Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

90 Jahre Roter Oktober

Walter Ruge, Potsdam

 

In den zwanziger Jahren versammelten wir uns oft bei unserem Nachbarn Willi Elsner – wir hatten kein Radio – in Berlin-Britz abends 22:00 Uhr, um nach dem Glockenspiel des Spasski-Turms vom "Komintern"-Sender die "Internationale" "Wacht auf Verdammte ..." – bis 1944 sowjetische Staatshymne – zu hören; so fühlten wir uns diesem fernen Moskau ganz nah.

1927 – zum 10. Jahrestag des Roten Oktober sah ich im sowjetischen Botschaftsklub in Berlin den taufrischen sowjetischen Augenzeugen von den Feierlichkeiten und der Parade auf dem Roten Platz – überwältigend. Es blieb der Eindruck: Hier entsteht etwas Unbesiegbares! Die zentrale Figur war stets Lenin, der am 3. April 1917 aus der Schweiz nach Petrograd kam, gestützt allein auf seine Überzeugungskraft unter seinen Genossen und den kriegsmüden Soldaten. Später wurden Lenins Reden auf Schallplatten vervielfältigt und öffentlich abgespielt.

Zivilisation, trotz Hunger und Intervention

Über den gigantischen zivilisatorischen Sprung der Oktoberrevolution konnte ich mich allerdings erst sieben Jahre später vor Ort überzeugen; ein ganzer Kontinent war aufgestanden, die Menschen nahmen ihr Schicksal selbst in die Hand – eine nie dagewesene, fast epidemische Selbstlosigkeit der "neuen Menschen" entstand. So beschloß die Sowjetregierung, in Taschkent eine Universität zu gründen. Eine Gruppe Petrograder Professoren setzte sich in den Zug, um Taschkent – "Die brotreiche Stadt" – nach einem Monat zu erreichen. Sie fanden niemanden, der ein Hochschulstudium hätte antreten können. So lernten sie Usbekisch und bereiteten junge Menschen auf ihr Studium vor – die Universität wurde 1920 gegründet.

Die Creme der Bolschewiki, Bontsch-Brujewitsch, Litwinow und Tschitscherin (verhandelten seinerzeit mit Fritjof Nansen), Sinowjew, Kamenjew, Dzierzynski, Frunse, Swerdlow, Kryshanowski, Lunatscharski, Bubnow, Ioffe, Wolodarski, Makarenko, das Urgestein der Revolution, gab den Ton an. Trotzki gehörte nicht zum Urgestein, er stieg im letzten Moment "um", was seine herausragende Rolle nicht schmälern soll. Bedauerlich: Außer der großartigen Aleksandra Kollontai (Abb.) keine Frau in der ersten Reihe.

Auch die zweite Reihe mit Pjatakow, Pjatnizki, Radek, Losowski, Uritzki, Krestinski, Ordshonikidse, gut besetzt. Eine britische bürgerliche Zeitung nannte die Sowjetregierung die "intelligenteste Nachkriegsregierung in Europa". Das "Citoyen" aus der Großen Französischen Revolution hatte seinen Klang wiedererlangt, man sagte zueinander "grashdanin" oder "towarischtsch".

Es gab auch groteske Überraschungen für die völlig unerfahrenen Revolutionäre. Die Russische Staatsbank verweigerte den Roten Matrosen Bargeld zur Auszahlung der Gehälter; oder der zentrale Telegraf verweigerte Fernverbindungen; oder die Exekutive der Eisenbahngewerkschaften verweigerte Züge für die Roten Garden. Diese Schwierigkeiten wurden – unblutig – beendet; gefangen genommene Offiziersschüler entließ man mit der Warnung, nicht mehr gegen die Sowjetmacht zu schießen, was diese natürlich in den Wind schlugen.

