Mut zum Sozialismus
Werner Wüste, Wandlitz
Im September 2005 druckte Die Zeit einen bis dahin unveröffentlichten Text von Christa Wolf: Erinnerung an Koni. Datiert 1986/1992. Das hier Angebotene bekam also erst 1992 (!) seine Endfassung; jedenfalls nach der sogenannten Wende, aber vor Christa Wolfs längerem Aufenthalt in Los Angeles und dem Roman Stadt derEngel:
Für mich war Konrad Wolf eines, vielleicht das Beispiel für einen Menschen, der sich in den Konflikten nicht der letzten vierzig, sondern vielleicht der letzten zwanzig Jahre zerrieben hat.
Ich gehe sogar so weit, zu sagen, dass er nicht mehr leben konnte und dass er in einem Moment gestorben ist, in dem er keinen Spielraum mehr hatte.
...
Ich habe mich innerlich viel mit Konrad Wolf auseinander gesetzt, werde das auch weiter tun. Ich denke, dass er an ein Ende gelangt war, von dem aus sich ihm keine neuen Möglichkeiten mehr eröffneten. Nicht nur, dass er selbst sie nicht mehr sah – sie waren für ihn nicht mehr vorhanden. Nicht in der Arbeit, nicht in der Liebe, nicht in der Politik.
Ganz anders Wolfgang Kohlhaase.
Nicht, dass ich Christa Wolf nicht ernstnehmen, sie nicht für kompetent halten würde; ich meine aber, bei ihr eine andere Grundhaltung zu erkennen, eine, die dem Verstehen im Wege ist.
Floß im Frühnebel
Wolfgang Kohlhase hat andere Erinnerungen, andere Reflexionen, andere Mitteilungen.
Aber zuvor Bruder Markus.
Zu seinem 50. Geburtstag am 20. Oktober 1975 lud Koni in den Berliner Künstlerklub »Die Möwe« ein. Viele Gäste kamen. Jeder Gast hatte mit seiner Einladung Konis Pelmeni-Rezept erhalten, nahm beim Einlaß eine Schürze mit der Auflage entgegen, in der Reihe der Hilfsköche sofort mit der Anfertigung eines Minimums der Kultobjekte zu beginnen. Erst nach Abnahme durch den Chefkoch durfte er sich den bereits anerkannten Teilnehmern der Feier anschließen.
(Markus Wolf, Geheimnisse der russischen Küche, Rotbuch Verlag 1995, S. 124)
Pelmeni waren für Konrad Wolf der Inbegriff russischen Lebens. Mit Leib und Seele war er beim Zubereiten der Köstlichkeit ... Er war ein leidenschaftlicher Koch ...
(Wolfgang Jacobson, Rolf Aurich, Der Sonnensucher Konrad Wolf, Aufbau 2005, S. 382)
Koni konnte eben beides: Pelmeni machen – und Filme.
Und wem fällt da nicht diese Szene in ICH WAR NEUNZEHN ein, wo ...
Stopp! Wenn ich jetzt nicht aufpasse, komme ich vom Hundertsten ins Tausendste. Und vielleicht ins Schwärmen. – Aber wäre das schlimm?
Jene Geburtstagsfeier in der »Möwe« liegt jetzt vierzig Jahre zurück. Bruder Markus, obwohl damals noch der »Mann ohne Gesicht«, wird unter den Gästen gewesen sein wie auch Wolfgang Kohlhaase, seit ICH WAR NEUNZEHN Ko-Autor und Dramaturg, und Freund, vielleicht Christa Wolf, sicher auch Angel Wagenstein aus Sofia, sein Freund vom WGIK [1], mit dem er STERNE gemacht hat, den ersten seiner Filme, der international Beachtung fand. Wer noch? Kapitan Wladimir Gall, Wolodja, möglicherweise, an der Front mit ähnlicher Aufgabe betraut wie Koni selbst, auf der Gedenktafel an der Spandauer Zitadelle, deren kampflose Übergabe wesentlich ihm zu danken ist, wird er Hauptmann genannt; Hans Modrow, mit dem Koni gut konnte ...
Nun doch ICH WAR NEUNZEHN: Die Szene vor der Zitadelle...die Anfertigung von Pelmeni am 1. Mai 1945 (ich weiß nicht ob es stimmt: erzählt wird, die sowjetischen Generale und Offiziere seien wirkliche gewesen) ... die ersten Bilder des Films ...
