NATO – 75 Jahre Vorfeld der USA
Dr. Jochen Willerding, Rangsdorf
Vor 75 Jahren, am 4. April 1949, wurde die Organisation des Nordatlantikvertrags, kurz Nordatlantikpakt, die NATO, aus der Taufe gehoben. Damit wurde eine wichtige Grundlage für die duale Ost-West-Konfrontation und die Periode des Kalten Krieges gelegt.
Die NATO ist bis in unsere Gegenwart ein wichtiger politischer und militärischer Faktor in den internationalen Beziehungen. Um ihre Rolle und Funktionsweise besser zu verstehen, kann ein kurzer Rückblick in die Vorkriegsgeschichte der US-Außenpolitik hilfreich sein. Die alten europäischen Kolonialmächte hatten sich im Ersten Weltkrieg dermaßen geschwächt, dass von ihnen keine reale Gefahr mehr für Übergriffe auf den lateinamerikanischen Hinterhof der USA ausgehen konnte. Letzteren beanspruchten die USA nicht nur als Rohstoffquelle im Sinne nunmehr eigener Kolonien. Mit der Monroe-Doktrin von 1823 hatten sie den Hinterhof zugleich zu ihrem sicherheitspolitischen Vorhof oder Vorfeld erklärt, dessen Angriff grundsätzlich die Nationalen Sicherheitsinteressen der Vereinigten Staaten berührte. Es ist die Argumentation, die Weißes Haus, State Department, CIA und Pentagon auch in der Gegenwart regelmäßig im Zusammenhang mit ihrem Agieren in den verschiedensten Konflikten benutzen, ob Serbien, Syrien, Irak, Iran, Libyen, Afghanistan, Georgien, Ukraine oder Südkorea und Taiwan.
Nach dem Ersten Weltkrieg wandten sich die USA stärker der wirtschaftlichen und militärischen Expansion in Richtung Europa sowie Mittlerer Osten und Südasien zu. Ein weiteres Ergebnis des Weltkriegs war die Große Russische Revolution vom Oktober 1917, die eine wahrhaft weltweite antikoloniale Befreiungsbewegung hervorbrachte. Was sich schon vorher andeutete, trat nun ein: Russland, Sowjetrussland und dann die Sowjetunion wurde zum neuen zentralen Feindbild der USA, zum Fixpunkt der späteren Bipolarität, der das Denken der politischen Eliten trotz anders lautender Bekundungen bis heute bestimmt.
Wellen des Eindämmens
Die späte Landung der USA in der Normandie (immerhin drei Jahre nach Pearl Harbour und eineinhalb Jahre nach Stalingrad) stellte unter dem Mantel des antifaschistischen Kampfes im Kern die erste Welle der »Eindämmung« der Sowjetunion an der Elbe dar, um von Deutschland zu »retten«, was zu retten war – gemäß dem bekannten Spruch »Lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland halb«). An der Elbe und in Berlin fand 1945 der erste Ausgleich zwischen beiden Großmächten statt. Zugleich konnte bei den Europäern das alte antisowjetische/antirussische Feindbild aufrechterhalten und zementiert werden. Fortan ging es darum, den Halbkontinent sowohl wirtschaftlich, als auch sicherheitspolitisch, verpackt in der nunmehr nicht mehr nach Monroe, sondern Truman geheißenen Doktrin, in ihr weiteres (neben Lateinamerika) Vorfeld gegen den letzten verbliebenen historischen Gegner der USA in Europa, Russland bzw. die UdSSR, zu verwandeln.
Von nun an galt es, das quasi eroberte neue Vorfeld (in Asien war es nicht ganz so gut für die USA gelaufen) wirtschaftlich und vor allem militärpolitisch abzusichern. Wirtschaftlich diente diesem Unterfangen der Marshallplan, dessen umfangreiche Kredite nicht nur beim Wiederaufbau des zerstörten Westeuropa halfen, sondern eine Neuausrichtung von dessen Wirtschaft von Ost auf West bewirkten und den USA selbst einen phänomenalen Wirtschaftsaufschwung bescherten. Die letzten Kreditabzahlungen erfolgten noch in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts. Dazugehörige Institutionen, wie die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) der BRD, existieren und funktionieren heute noch.
