­sischen und der britischen Regierungen, deren Ergebnis in der Ausübung von Druck auf die tschechoslowakische Regierung bestand, den deutschen Forderungen nach groß dimen­sionierten Gebietsabtretungen der CSR zuzustimmen – alles das wies darauf hin, dass es dem deutschen Faschismus wohl gestattet werden würde, sich Teile der Tschechoslowakei anzueignen, ohne dabei von London und Paris auf militärische Gegenwehr zu stoßen.

Schließlich kam es zu den bekannten Treffen Hitlers mit dem britischen Premierminister Neville Chamberlain in Berchtesgaden am 15. und 16. September sowie in Bad Godesberg vom 22. bis 24. September 1938, bei denen der »Führer« unverblümt mit Krieg drohte, falls es den britischen und französischen Regierungen nicht gelingen sollte, die Tschecho­slowakei zu veranlassen, widerstandslos in die von Nazideutschland geforderten Gebiets­abtretungen einzuwilligen. Bekanntlich wurde dann bei der kurzfristig einberufenen Münch­ner Konferenz, die am 29. September 1938 stattfand, die Kapitulation der bürgerli­chen Demokratien vor den Drohungen Hitlers unterzeichnet.  Zwei Tage später, am 1. Ok­tober 1938, rückte die Nazi-Wehrmacht in die sudetendeutschen Gebiete der CSR ein. Sie okkupierte 28.363 Quadratkilometer tschechoslowakischen Territoriums. Dort wohnten neben 2,8 Millionen Bürgern deutscher Nationalität allerdings auch ca. 720.000 Einwohner tschechischer bzw. slowakischer Nationalität. Tausende von ihnen, nicht zuletzt Juden, flüchteten vor der einrückenden Nazi-Wehrmacht und den sie begleitenden Kommandos von Gestapo und SD.

Dass es zur Einverleibung dieser Gebiete in das »Dritte Reich« kommen konnte, dafür wa­ren die »verdeckten« und offenen Aktionen der Diversion, Sabotage und der sich steigern­de Terror von Sudetendeutschen gegen Einrichtungen des tschechoslowakischen Staates eine wesentliche Voraussetzung. [18]

Sudetendeutsche als Opfer betrachten?

Natürlich kamen die finanziellen Mittel und anderen materiellen Ressourcen für den Kampf der Sudetendeutschen Partei gegen die Tschechoslowakei aus Hitlerdeutschland. Selbstverständlich wurde von dort aus die Schulung ihrer Kader im Sinne der Vermittlung und Verbreitung der faschistischen Ideologie in jeder erdenklichen Weise unterstützt. Aber es ist wichtig festzuhalten: Die Faschisierung einer wachsenden Zahl von Sudetendeut­schen, am Ende ihrer großen Mehrheit, war ein Prozess der Selbst-Faschisierung. Er be­durfte der Unterstützung, nicht aber der Initiierung von außen. Keine andere faschistische Partei in Europa hatte, gemessen an der Einwohnerzahl, so viele Mitglieder wie die SdP, auch nicht die NSDAP. Eines der für mich interessantesten Ergebnisse bei der Lektüre zahlreicher Akten, vor allem des Auswärtigen Amtes, besteht darin, dass nicht nur die tra­ditionell mit Vorsicht und Zurückhaltung agierenden Diplomaten, sondern immer wieder auch zentrale Parteidienststellen darauf hinwirkten, den Drang sudetendeutscher Aktivis­ten zu bremsen, vorschnell, ohne die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen zu beachten und ohne Rücksichtnahme auf die politischer Vorgaben aus Berlin, aber auch der eigenen Füh­rung, tätig zu werden und dabei gegen die Gesetze der CSR zu verstoßen.

Zugespitzt formuliert: Die Mitglied- und Anhängerschaft der SdP dachte offensichtlich noch radikaler als ihre Führung. Wichtig war: An der Basis, nicht nur bei den jungen Mit­gliedern und Sympathisanten, war man geradezu darauf erpicht, endlich »losschlagen« zu können. 1938 war dieser Zeitpunkt dann herangereift. Die Wünsche der Parteimitglied­schaft nach militanten Aktionen gegen die verhassten Repräsentanten der Tschechoslowa­kei und die politischen Vorgaben aus Berlin und aus der Parteizentrale Henleins waren jetzt deckungsgleich.