Heinz Kersten schrieb im Freitag zum 20. Todestag 2002:
Antisowjetismus hat auch der junge Konrad Wolf 1945 als Kulturoffizier in Halle erfahren, wo man ihn auf einer Tafelin der dortigen Universitätsaula als »Vaterlandsverräter« beschimpfte.
Auch die bereits erwähnten Jacobson und Aurich erinnern an diesen Vorfall. Der sei zwar im Detail, sogar in der Datierung verschieden überliefert, im Kern aber unverändert geblieben ...:
Im Herbst 1945 oder 1946 sprach Wolf in einem Raum der kaum zerstörten Hallenser Universität vor einem Auditorium, er »versuchte Hoffnung, Einsicht und Zuversicht zu wecken. Als Antwort bekam ich einen Zettel mit einem Galgen darauf.« (Der Sonnensucher …, S. 210)
Wie auch immer. Sein Film ICH WAR NEUNZEHN jedenfalls beginnt mit dem Bild eines die Oder im Frühnebel flußab treibenden Floßes, darauf ein Galgen und ein exekutierter Wehrmachtssoldat.
»Ich bin ein Russenknecht!«
Konrad Wolf habe eigentlich immer ein und denselben Film gemacht, zitiert Heinz Kersten Angel Wagenstein und fährt fort: Alle seine Filme sind Auseinandersetzung mit deutscher NS-Vergangenheit und Nachkriegsgegenwart, stellen Fragen nach der Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Geschichte und der Gesellschaft.
Ja. Und sind die währende, immer neue Bestimmung des eigenen Platzes; auch wenn es anders scheint: seine Filme sind er selbst, ein anderer hätte sie so nicht machen können.
Endlich Wolfgang Kohlhaase:
»ICH WAR NEUNZEHN« war eine Arbeit, bei der wir uns gut fühlten, alle die dabei waren, aber Wolf war vielleicht besonders glücklich. Es war seine eigenste Geschichte, ohne dass sie, wie er zuerst befürchtet hatte, nicht nachvollziehbar wurde, er machte einen historischen und zugleich seinen persönlichsten Film. Beim Drehen bewegte er sich wie damals in zwei Sprachen. Er war wieder in Bernau, wo er tatsächlich Kommandant gewesen war, was er, glaube ich, vorher kaum jemand erzählt hat. Nach dem Film wurde er Bernauer Ehrenbürger, nach einem Bierbrauer und einer Hebamme der Vierte. Den Dritten fragte er, der Idylle mißtrauend, aus den verlegenen Stadtvätern heraus, der Dritte, sein Vorgänger, war Hitler.
(Wolfgang Kohlhaase, Um die Ecke in die Welt, Neues Leben 2014, S. 250)
Intellektualität und Emotionalität
Aus Konrad Wolfs Kriegstagebuch:
Ich werde mich also in meinen Zukunftsplänen, was meine Arbeit betrifft, nicht sonderlich festlegen, und gedenke, meine Zukunft doch in meiner zweiten, eigentlich näheren Heimat einzurichten. Genauer gesagt, ist das eine Vaterland zu nennen, das andere Heimat.
(zitiert nach Der Sonnensucher..., S. 185)
Eine Schilderung aus dem Treatment für ICH WAR NEUNZEHN liest sich wie die Fortsetzung des Kriegstagebuchs:
Ich ging mit Wolodja durch das Lager [2], als ob wir die Mörder noch ausfindig machen könnten! Wir gingen durch das verträumte Oranienburg, dann an einem See entlang – oh, wie uns dieser trügerische Friede, dieser hinterlistige Frühling reizte. Wir sprachen über einen, den wir am besten kannten, es tauchten die Erinnerungen auf und er wurde lebendig ... Ich weiß nicht, warum wir gerade um diese Toten so trauerten, wir hatten doch schon einige unserer besten Freunde verloren, haben viel grausamere Hinterlassenschaften der Nazis gesehen ... Ich weiß es nicht. … Vielleicht war Wolodja noch nie so direkt mit seiner »Haßliebe« den Deutschen gegenüber konfrontiert ... Vielleicht war mir etwas genommen worden, dessen ich mir noch gar nicht recht bewußt werden konnte, die Personifizierung einer leisen, zaghaften Hoffnung auf ein besseres Morgen meiner Heimat, meiner Landsleute. Vielleicht, nein gewiß war es diese verfluchte Ohnmacht, die uns jetzt immer häufiger befällt, je näher der Tag rückt, von dem an es keine Toten dieses mörderischen Krieges mehr geben wird. Eine Ohnmacht gegenüber der barbarischen Unsinnigkeit des Todes, wo das sichere und notwendige Leben schon greifbar nahe ist.
