Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Mit der DDR gewachsen

Walter Ruge, Potsdam

 

Anläßlich "runder" Geburtstage/Jubiläen wird in der Regel etwas geschwollen gesprochen; da es in diesem Jahr kein "runder" Geburtstag/Jubiläum – lediglich der 49. – wird, wollen wir das Thema des Tages etwas lockerer angehen. Es beginnt damit, daß ich mich zum Zeitpunkt der Gründung der DDR in Omsk befand, wohlbehütet als "Konterrevolutionär" in einem Arbeitsstraflager; ein Häftling der von seinen 10 Jahren noch zwei abzubrummen hatte. Unsere Verbindung zur Außenwelt war nicht gerade üppig, ein Netz von öffentlichen Lautsprechern beschallte in den Morgen- und Abendstunden das Lager und die anliegenden Zivilgebäude mit den "nötigen Neuigkeiten" und Musik. Gesteuert wurde diese "Öffentlichkeitsarbeit" aus einem "Radiousel", einem kleinen Studio mit einem ordentlichen Empfangsgerät, die es in Folge der Reorganisierung der Rüstungsindustrie nach dem Kriege zur Genüge gab. Das alles wäre zunächst einmal belanglos, wäre nicht der "Chef" dieses "Radiousel" – neben meiner "Planstelle" als Arzthelfers des NKWD-Lazaretts – Ihr verehrter Autor gewesen. Wenn ich nicht gerade "Offizielles" für die Häftlinge "ins Netz" gab, stand es mir – nicht so ganz – frei, den Empfänger nach Gutdünken für den Privatbedarf abzuhören, eine Verbindung zur ganzen Welt stand hier "offen". Mit ein paar Sprachkenntnissen war man topinformiert. Meine Stammquelle war die Londoner BBC, die Erstaunliches zu bieten hatte. Wenige Monate nach der Gründung der Bundesrepublik erfuhr ich taufrisch und in gutem Englisch, daß eine Deutsche Demokratische Republik gegründet worden ist. Ich war sofort begeistert, hatte aber auch meine Zweifel, ob in dieser Enklave tatsächlich der braune Sumpf trocken gelegt werden könne. Dann tauchten vertraute Namen auf, Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht, beide waren einst "Steglitzer", d.h. wohnten in Berlin-Steglitz und waren eng mit meinen Eltern befreundet. Einer meiner Mithäftlinge sah sogar eine "Perspektive": "Nach deiner Haftentlassung könntest du eines Tages vielleicht sogar in die DDR übersiedeln!". "Ja, wenn" – wendete ich ein – "die DDR der Sowjet Union beitreten würde".

Die ferne DDR

Nun machte ich morgens jeden Tag meine Aufwartung an das ferne, mir unbekannte Kücken. Enttäuschungen ließen sich dabei nicht ganz vermeiden. So erfuhr ich, daß die neue Staatsflagge schwarz-rot-gold sein würde. Das traf mich hart, hatten wir dazu vor dem Faschismus tausende rote Banner mit Hammer und Sichel durch Berlins Straßen getragen? Bei uns hieß das "Schwarz-rot-Mostrich", war "bürgerlich", hatte Hitler bis zur "Ernennung" begleitet. Aber Berlin war weit – ich ging "auf Transport" an den Polarkreis; auch hier die "Medien" nicht gerade üppig vertreten; das brennende Interesse für das "zweite Deutschland" blieb.

Für "gute Arbeit" – ein Jungkommunist kann im Sozialismus gar nicht "schlecht" arbeiten – kam ich im Hohen Norden vorfristig "frei", ich wurde "Zwangsangesiedelter", was natürlich mein brennendes Interesse für die DDR nicht schmälerte. Sehr bald erwarb ich einen hervorragenden Radioempfänger mit gutem Kurzwellenbereich, und über BBC, Radio France (deutschen "Medien" traute ich schon damals nicht sonderlich) lauschte ich, was diese DDR so anstellt. Grundfragen, zu deren Lösung sich die KPdSU als unfähig erwiesen hatte, lösten sich biologisch – im März 1953 starb der Generalissimus.

Auch am 17. Juni 1953 galt meine erste freie Minute dem Äther: Eine Direkt-Reportage der BBC aus den Straßen Berlins, Geknatter von Maschinengewehren, Geschrei und die freundliche Stimme des Kommentators: "This is the end of the Russian occupation of Eastern Germany". Mein Traum, wenn auch mit Muttermalen behaftet, lag in Scherben.