Heute ist es wieder üblich geworden, die Sudetendeutschen als »Opfer« zu betrachten, die nach dem Krieg ihre Heimat verloren hätten. [19] Bereits 1949 wurde hierzu folgende »Argu­mentation« verbreitet: »Die Austreibung von Millionen Deutschen aus den ostdeutschen Gebieten bezeichnete Bundesflüchtlingsminister Lukaschek als ein einmaliges Unrecht in der Weltgeschichte. Die Schuld der Deutschen sei nicht zu vergleichen mit den Austreibun­gen aus Ostdeutschland. (…) Die Rückgabe des Sudetenlandes an Deutschland verlangte der Vorsitzende der Landsmannschaft Sudetengau. Das Sudetenland sei 1938 nicht ge­raubt worden, sondern auf Grund des Münchner Abkommens, das auch englische und französische Staatsmänner freiwillig unterschrieben hätten, deutsch geworden.« [20] Wie aber, so fragen wir, hätte mit einer deutschen Bevölkerung, die sich in ihrer großen Mehrheit selbst nazifiziert hatte, und die mit Verachtung und Hass auf die Tschechen herabsah, ein friedliches Zusammenleben nach dem Kriege möglich sein sollen? Am Beispiel der Sude­tendeutschen lässt sich belegen, dass die »Opfer der Vertreibung« vielfach zugleich Täter, willige Vollstrecker bzw. teilnahmslose Zuschauer oder doch zumindest Profiteure der fa­schistischen Aggressionspolitik waren; eine Thematik, die nicht nur von den Protagonisten des Geschichtsrevisionismus  beschwiegen und – wenn sie denn diskutiert werden soll – nicht selten mit dem Verweis auf ihre vermeintliche Nähe zur »Kollektivschuld-These« ab­getan wird. Wichtiger denn je ist es bei alledem, sich um das Andenken der deutschen An­tifaschisten zu kümmern, auch wenn es nur wenige waren, die aktiv gegen die faschis­tische Henlein-Partei tätig waren und später Widerstand gegen die Okkupanten leisteten. Sie sind und bleiben diejenigen unter den Sudetendeutschen, die es zu ehren gilt und de­rer zu gedenken ist.

 

Anmerkungen:

[1]  Vgl. Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918-1945 (im Folgenden: ADAP). Aus dem Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes, Serie D (1937-1945), Bd. II: Deutschland und die Tschechoslowakei (1937-1938), Baden-Baden 1950, Nr. 133, S. 190f.; Nr. 221, S. 281ff.; Nr. 282, S. 377ff.; Nr. 448, S. 578ff. Zu den geplanten Luftangriffen auf das Zentrum Prags im Rahmen des »Falles Grün« vgl. ebenda, Nr. 590, S. 737 u. Nr. 623, S. 762.

[2]  Die Partei trug zunächst den Namen »Sudetendeutsche Heimatfront« (SHF) und wurde im Vorfeld der Parlamentswahlen vom 19. Mai 1935 in »Sudetendeutsche Partei« umbenannt.

[3]  Nach einer Aufzeichnung der Parteileitung, die an die deutsche Gesandtschaft in Prag übermittelt und von dort an das Auswärtige Amt in Berlin weiter geleitet worden war, betrug der Mitgliederstand am 31.12.1936 459.833 und am 31.12.1937 548.338 Personen. Vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (im Folgenden: PA AA), R 103657, D 494368.

[4]  Edvard Benesch: Die deutsche Revolution und die neue Phase der europäischen Politik – Die mitteleuropäischen Wirtschaftsfragen. Rede vor den Außenpolitischen Ausschüssen beider Kammern des Parlamentes, in: PA AA, R 73782, L 121860 u. 121862.

[5]  Ebenda, L 121858.

[6]  Prager Tagblatt, Nr.53, 4.3.1934: Masaryk und Benesch über Krieg und Frieden. Interview mit H. R. Knickerbocker, in: PA AA, R 73783, unfol.

[7]  Ebenda.

[8]  William E. Dodd: Diplomat auf heißem Boden. Tagebuch des USA-Botschafters William E. Dodd in Berlin 1933-1938, 8. Aufl., Berlin 1977, S. 73.

[9]  PA AA, R 73759, E 672467.

[10]  Hervorgehoben sei hier vor allem Gerhart Hass: Münchner Diktat 1938 – Komplott zum Krieg, Berlin 1988.

[11]  Ebenda, S. 65.

[12]  ADAP, Serie D (1937-1945), Bd. II, Nr. 133, S. 190.

[13]  Ebenda, Nr.221, Anlage, S. 282.

[14]  Ebenda, Nr. 107, S. 158.

[15]  Ebenda.

[16]  Ebenda, Nr. 135, S. 192.

[17]  (frz.) Sterben für Prag?

[18]  Siehe hierzu Reiner Zilkenat: »Volkstumspolitik«, faschistische Geheimdienste und die Politik der Sudentendeutschen Partei – Zur Vorgeschichte der Zerstückelung der Tschechoslowakei im Oktober/November 1938, in: Rundbrief, hrsg. von der AG Antifaschismus beim Parteivorstand der Partei DIE LINKE, Heft 1-2/2008, S. 18-38.

[19]  Zum Gesamtzusammenhang siehe Reiner Zilkenat: Das »Zentrum gegen Vertreibungen« und der grassierende Geschichtsrevisionismus. Vorgeschichte, Ziele, Planungen, in: Rechtsextremismus in Deutschland. Analysen, Erfahrungen, Gegenstrategien, hrsg. von Horst Helas u. Dagmar Rubisch, Berlin 2006, S. 34 ff.

[20]  Die Welt, Nr. 163, 10.10.1949, S. 1: »Tag der Heimat« der Vertriebenen.

 

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2018-05:  Paul Robesons Verhör am 31. Mai 1948, die »unamerikanischen Aktivitäten« und der Kalte Krieg

2018-04:  Der Marshall-Plan und die US-Strategie gegenüber Europa

2017-11:  Hitlers Kriegsplanungen – Ein geheimes Treffen in der Reichskanzlei am 5. November 1937