Militär-politisch gingen die Strategen in D.C. nicht weniger zielorientiert ans Werk. Als Basis diente die militärische Besetzung Westdeutschlands. Unter geschickter Nutzung diverser Anfragen nach amerikanischem Schutz erklärten sie sich bereit, einen solchen zu gewähren. Die Bedingung dafür war bereits im Juni 1948 im Senat der Vereinigten Staaten mit der sogenannten Vandenberg-Resolution beschlossen worden, nämlich, dass jedes europäische Land für die Zusage, es zu verteidigen, auch zusagen müsse, die USA zu verteidigen. Hiermit wurde schon frühzeitig festgeschrieben, dass die USA in solchen Bündnissen stets das letzte Wort in der Beurteilung der Lage, gemessen an ihren Nationalen Sicherheitsinteressen, und damit der Ausrufung eines Bündnisfalls haben sollten. Diese Klammer ist der eigentliche Kern des NATO-Vertrags und der darin enthaltenen Bündnis- bzw. Beistandsklausel (§ 5). Die NATO wurde 1949 als klassische militärpolitische Vorfeldorganisation der USA gegründet. Die Besatzung Westdeutschlands wurde über den NATO-Vertrag kurzerhand in Schutzmacht umdefiniert und damit zugleich die Einschränkung der politischen Souveränität für alle Zeiten (?), zumindest bis in die Gegenwart, festgeschrieben. Mehr noch, die weitgehende Begrenzung der politischen Souveränität wurde unter dem Schirm der Übernahme des Schutzes im Rahmen der NATO auf einen Großteil der westeuropäischen Staaten ausgedehnt, mitsamt der erforderlichen Militärstützpunkte. Bis heute schließen die USA bilaterale Stützpunkteabkommen mit Beitrittskandidaten vor deren Mitgliedschaft in der NATO, wie jüngst mit Schweden und Finnland.
Der einzige westeuropäische Staatsmann, der diese Zusammenhänge klar erkannte und auf eine eigenständige, souveräne west-europäische Verteidigung setzte, war Präsident General Charles de Gaulle, der konsequenterweise Frankreich im März 1959 wieder aus der militärischen Organisation der NATO herausführte (allerdings in der politischen Organisation verbleiben ließ) und die Force de frappe (Atom-Streitmacht Frankreichs) ausbaute. Erst nach 48 Jahren ließ sich dieser Schritt unter dem Druck der USA nicht mehr aufrechterhalten und Frankreich kehrte unter seinem Präsidenten Nicolas Sarkozy im März 2009 in den Schoß der Militärorganisation zurück.
Die NATO entwickelte sich zum wirksamen Instrument der globalen politischen Führung der USA; der Big Stick, von dem Theodore Roosevelt gemäß dem Sprichwort träumte, »Speak softly and carry a big stick; you will go far.« [»Sprich sanft und trage einen großen Knüppel, dann wirst du weit kommen.«], wurde ein Instrument, mit dem die nach dem Zweiten Weltkrieg eingeschränkte Souveränität Westeuropas zementiert wurde, das den »Geführten« sowohl den rechten Weg weisen, als auch sie bei Bedarf disziplinieren konnte. Das funktionierte uneingeschränkt bis zum Zusammenbruch und Zerfall der Sowjetunion 1991. Berauscht vom vermeintlichen Sieg der USA und des Kapitalismus ruft Francis Fukuyama 1989 das »Ende der Geschichte« aus. Das »Roll back« habe doch stattgefunden und »rollt« weiter. Russland träumt noch im Geiste Michail Gorbatschows von einem »Europa von Lissabon bis Vladivostok«. Doch bei einem Treffen in Helsinki 1997 beschied US-Präsident Bill Clinton das Ansinnen seines Russischen Amtskollegen Boris Jelzin nach Auflösung bzw. Nichtausdehnung der NATO sinngemäß mit den Worten: »Wir brauchen die NATO, um in Europa zu bleiben.« Die Entscheidung war also gefallen. Die NATO werde nicht aufgelöst, der Vorhof sollte bleiben und perspektivisch nach Osten ausgedehnt werden. Wirklich öffentlich machten die USA dass allerdings erst, als sich dann schon unter Präsident Wladimir W. Putin eine politische und wirtschaftliche Konsolidierung Russlands mit entsprechenden Schutzmaßnahmen nach außen abzuzeichnen begann und sich damit ein Vorwand fand.
