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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Müssen junge Deutsche wieder in der Fremde töten und sterben?

Dr. Jochen Willerding, Rangsdorf

 

Anlass der Fragestellung ist ein fünfzehn Jahre zurückliegender »Zwischenfall« in einer sogenannten Auslandsmission der Deutschen Bundeswehr, der seinen Schatten (der Nichtaufarbeitung durch die Eliten dieses Landes) auf die innen- und außenpolitische Lage der Bundesrepublik wirft. Vor 15 Jahren, am 4. September 2009, schätzte im fer­nen Kundus, einer bis dato den meisten Deutschen unbekannten afghanischen Stadt mit circa 350.000 Einwohnern, ein Bundeswehr-Oberst Georg Klein die Lage militärisch falsch ein und forderte eine US-Bomberstaffel an. Der erfolgte Bombenabwurf zerstörte zwei Diesel-Tanklastzüge und die dazugehörigen Schleppfahrzeuge. Er forderte zudem den Tod von mindestens neun afghanischen Bürgern »on the ground«, was dem Verneh­men nach die bisher größte Zahl ausländischer Opfer bei einem Einsatz der Bundes­wehr darstellte. In Deutschland wurde dann monatelang darüber gefeilscht, ob der deutsche Oberst Schuld hatte oder nicht. Die Frage wurde so lange gewendet, bis er »nicht wirklich schuld« war und das Problem weitgehend aus der Öffentlichkeit ver­schwand. Ob der Oberst für seinen mutigen »Fronteinsatz« intern belobigt worden war, ist nicht bekannt. Degradiert wurde er jedoch nicht.

Im Gestrüpp propagandistischer Nebelschwaden

Gar nicht erst in der Öffentlichkeit aufgetaucht sind all die mit einem Krieg verbunde­nen Grundsatzfragen nach seinen Ursachen sowie den dahinter stehenden Interessen. Doch was machte der Oberst mit seinen Leuten eigentlich in Afghanistan? Sind doch in jedem Krieg, auch wenn er Auslandseinsatz, -mission oder Spezialoperation genannt wird, »Vorfälle« wie dieser an der Tagesordnung. Krieg ist die Eroberung von menschli­chen und materiellen Ressourcen, aber auch die Tötung von Menschen und Zerstörung von Material, immanent. Dies unter bestimmten Umständen als »Fehleinschätzungen« oder »Kollateralschäden« abzutun, macht dem Betrachter lediglich die Schizophrenie menschlichen Denkens deutlich.

Da einem Angreifer die Begründung einer Kriegsbeteiligung in der Regel eher schwer­fällt, werden immer wieder zweifelhafte Anlässe, zumeist Schuldzuweisungen, gefun­den. Wir erinnern uns an Gleiwitz 1939, die »schon immer aggressiven« Russen 1941, Tongkin vor Vietnam, die »Auschwitz-Gefahr« in Jugoslawien (Erfinder: Joschka Fischer, Grüner), Chemiewaffen im Irak, etc. Im Afghanistankrieg war es These des deutschen (sozialdemokratischen) Ministers für Verteidigung Peter Struck, nach der »die Sicher­heit der Bundesrepublik Deutschland … auch am Hindukusch verteidigt« werde. Sinn machen würde sie nur, glaubte man wirklich daran, dass Guerillakämpfer am 5.000 km entfernten und bis in eine Höhe von fast 8.000 m reichenden Hindukusch inmitten einer mittelalterlichen Gesellschaft ernsthaft die Sicherheit Deutschlands bedrohten.

Das Erschütternde besteht darin, dass viele Menschen in unserem Land solch einem haarsträubenden Unsinn Glauben schenken, wieder und immer wieder. Weshalb – durch Gleichgültigkeit wegen der nicht spürbaren Betroffenheit? Vielleicht. Bei näherge­legenen Krisengebieten ist es allerdings nicht wesentlich anders. Höchstens der Grad der »Empathie« schwappt etwas höher. Auf Grund mangelnden Wissens und Verstehens der Zusammenhänge, bzw. auch der zielgerichteten Infiltration »interessierter Kreise«? Wohl eher. Hier besteht die eigentliche Herausforderung, die Ursachen, Hauptbeteilig­ten, etc. aufzudecken – gegen das Gestrüpp der allseitigen propagandistischen und me­dialen Nebelschwaden. Da »wir« gerade wieder einmal unsere »Sicherheit, Demokratie und Freiheit verteidigen«, diesmal bereits etwas näher, in der Ukraine und erneut gegen Russland, scheint es mir nicht um eine Zukunftsaufgabe zu gehen, sondern ein Gebot der Stunde. Den vielen Toten war noch nie damit geholfen, dass man die wirklichen Ver­ursacher und Treiber von Kriegen, wenn überhaupt, so im Nachhinein herausfand.

Immer wieder ist die Ausblendung der »Vorgeschichte« Kern der ideologisch fundierten politischen Gleichschaltung. Also muss man sich trotz permanenter Androhung öffentli­cher Ausgrenzung und Einschüchterung mit eben dieser Vorgeschichte befassen, stets aufs Neue. Wie kam es denn zum deutschen Kriegseinsatz in einem Land, in dem seit Alexander dem Großen alle Invasoren gescheitert waren?

