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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Mischa und die Gretchenfrage

Werner Wüste, Wandlitz

 

Ein Zusammengehen mit der AfD wird CDU und FDP heute schwerer fallen als den bürgerlichen Parteien in der Weimarer Republik, denn noch existiert in der Gesellschaft ein zwar bröckelnder, ständig attackierter, aber immer noch ernsthaft zu beachtender antinazistischer Konsens.

(Manfred Weißbecker, »nd« 14. 02. 2020)

Wo bleibt der unverschnörkelte Aufruf zum Sozialismus?

(Wolf-Dieter Gudopp-von Behm, »jW« 18. 01. 2020)

Kommunisten verbreiten Angst höchstens beim Gegner.

(Derselbe »jW« 20. 01. 2020)

Brief an eine Auskunftei, 9. Juli 1995

Sehr geehrte Damen und Herren,

als Kunde Nr. 582136 des Lexikon-Auskunftsdienstes bitte ich um Beantwortung folgender Fragen:

1. Welches Datum hat der 1. Januar 2000 nach dem

- islamischen

- jüdischen

- traditionellen chinesischen

- russisch-orthodoxen kirchlichen Kalender?

2. Die gleichen Fragen für den 1. Januar 2001.

Mit freundlichen Grüßen

Michael Benjamin

(»Das Vermächtnis« [1], edition ost, 2006, S. 221)

 

Er suchte immer nach Antworten. Die er fand, machte er öffentlich. Er wollte sie nicht nur für sich. Hier ging er der Frage nach, wann denn nun tatsächlich und sozusagen »rechtens« die Jahrtausendwende sein werde. Das Problem: In der traditionellen christlichen Zeitrechnung gibt es kein Jahr Null.

Einige Zusammenhänge:

Mischas Vater war Jude, Arzt und Kommunist, Mischa also, nach der faschistischen Rassen»lehre« Halbjude. Denen die Nazis u.a. den Besuch der Oberschule verboten. Seine Mutter Hilde unterrichtete ihn. Als die Rote Armee, am Ende gemeinsam mit den Verbündeten, Deutschland besiegt hatte und ein neues Leben begann, konnte er bald sein Abitur ablegen. Da war er 15. Ich bewunderte ihn sehr.

Unsere Väter waren Freunde in den 20er, wir dann seit Mitte der 30er Jahre. Die entstehende DDR sahen wir als Ergebnis ihres und ihrer Genossen opferreichen Kampfes. Und Mischas Abi 1948 war uns allen Genugtuung und ein moralischer Sieg.

Bevor er sein Jura-Studium begann, gönnte er sich Zeit für sein zweites Interessengebiet. Er studierte, dem Vorbild seines Vaters folgend, bis 1950 Mathematik. Das konnte er sich schließlich leisten.

Mischas physisches Leben führte in den Anfang des neuen Jahrtausends. Sein geistiges hält an. Quod est demonstrandum.

Eine der ganz seltenen Komplikationen sei eingetreten, bei tausend solcher Operationen komme sie einmal vor, sagten die Ärzte.

Er starb am 7. August 2000.

 

Brief an Irene Runge, Moskau 4. September 1990

»Was ich hier in Moskau mache, ist eine gute Frage. Zunächst mal bin ich Abteilungsleiter am Internationalen Institut für Leitungsprobleme. An dem Institut war ich schon früher einmal gewesen ...«

(Das Vermächtnis, S. 51)

Und dann – wohin kann man gehen?

Israel scheint mir das gelobte Land für mich nicht zu sein. Nach ihrer Ansicht bin ich mit meiner arischen Mutter ja auch kein richtiger Jude… Vor allem aber der Nationalismus. Ich wüsste nicht, was jüdischer Nationalismus mir mehr zu geben vermag als der deutsche aller Provenienz, [der] russische oder sonst welcher. ...

Und das ist mein wichtigster Grund, was Israel betrifft. Ich habe meine 6 Jahre Krieg bis zu Ende ausgekostet. Das genügt mir. Mich freiwillig auf Kriegsschauplätzen anzusiedeln, ist von mir zu viel verlangt.

(Ebenda, S. 53)

Gegen Jahresende ist er wieder zu Hause. Zu Hause? Na ja.