Nur wenig später fand ich meine Mutter Charlotte, die aus der Mexikanischen Emigration zurückgekehrt war, in Potsdam wieder. Es entwickelte sich ein reger Briefwechsel, der im Wesentlichen darin bestand, mir "die Politik der Partei" in der DDR zu erläutern. Ich konnte – da Korrespondenz mit dem "Ausland" natürlich überwacht wurde – nur sehr nebulös über mein Schicksal und meinen "Status" Auskunft geben. Das mußte meine Mutter, die damals eine hohe Funktion bekleidete, vor ihrer Parteiorganisation in gravierende Erklärungsnot bringen – es wurde immerhin "klar", daß sie im fernen Sibirien einen "konterrevolutionären" Sohn "im Knast" hatte. Man kann sich vorstellen, was ich ihr damit für Partei-Kummer bereitete. Zum Glück war die "Linie" der Partei im Hohen Norden – ich hatte nicht einmal einen Personalausweis – nicht bindend. Als Mutter mir in ihren "Politinformationen" eröffnete, warum "die Partei" jetzt Kurs auf die Wiedervereinigung genommen habe, war ich über dieses neue Gespenst außer mir; ich beschwor meine DDR-Lieben, doch froh zu sein endlich, diese ganzen Kohle- und Stahlbarone, die Henkel, BMW und Volkswagen, die Adenauer, die Generalität, diese ganzen ehemaligen Nazis los zu sein, statt sich mit "denen" zu vereinigen – vergebens. Zu meiner Erleichterung half "die Partei", sie änderte ihre Linie, gab den Gedanken einer "Wiedervereinigung" auf, ja beschloß, in der DDR den Sozialismus zu errichten; das fand auch meine kleine Verbannten-Familie okay.

Meine Mutter – eine sehr energische Frau – faßte den Stier bei den Hörnern, schrieb an K. E. Woroschilow – Vorsitzender des Obersten Sowjets der UdSSR – und erlangte 1955 eine Erlaubnis, zu ihren Söhnen ins ferne Sibirien zu fahren. Mutter hatte ein Visum bis Swerdlowsk – was für damalige Verhältnisse unglaublich erschien – und wir eine Sondergenehmigung, eine "Ausreise" zum Verlassen des Verbannungsgebiets ebenfalls nach Swerdlowsk (400 Kilometer) zu fahren. Wir lebten dort 4 Wochen in einem großen Hotel zusammen, erfuhren sehr viel über die DDR, vor allem, daß dort der Faschismus mit Stumpf und Stil ausgerottet ist. Unsere "Ansichten" kommentierte Mutter stets "Ihr sprecht wie der RIAS", den wir nicht kannten. Mein Bruder entschloß sich 1956 zur Rückkehr – ich nicht, trotz der rosig-antifaschistischen Farben, in denen meine Mutter die DDR geschildert hatte. Erst die optimistischen Briefe meines Bruders und die regelmäßige Lektüre der "Täglichen Rundschau" stimmten mich allmählich um.

"Der Russe"

So landeten wir – meine Frau Irina und ich – nach einem Mittagessen in Vilnius – mit einer IL 14 im September 1958 in Berlin-Schönefeld; nach Moskva-Scheremetjewo ein reichlich provinzieller Flughafen. Einen Bahnanschluß gab es nicht, einen Busanschluß auch nicht, es gab einen Zubringer nach Berlin-Grünau. Dort entschlossen wir uns kurzerhand, ein Taxi nach Potsdam zu nehmen; Geld hatten wir; das Leben in der Neuen Heimat hatte begonnen.

Es gab ein ausführliches "Kadergespräch" im ZK der SED in Berlin, wo die Haltung der Genossen schließen ließ, daß sie schon viele solcher komischer Vögel gesehen hatten, ohne jegliche Verwunderung wurde zur Kenntnis genommen, daß ich volle 10 Jahre gebrummt hatte. Ich verfaßte einen ausführlichen Lebenslauf, durch welche Gefängnisse und Lager mich meine sowjetischen Genossen so alles gehievt hatten; worauf man mir – ohne Kandidatenzeit – mein Mitgliedsbuch der SED aushändigte, um dann allerdings zu lernen: "Also, wenn du nach Potsdam zurückkehrst, dann hast du in der Sowjet Union die ganzen Jahre fleißig am Aufbau des Sozialismus mitgewirkt" – was ja im übertragenen Sinne sogar seine Richtigkeit hatte. Mir fiel es nicht schwer, dieses Gebot der Stunde einzuhalten, denn das geringste Eingeständnis meines wahren Werdeganges hätte nichts als endlose Erklärungsnot hervorgerufen. In Diskussionen allerdings gab mir oft mein "Wenn ihr wüßtet wo ich schon alles gewesen bin" eine gewisse Gelassenheit.