Abzug oder Rauswurf?

Das US-Narrativ ging so: Die verheerenden Terroranschläge von vier islamistischen Selbstmordattentätern auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington, D.C. vom 11. September 2001 mit fast 3.000 Todesopfern seien eine unmittelbare Bedrohung der nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten, die die USA »berechtigten«, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die vermeintlichen Hintermänner und Organisatoren, die Terrororganisation al-Qaida und deren Anführer Osama bin Laden, einen Islamisten elitärer saudischer Herkunft, vorzugehen. Dazu drangen sie im Rahmen der zuvor ausgerufenen Operation Enduring Freedom [plötzlich ging es doch um Freiheit, am Hindukusch!] noch im Herbst 2001 militärisch in Afghani­stan ein. Erklärtes Ziel war der Sturz der Regierung der seit 1996 herrschenden islami­schen Taliban. Als Vorwand diente die vermeintliche Tatsache, dass sich Osama bin Laden in Afghanistan versteckt hielte und die Taliban seine Auslieferung verweigerten. Zur Gewinnung weiterer Partner riefen die USA erstmalig (und bis heute einmalig) in der Geschichte den Bündnisfall gemäß Artikel 5 des Nord-Atlantik-Paktes (!) aus und zogen so auch die BR Deutschland ohne erkennbaren Widerstand in ihre Invasion hinein.

So fand der US-amerikanische Afghanistankrieg unter Mittun junger Deutscher seinen Anfang und endete 20 Jahre später mit einem überstürzten Abzug der Amerikaner und ihrer Verbündeten aus dem Land. Oder war es doch eher ein Rauswurf mit folgender Ausrufung des Islamischen Emirats Afghanistan durch die Taliban? Der Wertewesten zog sang- und klanglos ab. Der noch vor 2001 durch die USA ausgerufenene Kultur­kampf war gegen die Taliban verloren. Osama bin Laden wurde bekanntermaßen nicht in Afghanistan, sondern in Pakistan gefunden. Am 2. Mai 2011 wurde er durch ein US-amerikanisches Spezialkommando unter Bruch der Souveränität des UNO-Staates ohne Gerichtsurteil in seinem Wohnhaus in Abbottabad ermordet. Nicht unerwähnt bleiben sollte die virtuelle Zuschaltung des Friedensnobelpreisträgers Barack Obama aus dem War Room (!) des Weißen Hauses. Aber auch die sich langsam verdichtenden Hinweise auf eine mögliche Spur der Anschläge nach Saudi-Arabien bleiben in Erinnerung, aber nicht weniger das bis heute nicht geschlossene illegale US-Gefängnis Guantanamo.

Für unser Land ergeben sich aus diesem Hergang des Krieges am »Ende der Welt«, der 56 Deutschen das Leben kostete und noch weit mehr Verletzte und psychologisch Belastete hinterließ, von den Tausenden Toten und Traumatisierten der einheimischen Bevölkerung nicht zu reden, einige Schlussfolgerungen.

1. Das dargestellte US-Narrativ für den Afghanistankrieg war schon damals in der BRD wenig plausibel. Die seinerzeit federführenden Sozialdemokraten schalteten denn auch frühzeitig scheinbar auf die »westlichen Grundwerte« um. Sie ließen ihren Kriegsminis­ter Peter Struck 2002 im Bundestag ausrufen: »Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt. … Deutschland ist sicherer, wenn wir zusammen mit Verbündeten und Partnern den internationalen Terrorismus dort bekämpfen, wo er zu Hause ist. Unsere Sicherheit wird größer, wenn sich die Bundeswehr … am Wiederauf­bau unter demokratischen Vorzeichen auf dem Balkan (!) und in Afghanistan beteiligt …«. Dem Seniorpartner folgend, wurden wieder einmal die westlichen »Grundwerte« vorgeschoben, um trotz allem beim Grundnarrativ der Terrorbekämpfung zur transatlan­tischen (!) Sicherheit zu bleiben.

2. Beginn und Verlauf des Krieges machen deutlich, dass es sich vom ersten Tag an um einen weiteren US-amerikanischen Krieg handelte. Man mag trefflich über die Begrün­dung dafür streiten. Dass sich aber die Bundesrepublik, wie Westeuropa insgesamt, von einzelnen Attentaten abgesehen, vom islamischen Terrorismus angegriffen fühlen konnte, hält dem so oft beschworenen Faktencheck kaum stand. Es war kein Krieg der Deutschen bzw. Europäer, es war ein Krieg der US-Amerikaner. Wer Frieden in Afghani­stan wollte, musste sich gegen die USA auflehnen und gegen deren Helfershelfer in Westeuropa. Trotz alledem wurden deutsche Soldaten mit einer grundfalschen Begrün­dung zum Töten und Sterben in einen neuzeitlichen Krieg geschickt.