Funktionsweise des Großen Knüppels
Unter Zuhilfenahme der NATO verstärken die USA ihren Druck wieder auf Russland, zum einen, zur Einschränkung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen Russlands durch die erneute Einführung von Wirtschaftssanktionen, die zugleich auch auf die politische Isolierung Russlands und die Selbstbeschränkung Westeuropas abzielen. Zum anderen, wird der militär-politische Druck erhöht. 1992 beschließt die NATO erstmals Out-of-Area-Einsätze des Bündnisses, dem fast zeitgleich der erste Kriegseinsatz des Bündnisses in Europa zur Zertrümmerung Jugoslawiens folgte. Die Russische Führung zog aus der damit erfolgten Zerschlagung der alten Europäisch-Amerikanischen Sicherheitsstruktur die Schlussfolgerung, dass die Hoffnungen auf Schaffung einer reinen Europäischen Ost-West-Sicherheitsordnung gescheitert waren. Das ostdeutsche Militär wurde wider alle Absprachen 1995 in die militärische Struktur der NATO, besser der USA, einbezogen, und 1997 wurde mit der Aufnahme Polens, Ungarns und Tschechiens die Osterweiterung der NATO mit den entsprechenden Vereinbarungen zu US-Basen eingeleitet, die 2003 mit Vorbereitungen zur Aufnahme von Bulgarien, Rumänien, der Slowakei, Estland, Lettland und Litauen (letztere drei ehemalige Sowjetrepubliken) ihre vorläufige Fortsetzung fand. Mit der Bombardierung Belgrads im Zuge des Kosovo-Krieges 1999 wurden die Out-of-Area Einsätze fortgeführt, der weitere stets unter Führung der US stattfindende Kriegseinsätze unter Beteiligung von NATO-Mitgliedern, wie in Afghanistan (nach den Terror-Anschlägen am 11. September 2001 erstmalige Ausrufung des Bündnisfalls nach § 5 durch die USA), später im Irak, und die Zerstörung des Libyschen Staates folgten. Die im April 1999 in Washington beschlossene neue Strategie der NATO begründete nochmals den Out-of-area-Einsatz der NATO ohne UN-Mandat und verwandelte damit die NATO von einer als Verteidigungsbündnis definierten Organisation in ein global operierendes Militärbündnis unter Führung der USA.
Die neue Strategie gilt im Grundsatz bis heute. Sie bedeutete den massiven Ausbau und die Stärkung der NATO als Führungsinstrument der USA. Meisterstücke der »Führungsfähigkeit« der USA waren wohl der berüchtigte Auschwitz-Vergleich des grünen deutschen Außenministers Joseph Fischer zur Begründung der NATO-Bombardierung Serbiens 1999, der Ausruf des sozialdemokratischen deutschen Verteidigungsministers Peter Struck 2004 »Unsere Sicherheit wird … auch am Hindukusch verteidigt.«, der Ausruf einer »Zeitenwende« am 27. Februar 2022 im Bundestag durch den sozialdemokratischen Bundeskanzler Olaf Scholz mit der Begründung der Verteidigung von Demokratie und Freiheit Europas in der Ukraine (nach der energetischen Selbstkasteiung der deutschen Wirtschaft auf Geheiß der Führungsmacht). Derweil hat sich das US-Vorfeld in Europa kräftig ausgedehnt, was die USA-Führung zusammen mit ihren Gefolgsleuten zum Jubiläumsgipfel in Washington kräftig feiern wird.
Zum 75. Jahrestag der Gründung des Nordatlantikpakts vergegenwärtigen wir uns die Geschichte der Entwicklung und Funktionsweise des Großen Knüppels in den Händen von Big Brother. Bei der Einschätzung künftiger völkermörderischer Großereignisse sollte dies nicht außer Acht gelassen werden, wie weiland bei der Ukraine oder der vorangegangenen Blaupause Syrien. Nur so wird es möglich, den Charakter von Kriegen zu erkennen und Wege zum Frieden zu finden.
Im März 2024
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