Die Zeit in Moskau hat er genutzt. Ein gewichtiges Papier hat er im Gepäck. »Zur Programmatik und zum Selbstverständnis der PDS«.

Er ist nicht ausgewandert, nach Israel nicht und ebensowenig in die Sowjetunion.

Rund 10 Jahre hindurch ist nun seine Stimme zu hören.

Unterstützend und leitend begleitet er das politische Leben seiner Partei, das der Gesellschaft. Aufmerksam, konzentriert, kritisch wie zustimmend.

Er gewann nicht nur Freunde. Viele, auch Linke, rieben sich an ihm. Er scheute keine Verantwortung, keine Diskussion. Auch Prominenz seiner Meinungsgegner konnte ihn nicht beirren. Aber Achtung brachte er ihnen entgegen. Immer galt für ihn das Argument, die Analyse, die Sachlichkeit. Persönliche Animositäten, sofern er sie hatte, ließ er, wenn überhaupt, nur im vertrauten Kreis ahnen. Er versuchte, mit dem Kopf des anderen zu denken. Er war gerecht. Er nahm Einfluss auf den Kurs, auf die Strategie, auf die Politik seiner Partei. Im Parteiprogramm von Münster ist seine Handschrift erkennbar. In der Politik der Kommunistischen Plattform sowieso.

10 Jahre! Und was für Jahre!

Ist er vergessen?

Sehr schnell gelangt Mischa in seinen zusammengefassten Überlegungen »Zur Programmatik und zum Selbstverständnis der PDS«, zu der aus seiner Sicht zentralen Frage: Braucht die PDS eine Sozialismuskonzeption? und meint, es »sollte Klarheit darüber bestehen, daß die Bejahung einer sozialistischen Perspektive zu einer Existenzfrage der Partei wird.«

(Das Vermächtnis, S. 24)

Wenn die DDR als erster, ernster Versuch gelten kann, in einem Teil Deutschlands eine »frühsozialistische« Gesellschaft zu entwickeln, kann die »Gretchenfrage«, in Anlehnung an Goethes »Faust«, nur lauten: Wie hältst du‘s mit der DDR?

Meint: Wie hältst du‘s mit dem Sozialismus?

Und wer beobachtet, dass und wie in dieser Gesellschaft seit Jahrzehnten und immer noch und immer weiter verstärkt und zugespitzt dieser Sozialismusversuch diffamiert, verleumdet, verfälscht, diskreditiert, lügnerisch interpretiert, »delegitimiert« wird, muss zu dem Schluss gelangen:

Es ist die Gretchenfrage immer noch. Für Freund und Feind. Mit oder ohne Anführungsstriche.

Sie wird dringlich gestellt und drängend. Das ist wohl so bei Lebensfragen!

Seit drei Jahrzehnten bemühen sich starke Kräfte in diesem Land, die DDR zu »einer Fußnote der Geschichte« (Stefan Heym) zu degradieren. Sie verfügen über alle Möglichkeiten, über jeden gewünschten Einfluss, über Kapazitäten in der Forschung, Politikwissenschaft, in der gedruckten und Bildpublizistik, sie rekrutieren nach Belieben Kluge und Schlaue, sie bewegen riesige finanzielle Mittel – es will und will ihnen nicht gelingen, unsere kleine, liebe, bewegliche und zugleich starre, sehr oft piefige, kleinkarierte, unsere ach so menschliche DDR aus dem Bewusstsein der Gesellschaft zu verdrängen.

Es ist wie mit jener Inschrift in der Gefängniszelle. Zuerst mit Überstreichen soll sie getilgt werden, dann wird sie aus dem Stein herausgemeißelt. Mit jedem Versuch wird sie stabiler, beständiger: Hoch Lenin!

 

Der Philosoph Reinhard Mocek, Jahrgang 1936, wurde 1989 in den Parteivorstand der SED/PDS gewählt, 1990 in die Volkskammer. Seit 2004 ist er Vorsitzender des Vorstands der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er ist Mitherausgeber der »Ansichten zur Geschichte der DDR« (6 Bände).

(nach »Wer war wer in der DDR?«)

An ihnen mitzuarbeiten hatte er offenbar auch Mischa Benjamin eingeladen.