Außer den ihrer Ämter durch Sowjetorgane enthobenen Generälen mit ihren verbliebenen Armeen fielen 14 Staaten mit ihren schnellen Eingreiftruppen in das verwüstete Land, ins Baltikum, in Mittelasien, in Wladiwostok, in Transkaukasien – wo Reste des wilhelminischen Heeres "dabei" waren – auf den Neusibirischen Inseln im Polarmeer, ein; sie standen vor Petrograd. Dieser Einsatz war völlig "normal" (siehe auch "Fünf Überlegungen ...", s. Literaturhinweise), den Besitzenden ging um sehr viel mehr als "freie Wahlen" oder "Versammlungsfreiheit", es ging um Pfründe und Besitz; und da versteht niemand Spaß. Die Bolschewiki, die den Menschen "Brot und Frieden" zugesagt hatten, mußten diese Menschen nun gegen die Interventen führen. Ein Volk in Bastschuhen, hungernd, blutend, jagte den Hochadel, die verhaßten Großgrundbesitzer, den Beamtenkorpus inklusive ihrer Generäle über den Perekop nach Sewastopol, wo französische und britische Kriegsschiffe auf sie warteten. Das abendländische Europa riskierte fortan nicht mehr, seine "Expeditionskorps" dem Bazillus "Revolution" auszusetzen, man hoffte auf den Hunger.

Der Hunger war abzusehen, aber nicht abzuwenden. Der norwegische Polarforscher und Nobelpreisträger wurde um Hilfe ersucht, wurde Vorsitzender des Rote-Kreuz-Hilfskomitees beim Völkerbund. Bei Rekordernten in Kanada, Argentinien und den USA verweigerte – trotz Nansens leidenschaftlichen Appells vor der Vollversammlung – der Völkerbund jegliche Hilfe. Beifall für Nansen gab es lediglich von den Tribünen, der Plenarsaal hüllte sich in eisiges Schweigen, nur der serbische Abgesandte brachte es auf den Punkt: "Eher den Tod von Millionen Hungernden in Kauf nehmen, als Hilfe für die Sowjetregierung einzuleiten". Man stellte üble Bedingungen für einen Kredit; die Bolschewiki, die den imperialistischen Krieg zu Fall gebracht hatten, sollten nun nachträglich diesen Krieg bezahlen, indem sie die Kriegsschulden der zaristischen Regierung anerkannten. Ein Jahr später, am 7. September 1922, stellte Nansen im Völkerbund fest, "daß die Ablehnung der Konferenz von Brüssel mindestens zwei Millionen Menschen das Leben gekostet hat."

Millionen gewinnen

"Ich schrieb unter der Einwirkung einer Lügenflut, die von den herrschenden Kreisen Europas gegen die Führer der russischen Revolution entfesselt wurde. In dem Schmelztiegel des Klassenkampfes wird die wertlose Schlacke der Einbildung und Schein­wahr­heit ausgeschieden und zurück bleibt nur das Edelmetall einer neuen Idee" – so M. Philips Price, liberaler Korrespondent des britischen"Manchester Guardian" im März 1920 in seinem Buch "Die Russische Revolution". Es bleibt den modernen Kommunismusforschern vergönnt, diese "Lügenflut" fortzusetzen, unter anderem die Hungerkatastrophe von 1921/22 der "verfehlten Agrarpolitik" der Bolschewiki zuzuschreiben.

Das geschundene Land schritt voran – ohne Hilfskonvois, ohne Kredite der reichen ausländischen Banken und ihrer gnadenlosen Regierungen. Der verblüfften Weltöffentlichkeit präsentierte der amerikanische Journalist Knickerbocker bereits 1930 das Buch: "Der Rote Handel lockt".