(Der Sonnensucher..., S. 331)
Zu diesem Zeitpunkt hatte das Treatment noch den Titel HEIMKEHR 45.
Intellektualität und Emotionalität in schwierigem Konflikt miteinander? Oder doch eher in widerspruchsvoller Übereinstimmung?
Eine direkte und vielleicht gar bemühte Antwort will ich hier nicht versuchen; aber weit ab vom Thema dieses Artikels läge sie nicht. Mir scheint, solches Nachdenken könnte hilfreich sein, Teil einer Erklärung für die differenzierten Sichten auf Konis viel zu früh abgebrochenes Leben.
1984 schrieb Kohlhaase eine Skizze für einen möglichen Film über Konrad Wolf. Darin ist so viel Kluges und Herzliches zu lesen, daß man immerfort zitieren möchte. Wie er, Koni, bereits Präsident der Akademie der Künste, an Straßenrändern, notfalls auch in öffentlichen Anlagen, für das Meerschwein seines Sohnes Mirko, Gras zupfte; daß Wolf sich den Problemen, wie immer man sie sehen mag, nicht besserwisserisch genähert hat, daß, wie er meinte, gerade unsere Gesellschaft Politik braucht, als gemeinsames Bewußtsein der öffentlichen Dinge, daß ihm die Bequemlichkeit suspekt (war), mit der sich manche Leute in Konflikten zur jeweiligen Mehrheit schlagen ...
Der Frage nach Sinn oder Sinnlosigkeit unseres Geschicks ist Konrad Wolf nicht ausgewichen in die glatten Antworten, aber er hat ihr seine Gewißheit entgegengestellt von der unzerstörbaren humanen Mitte der Revolution. Solche Haltung ist wohl nicht zu haben ohne die Mühe der täglichen Arbeit, und, hat man gelebt wie er, ohne den Einsatz aller Lebenskraft.
Im Vorwort zu DIE TROIKA schreibt Markus Wolf:
Ich ertappe mich bei dem Gedanken, daß schon aus dem Leben Gegangene in letzter Zeit immer häufiger neben mir sind, seit jenem Tag, da auch Konis schwarze Mappe bei mir ist. Diese schmale lederne Kollegtasche hatte er während der letzten Wochen seines Lebens stets in seiner Nähe, in ihr bewahrte er das für ihn nun Wichtigste auf – die Idee von der Troika, die Geschichte dreier Jungen, die in Moskau Freunde wurden.
(Markus Wolf, Die Troika, Geschichte eines nicht gedrehten Films, Nach einer Idee von Konrad Wolf, Aufbau 1989)
Die Moskauer Troika. Koni, Vitja, Jura. Drei Leben, drei Schicksale, wie sie, dann, unterschiedlicher kaum sein konnten. In denen sich die Widersprüche, auch Antogonismen der letzten Jahrzehnte finden. Bei den Wiederbegegnungen in grossen Abständen jedoch zeigte sich, daß das ehemals Verbindende, die Jungenfreundschaft, trotz aller Belastungen starke Brücken bildete.
Wieder wollte Koni Wolf mit dem Freund Angel Wagenstein arbeiten. Und die überlieferten Gedanken Wagensteins waren wohl die Gedanken beider.
In unserem Film könnte es zu keiner richtigen politischen Gegenüberstellung kommen, wenn wir dem Opponenten nicht gestatten, seine Überlegungen frei, und so wie er denkt, auszusprechen ... und nicht so, wie wir es uns wünschen, damit uns die Antwort leichter fällt. Wir können die Wahrheiten nicht durch Halbwahrheiten ersetzen; wir können nicht tun, als ob wir in unserem Film die stärksten und überzeugendsten Argumente der anderen Seite vergessen hätten – ausgerechnet jene, auf deren richtiger Antwort der Ausgang unseres Kampfes um die Vernunft und die Herzen der Menschen beruht ... In unserem Film müssen wir auch Schlachten verlieren können, wenn wir tatsächlich an unseren strategischen Vorteil im Endspiel glauben.