Meinem Wunsch gemäß begann ich sehr bald in der DEFA zu arbeiten, besser als Lehrling in "Erwachsenenqualifizierung" für 315 DDR-Mark monatlich. Ich wurde freundlich, aber allgemein als "Russe" aufgenommen, das war wohl meiner verkommenen Sprache, gewiß auch meinen asiatischen Manieren geschuldet – jetzt mußte ich wieder "deutsch" werden.

In den "Kampfgruppen der Arbeiterklasse" – die ich als so etwas wie den Nachfolger des "Roten Frontkämpferbundes" betrachtete – konnte ich meine sportlichen Ambitionen voll spielen lassen, war nicht tot zu kriegen. Der "militärische" Ton war nicht so ganz nach meinem Geschmack – meine Genossen hatten alle "gedient", ich nicht – aber es war ja für eine gute Sache. Politisch war ich einerseits "zurück", andererseits durch meine "sowjetischen Erfahrungen" aber auch "voraus". Das mit dem "Sozialismus aufbauen" ging nicht ganz auf, irgend etwas mußte durchgesickert sein; ich wurde in der Stadtleitung der SED sogar der "Lüge" bezichtigt. Das konnte ich gelassen nehmen: "Berlin hat gesagt, das braucht ihr nicht zu wissen!".

Eine wüste Bilanz

Es würde Seiten füllen zu beschreiben, wie vielfältig sich mein Leben in der DDR entwickelte; berufliche Entwicklung bis zum Meisterbrief. Die Kollegen wollten wissen, ob ich wenigstens eine "russische Kamera" mitgebracht hätte. Sehr bald hatte ich ausgelotet, daß die DDR das ideale Radsport-Taschenformart hat, d.h. man konnte von Potsdam jeden Winkel der DDR in einem Tagesritt erreichen. Diesen Radsport-Erfahrungen genügend, trat ich beim Energiekombinat Potsdam in eine frisch gegründete Sektion Radtouristik ein, wo mir vom BSG-Vorsitzenden Werner Firmont allerdings eröffnet wurde, daß diese Sektion nur funktionieren würde, wenn ich den Vorsitz übernehme; also wurde ich Vorsitzender. Reiche Stunden verbrachte ich in der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft. Meinen Sprachkenntnissen entsprechend wurde ich russisch-deutscher Conferencier und Kongreßdolmetscher, bis der Regisseur Wolfgang Luderer mit mir die Rolle eines sowjetischen Offiziers in dem Fernsehfilm "Im toten Winkel" besetzte, was mich später viele Male vor die Kamera brachte. Mir war vergönnt, über Wochen viele sowjetische Ensembles, aus Kischinjow, aus Novosibirsk, darunter den Puppenkönig Sergeij Obraszow, durch die DDR zu begleiten; so viel im Telegrammstil, 32 unvergeßliche Jahre. Dabei war der Übergang vom "Werktätigen" zum Rentner absolut fließend, bis sich die "Wende" an uns heran schlich.

Obwohl ich als "Verfolgter des Naziregimes" galt, hatten wir nie von irgendwelchen Kuren, Sondererholungen oder den VdN-eigenen Heimen Gebrauch gemacht, wir waren Jahr für Jahr zu unseren sowjetischen Verwandten gefahren; jetzt regte sich der Wunsch, das doch noch nachzuholen. Durch meine ausgedehnten Radtouren war mir das Heim "Ernst Thälmann" bei Kyritz, bei dem ich viele Male vorbeigefahren war, gut in Erinnerung geblieben. Eine Anfrage beim Rat der Stadt Potsdam ergab, daß dazu meine Kragenweite nicht ganz ausreicht, ich aber auf der Warteliste vermerkt würde. Als jemand zurückgetreten war, fuhren wir nach Karnzow.

Im Kreise von "alten Hasen", die Spanischen Bürgerkrieg und faschistische Intervention, Konzentrationslager und Vertreibung überlebt hatten, "begingen" wir enttäuscht und bedrückt den "Tag der Deutschen Einheit" im Klubraum des Ernst-Thälmann-Heims vor dem Fernseher. Es war sehr still im Raum, jeder hing seinen Gedanken nach – zurück in den endgültig überwunden geglaubten Kapitalismus, seinen "Medien", seiner Kriminalität, seiner Polizei, seiner Erwerbslosigkeit, seinen Drogen und Prostituierten auf der Babelsberger Ernst-Thälmann-Straße, wie richtig vermutet Neonazis – eine wüste Bilanz. Alles war uns genommen, unser Gepäck zur Weiterreise beschränkte sich auf das Nötigste – unsere Partei fand später heraus, daß wir nun "angekommen" seien, wie wahr!

 

Mehr von Walter Ruge in den »Mitteilungen«:

2008-03: Die Arena stimmt nicht

2007-11: 90 Jahre Roter Oktober