Städte wie Magnitogorsk wurden aus dem Boden gestampft, Dnjeproges und Turksib [Das Wasserkraftwerk Dnjeproges bei Saporoschje (1932 eingeweiht, Abb.) ist ein beeindruckendes Denkmal der Moderne. 1930 wurde die Turkestanisch-Sibirische Eisenbahn ("Turksib") in Betrieb genommen. Abbildungen auf Seite 1: Kremlmauer mit Spasski-Turm 2003 und Aleksandra Kollontai, alle Fotos public domain. – Red.] folgten, der Nördliche Seeweg wurde erschlossen, die Rettung der "Italia"-Mannschaft durch den Eisbrecher "Krassin" bleibt in Erinnerung. Mitten in der Beseitigung der Nachkriegstrümmer befaßte sich die Sowjetregierung – scheinbar anachronistisch – mit dem ГОЭЛРО; dem staatlichen Plan zur Elektrifizierung Rußlands. Der gelobte "neue Mensch" mußte nicht kreiert werden, er entsprang der revolutionären Entwicklung. So brachte der Oktober Kopftuch-"Probleme" mit sich. Junge Frauen trugen rote Kopftücher; Frauen ohne rotes Kopftuch wurden – welch Eingriff in die Persönlichkeitsrechte – mit "burshuika" (Bourgeoise) beschimpft. Die wirklichen Gewinner des Oktober waren die Frauen – ohne Quoten-Diskussion – gleicher Lohn für gleiche Arbeit, gleiche Chancen in der Bildung. Ganze Berufszweige wie Richter, Ärzte, Lehrer wurden von den emanzipierten Frauen usurpiert. Sie bestiegen Lehrstühle, Mähdrescher, Traktoren, Flugzeuge. Besonders bekannt wurden Raskowa, Ossipenko und Grisodubowa – eine bildschöne Frau, wie ich mich erinnere. Alle drei wurden schließlich Jagd­flieger. Letztere kommandierte als Oberst ein gefürchtetes Frauengeschwader. Die Hörigkeit gegenüber dem Ehemann wurde über Nacht aufgehoben; jede Frau konnte sich von ihrem Mann trennen (Lenin meinte dazu: "Wir empfehlen nicht allen Frauen, sich von ihren Männern zu trennen, aber sie können es, das sollten die Männer wissen."). Die Frau konnte ohne den Mann zum Standesamt gehen und erklären: Das war’s! Der Mann, der sie noch morgens verprügelt hatte, mußte abends zur Kenntnis nehmen "Wir sind geschiedene Leute!"

Das geflügelte Wort von der "freien Liebe" kam auf, worüber man zunächst in den muffigen Schlafzimmern des Abendlandes die Nase rümpfte; "Kenner" verkündeten, die Frau sei in Rußland "vergesellschaftet", der Ehemann müsse sie vor "Benutzung" beim örtlichen Sowjet "ausleihen". "Daheim" ging es dabei munter weiter mit dem "ältesten Gewerbe"; nach Überwindung "des Kommunismus" wurde es umbenannt in "sexuelle Dienstleistungen", die Beschäftigung als "ordentlicher Beruf" anerkannt – na bitte, dazu muß frau doch keine Revolution machen, sogar die Steuereinkünfte verbesserten sich.

Auf den Bürgerkrieg und die Intervention folgte die Likbes – likwidazija besgramotnost – die Liquidierung des Analphabetentums, ein Land lernte Lesen und Schreiben, die Rabfak (Arbeiterfakultäten) entstanden. "Der erste Lehrer" [Roman, 1966 – Red.] von Aitmatow legt Zeugnis ab; für einige Völkerschaften mußte das Alphabet erst einmal geschaffen werden. Lange vor der Erstürmung der Seelower Höhen erstürmte dieses Volk die Höhen der Wissenschaft, der Kultur, der schönen Künste, der Technik; es entstand so etwas wie ein Fetischismus der Technik. In den wenigen klapprigen Leyland-Doppelstockbussen, den völlig überfüllten Straßenbahnen, den Parks, lesende, junge und alte lernende Menschen, eine Umwälzung, die reiche Früchte trug, ein Jungbrunnen, ein eng geknüpfter Teppich von Talenten brach auf, Beruf als Berufung verstanden.

Auf den Fuß folgte die Liquidierung des besprisornitschestwo [Verwahrlosung, Obdachlosigkeit – Red.], des Erbes der Kriege, der eltern­losen Straßenkinder im ganzen Land. Wie Hundefänger liefen GPU-Leute nachts durch Bahnhöfe, in Keller, die Kinder einzufangen. Man verbrachte sie in Heime, wo sie zunächst in die Sauna kamen, gewaschen und entlaust, von Krätze und Eiterbeulen, Teil von Geschlechtskrankheiten – zwangsweise – befreit wurden. Man gab ihnen zu essen, gab ihnen saubere Unterwäsche, kleidete sie ein und wies ihnen ein sauberes Bett an. Gewiß, ein Teil liebte die "Freiheit" so sehr, daß sie ausrissen, um sehr bald wieder eingefangen zu werden. Diese entwurzelten Wesen wurden durchweg Erbauer des Sozialismus, Wissenschaftler, Militärs und Erzieher, Familienväter und später Opas und Omas.