(Troika …, S. 181)
Die Autoren des Films sind Kommunisten, schreibt Angel Wagenstein, und die generelle ideologische Strategie unserer Parteien ist ihnen selbstverständlich nicht fremd. In die Sprache der Kunst umgesetzt, bedeutet jedoch diese Strategie nicht das Verschweigen unliebsamer Tatsachen, leichte Siege über geringfügige Gegner ... ängstliches Umgehenbrenzliger Probleme … Warum sollten wir es verschweigen: wir haben nicht für alle Fragen eine einfache Antwort parat! Die Mängel, Fehltritte oder Vergehen, die die westliche Propaganda groß aufzieht, sind nicht alle nur deren Phantasie entsprungen. Wenn nicht wir Erklärungen abgeben oder Ursachen analysieren, dann tun es eben andere, und zwar in der Regel auf die für uns ungünstigste Art und Weise. Vom Standpunkt der Geschichte aus haben wir recht, aber das bedeutet nicht, daß wir jede Minute recht haben, daß jeder unserer Bürokraten recht hat, daß jeder unserer Schritte in die wahre Richtung geht, daß wir uns mit jedem schimmeligen Kopf solidarisieren, bloß weil er die eingepaukten Wahrheiten des Marxismus-Leninismus nachredet ... Kurz gesagt: es muß ein aufrichtiger und mutiger Film werden!
(Troika …, S.187)
Wer wie er den Krieg erlebt hat, schreibt Kohlhaase 1982, in der Roten Armee, vom Kaukasus bis Berlin, wer über die Front zu den Deutschen gerufen hat, auch wenn Schüsse die Antwort waren, der war sich seiner Haltung später sicher. Er setzte … auf den Umgang mit Vernunft, auf das Gespräch, auch über jene Trennlinien hinweg, die manchmal zwischen uns verlaufen. Sein Respekt vor Menschen entsprach seiner großzügigen Natur, aber darin steckte auch ein klarer politischer Gedanke. Der Sozialismus, meinte er, sei für viele da, und viele müssten, immer aufs Neue, an ihm beteiligt sein.
(Um die Ecke …, S. 242)
Unsere Gesellschaft ... ist auf Dauer angewiesen auf solche Charaktere, so Wolf mit Bezug auf SOLO SUNNY. Die realen Bedingungen, unter denen der Sozialismus sich entwickeln und behaupten muss, verlangen da einen langen Atem. Das heißt aber nicht, fromm zu warten und sich auf die Notwendigkeiten des Tages herauszureden. Wir müssen Mut machen auf solche Menschen und Entwicklungen, wir müssen sie ermutigen – und uns.
(Ebenda S. 54)
Nach Verzweifeln klingt das gerade nicht. Ebensowenig nach einem Ende, von dem aus sich ihm keine neuen Möglichkeiten mehr eröffneten, wie Christa Wolf meinte.
Und wie einer mit Niederlagen fertig wird, scheint mir auch davon bestimmt, ob er dann seinen Emotionen traut, wenn ihnen der Intellekt zunächst scheinbar widerspricht. Ob er über die Klugheit eines großen, starken Gefühls verfügt. Ob er dessen Wachsen in seinem Leben Raum und Kraft gab. Ob er jemand ist, der vor sich selbst bestehen kann.
Kurz: Ob ihm die Treue zur Idee bleibt, auch wenn diese in Schwierigkeiten gerät.
Aus den Träumen heraus, in die ihn Medikamente stürzten, sprach er von der Macht des Menschen über den Menschen und dass wir erst anfangen würden, darüber nachzudenken. Mir fiel ein, dass er einmal gesagt hat: Macht kann nicht gedeihen ohne Güte. Er hatte von solcher Güte, hatte die Geduld dazu und die Kraft, unerschöpflich viel, wie wir dachten.
(Ebenda, S. 242/43)
Koni Wolf wäre am 20. Oktober Neunzig geworden. Er könnte noch unter uns sein. Und wie gut das wäre!
Anmerkungen:
[1] Allrussisches Institut für Kinematografie.
[2] Konzentrationslager Sachsenhausen nahe Oranienburg.
Mehr von Werner Wüste in den »Mitteilungen«:
2015-09: Kompilation. Annäherung – Walter Benjamin
2015-07: Kennen Sie Einstein?
2015-04: Werner Wüste: »Vaterlos. Kindheitserinnerungen 1935-1945«