3. Wer hat bei diesen Vorgängen nicht auch die Assoziation zu den schon vielfach ver­suchten und zum Teil realisierten Regime-Changes in Damaskus oder Kiew, in Belgrad oder Bagdad im Namen der »westlichen Werte«. Die Geschichte hat allerdings oft genug gezeigt, dass »Export einer Revolution« (egal welcher ideologischen Couleur) zum Scheitern verurteilt war. Übrig bleibt aus all diesen Aktionen stets die Expansion des Großkapitals mit kriegerischen Mitteln. Und selbst das gelingt jüngst immer weniger. Die Konsolidierung Russlands nach dem Zerfall der Sowjetunion, der Aufstieg Chinas, die Entwicklung weiterer Großmächte wie Indien, Südafrika, Brasilien oder eines Landes wie Venezuela legen Zeugnis davon ab. Und auch der Krieg in der Ukraine, letztlich Stellvertreterkrieg zwischen der vom US-Imperium geführten NATO und Russland, geht, wenn auch viel zu langsam und zu opferreich, einem Ende entgegen.

Der Nahe Osten gerät den USA nach dem Scheitern des Regime-Changes in Syrien und dem Gaza-Krieg außer Kontrolle. Dem selbst ernannten Weltpolizisten werden Grenzen aufgezeigt. Die »Weltinnenpolitik« der USA (ja, es gab schon früher – mit H.-D. Gen­scher zum Beispiel – deutsche Außenminister, die sich als Sprachrohr des State Department betätigten) endet, bevor sie richtig begonnen hat.

Auch Frieden ist fortgesetzte Staatspolitik

4. Der Jahrestag von Kundus sollte neben den unmittelbaren Fragen der Einschätzung der wirkenden Interessen im Afghanistankrieg und in aktuellen Kriegen auch zum grundsätzlichen Verständnis von Krieg und Frieden Anlass geben. In Vietnam waren die­se Interessen so offensichtlich, dass kein Narrativ verfangen konnte. Zu klein war das geschundene Land, zu groß seine Millionen Opfer. Und bei weitem zu groß – der Angreifer. In den meisten Fällen jedoch folgt die Mehrheit den mehr oder weniger sorgfältig erfundenen Geschichten. Aber es waren doch nicht die Polen, die 1939 mit Gleiwitz Deutschland zum Angriff auf das Nachbarland herausforderten. Es war doch nicht die Sowjetunion, die 1941 Deutschland überfallen hatte und dann über 20 Millionen Bürger verlor, auf dem Schlachtfeld und in den Konzentrationslagern. Es waren nicht die Kubaner, die die USA in der Schweinebucht überfallen hatten, und und und. Ohne die eindeutige öffentliche Benennung der Inspiratoren und Anführer von Kriegen wird es weiterhin nicht möglich sein, einer Friedensbewegung eindeutige Ziele und Wege zum Frieden aufzuzeigen.

5. Der Klassiker der Militärwissenschaft, Carl von Clausewitz, wollte 1832 »notwendig festgestellt« wissen, dass »der Krieg nichts ist als die fortgesetzte Staatspolitik mit anderen Mitteln.« Er verstand damit zugleich, dass Krieg eine militärische Form von Politik ist, dessen »Zweck das Niederwerfen des Gegners« ist, sei es, »daß man ihn poli­tisch vernichten oder … bloß … einige Eroberungen machen will, sei es, um sie zu behal­ten oder um sie als nützliches Tauschmittel beim Frieden geltend zu machen.« Diese Definition ist schon sehr weitreichend, definiert jedoch den Frieden nicht genauso klar. Frieden ist aber ebenso wie Krieg – Politik. Und Politik hat, egal ob die Mittel friedlich oder militärisch sind, mit [Kapital-]Interessen und Macht zu tun. Seit die Menschen ihre Reproduktion durch kapital-basierte Arbeit realisieren, existiert der Zusammenhang unterschiedlicher Arten der Politikausübung, militärischer, wirtschaftlicher und ideeller, wie auch nur die Androhung aller. Die Wahrnehmung von Frieden als Gegenteil von Krieg ist zwar menschlich nachvollziehbar, aber in Bezug auf die zerstörerischen und auch tödlichen Auswirkungen so nicht zutreffend. Eine Definition des Friedens gäbe uns die Möglichkeit, noch unter den derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen über eine zielorientierte Eindämmung der militärischen Mittel nachzudenken, die über die schlich­te Forderung nach Abrüstung hinausführt. Die logische Erweiterung von Clausewitz scheint: Frieden ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen als militärischen politischen Mitteln. Nichtmilitärische Politik setzt die Anerkennung der Souveränität als Vorausset­zung für eine Friedliche Koexistenz der Staaten unterschiedlicher wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungsstandes voraus.

So könnten wir zugleich nachhaltig jungen Deutschen, Russen, Amerikanern, allen Men­schen gegenseitiges Töten und Zerstörung im Interesse auch fremder Mächte ersparen. Nur darin kann das allererste Ziel des Kampfes für Frieden und Fortschritt bestehen. Ohne dies ist alles andere Nichts!

 

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