Die Länder ohne Oktober dümpeln dahin (zum 100. Jahrestag des Sozialistenkongresses in Stuttgart mußten Kommentatoren feststellen, daß die Grundprobleme geblieben sind). Auch nach 90 Jahren grassiert Kinderarbeit, Kinderprostitution, Kinderverwahrlosung, Kindesmißhandlung, Kindersoldaten, Kinderarmut, Kinderhunger, Kindestod. Gewiß, bei passender Gelegenheit und vor laufenden Kameras wird "tiefe Betroffenheit" geäußert, "die Dinge werden angepackt", zur "Chefsache" erklärt. Rußland blieben diese Worthülsen – Gott Lob – erspart.

Auf den modernsten Stand der Zivilisation reformierte Sowjetrußland die Rechtschreibung, die so – auch 90 Jahre nach dem Oktober – noch gültig ist. Reformiert wurde der Kalender – kurzfristig gab es einen "Revolutionskalender", in der Art von 1789 – der orthodox-russische Kalender mußte am 14. Februar 1918 dem nach Papst Gregor XIII. benannten, in Europa gängigen Kalender weichen. Ebenfalls wurden die alten russischen Maße (Werst, Pud) durch das metrische Maßsystem ersetzt.

Nicht zu vergessen: Die Liquidierung der Arbeitslosigkeit (besrabotiza), was in der Schließung der birshi truda, der Arbeitsämter – wo kämen wir da hin – gipfelte. Ein Volk findet für jeden Arbeit, jede Hand willkommen, niemand ist überflüssig, jeder gefragt, sehr bald entsteht, in dieser Mangelwirtschaft, sogar Mangel an qualifizierten Arbeitskräften – die DDR, wo Fachkräfte für andere Länder ausgebildet wurden, gab es damals noch nicht. Begünstigt durch die katastrophale Arbeitslosigkeit in der "Freien Welt" konnte eine erhebliche Zahl von ausländischen Fachkräften angeworben und gegen Dollars vertraglich gebunden werden, um das Potential dieses Volkes erschließen zu helfen. Ganze Industriezweige entstanden, Spitzenwissenschaftler, -konstrukteure, Geologen und Testflieger brachten das Land voran: Tschkalow, Tupolew, Gromow, Vavilow, Kapiza (gleich zweimal), Landau (ebenfalls zweimal), und Tausende anderer bleiben unvergessen.

Ich weiß, wovon ich spreche

Um gewissen Stimmen vorzugreifen – dieser Autor wisse anscheinend nicht, wovon er spricht –, zu allem Ärger weiß "er", wovon er spricht. Ich kenne Arbeitsumerziehungslager / иcправительно-трудовые лагеря (auch als GULag bekannt) aus dem ff, und von innen – NICHT vom Hörensagen. An den Spitzhacken und Schubkarren hingen viele sehr wertvolle Menschen. Nach getaner Arbeit war in Omsk oder über dem Polarkreis am Jenissei genügend Zeit, um im engsten Kreis den Erzählungen von alten Bolschewiki, die den Roten Oktober und den Bürgerkrieg noch selbst mitgemacht hatten, zu lauschen; zu lernen, daß es nach dem Tode des Stalin-Koryphäen auf dem rechten Weg weitergehen wird.

Der gewogene Leser möge nicht übersehen: Das Jeshow-Jahr 1937 war immerhin 20 Jahre nach dem Oktober, zudem besteht kein determinierter Zusammenhang. Hier sollte das Oktober-Jubiläum, nicht der Thermidor des Oktober 20 Jahre später gewürdigt werden. Umgang mit der Geschichte und Aufklärung schließen ein, zwischen 1917 und 1937 unterscheiden zu lernen. Gewisse Geschichtsmorphologen sind nicht geneigt, zwischen den Jahren 1937, 1960 oder 1980 zu unterscheiden. Hier übersieht Metaphysik bisweilen rasante Unterschiede. Den heutigen Forschern geht es nicht einmal um das "WARUM ist die SU untergegangen?", schon gar nicht darum "WIE anders?", sondern schlicht um das "Am besten GAR NICHT".

Diese Kette "aufklärender" Tatsachen findet bei der postbolschewistischen "Bewertung" keine "Verwertung" und wird – mitsamt den "Überlegungen zum Umgang mit der Geschichte" – einfach vom Tisch gewischt. Die finanziell gut ausgestattete "Kommunismusforschung" und ihre Helfer sind bei ihren archäologischen Ausgrabungen bis zu den – angeblich schon bei Marx auszuweisenden – inquisitorischen "Wurzeln" vorgedrungen. Die Wucht dieser "Erkenntnisse" hat manches linke Geblüt in Deckung, in die Defensive gehen lassen – dazu besteht nicht der geringste Anlaß. Michael Brie geht so weit, den Zweiten Weltkrieg für uns neu – als Krieg zweierDiktaturen – zu bewerten: "Die USA haben dazu beigetragen, daß sich die sowjetische Diktatur nach 1945 nicht weiter in den Westen Europas ausdehnte" [M. Brie, Thank you and good bye, Neues Deutschland, 9. 6. 2007 – Red.]. Der entscheidende Einsatz der Sowjetunion in der Antihitler-Koalition wird negiert – das bringt uns in bedenkliche Nähe zu dem kernigen Slogan vom "bolschewistischen Untermenschen", selbst das spätere KPD-Verbot erhält da noch einen "Sinn".

Hier sollen noch kurz die Berichte der "Konterrevolutionäre" im Lager fortgeführt werden: In den nachrevolutionären Weißen Nächten wurde der Newski zu einer einzigartigen Kunstmeile; hier blühten Kubismus, Futurismus, Surrealismus, Formalismus, Dadaismus; da wurde jeder rote Fleck auf der Leinwand "Zur aufgehenden Sonne der Revolution" stilisiert. Sowjetrußland erlebte eine ungewöhnliche Blüte der Künste. Revolutionsjahrgänge, Namen wie Oistrach (1908), Gilels (1916), Meyerhold, Stanislawski, Nemirowitsch-Dantschenko, Babel, Wyschnjewski, Tarchanow, Katschalow, Kontschalowski, Majakowski, Demjan-Bednyi, Utjossow, Eisenstein, Pudowkin und berühmte Schachspieler brachten den Talenten dieses Volkes internationalen Ruf.

Fest ins Auge gefaßt wurde der "Feldzug" gegen Krankheiten wie Malaria, Tuberkulose, Lues, Typhus, nicht zuletzt gegen eine bösartige, ansteckende Kopfflechte, "lischai" genannt. Damals kannte man kein anderes Mittel als die Bestrahlung mit Röntgenstrahlen ("epitelisazija"); ganze Expeditionen von Fachpersonal nebst Apparaturen und Dosimetern schickte das Staatliche Röntgen-Institut in die mittelasiatischen Republiken, um die Völker von dieser Seuche zu befreien.

Es gab auch Versuche, den Alkoholismus zu überwinden – die der ahnungslose Gorbatschow später zu wiederholen trachtete – die Prohibition. Die Sowjetische Führung sah die Schwierigkeiten, schwenkte sehr bald auf das Staatliche Monopol der Schnapsbrennerei um und schaffte damit eine verläßliche Grundlage für die Landesverteidigung – was sich ja im Endeffekt ausgezahlt hat.

Der erwähnte liberale Korrespondent des "Manchester Guardian" M. Philip Price bemerkt für nachkommende Generationen: "… für diejenigen unter den Kopfarbeitern und Intellektuellen Europas und namentlich Deutschlands, die mit ernstem Forschungsdrang an die Ereignisse in Rußland seit 1917 herantreten, habe ich diese Seiten geschrieben, um den Beweis zu erbringen, daß die beiden russischen Revolutionen des Jahres 1917 historische Notwendigkeiten waren, vor denen sie ihre Augen nicht verschließen können. Und wenn sie dank der Atmosphäre der Voreingenommenheit gegen Rußland, die die kapitalistische Presse durch ihre Propaganda zu schaffen verstanden hat, geneigt sind, nur die dunklen Seiten der kommunistischen Herrschaft in Rußland zu sehen, möchte ich sie daran mahnen, daß ein mächtiger Strom allein wegen des Schlammes, den er mit sich zum Meer führt, nicht aufhört, ein mächtiger Strom zu sein".

Klingt recht aktuell!

 

Literaturhinweise:

Li Nansen, Kniga ob otze, Gidrometeoisdat,Leningrad, 1986

M. Philips Price; Die Russische Revolution, Karl Hoym Nachf. Hamburg, 1921

St. Doernberg und Genossen, Fünf Überlegungen zum Umgang mit Geschichte, "Mitteilungen ...", Heft 3/2007, S. 3ff

W.I. Lenin, Zum vierten Jahrestag der Oktoberrevolution, Prawda, 18. 10. 1921