20. Februar 1996

Lieber Genosse Mocek, Du gestattest doch, dass ich Dich so anrede? Denn ich muss gestehen, dass mir die Verlegenheitsanrede (oder richtiger gesagt, die Nicht-Anrede) mit dem bloßen Namen, wenn man nicht weiß, ob der Angeredete einem noch Genosse oder schon Herr ist, recht zuwider ist, auch wenn ich sie manchmal selbst verwenden muss. ...

Ist Euer Hauptthema die »Kritik der DDR« (wenn auch grundsätzlich anders als bei Herrn Eppelmann, das ignoriere ich nicht), so ist das meine die »Kritik der DDR-Kritik«. Will sagen: Steht für Euch – so auch in den meisten der bisher erschienenen Arbeiten – die Analyse der Defizite der DDR im Mittelpunkt, so steht für mich bei aller Notwendigkeit (oder richtiger: auf der Grundlage) radikaler, d.h. an die Wurzeln gehender Kritik im Zentrum die Frage, was die DDR denn nun Bleibendes im Sinne der Neuerarbeitung einer Sozialismuskonzeption hervorgebracht hat.«

(Das Vermächtnis S. 102/03)

27. März 1996

Dein Problem, so verstehe ich Dich, [sind] die Ursachen des Scheiterns, das meine die in die Zukunft weisenden Züge. Etwas vereinfacht und zugespitzt formuliert: Du untersuchst das Vergängliche, ich das Bleibende an ihr. Beides halte ich für notwendig und legitim und müsste sich bei richtigem Vorgehen ergänzen.«

(Ebenda S. 106)

Das ist bemerkenswert: Den ersten der beiden Briefe schließt er noch »Mit freundlichen Grüßen«, den zweiten »Herzlich Dein Michael Benjamin«.

Wikipedia definiert, die Gretchenfrage sei eine an den Kern eines Problems gehende Frage. Sie wolle Gesinnung und Absichten des Gefragten aufdecken. Sie sei eine Gewissensfrage. Der Fragende treffe mit ihr meist den Kern eines Sachverhalts, verlange durch sie eine eindeutige Stellungnahme. Eine Entscheidung.

Die Gretchenfrage heute, permanent gestellt und permanent und vielfältig beantwortet, ist aus meiner Sicht die Frage nach der sozialistischen Zukunft der Welt. Die Existenzfrage nicht nur der Linken, auch die der Menschheit: SOZIALISMUS ODER BARBAREI.

 

Im Dezember 1999

gab Professor Dr. Michael Benjamin dem Spiegel ein kurzes Interview. Er war gerade zum Mitglied des Parteivorstands gewählt worden:

Spiegel: Die Pragmatiker Ihrer Partei wollen ein neues Programm. Was haben Sie dagegen?

Benjamin: Das sind Ihre Worte, nicht meine. Mir geht es um die Sache – darum, dass die PDS ihre grundlegende sozialistische Identität nicht verliert. Sollten die jetzt von der Programmkommission veröffentlichten Thesen Grundlage eines neuen Programms werden, so würde die PDS wesentliche sozialistische Grundpositionen aufgeben.

Spiegel: Ihr Bundesgeschäftsführer fordert, die Hoffnung auf die sozialistische Revolution zu beerdigen.

Benjamin: Niemand in der PDS propagiert eine gewaltsame Revolution. Wohl aber muss die PDS am sozialistischen Ziel festhalten, und zwar nicht nur in einer nebulösen Form. Es geht nicht zuletzt um die Vergesellschaftung des großen kapitalistischen Eigentums, der großen Banken und Konzerne.

Spiegel:Fürchten Sie eine Distanzierung von der DDR?

Benjamin: Auch wir gehen kritisch mit den Defiziten der DDR um. Das impliziert aber zugleich das Bekenntnis zu den positiven sozialen Errungenschaften der DDR. Wir wenden uns entschieden dagegen, die DDR zu denunzieren und zu »delegitimieren«.

Spiegel:Droht der PDS eine Spaltung?

Benjamin: Das sehe ich nicht. Aber die Gefahr einer unproduktiven Verschärfung von Gegensätzen entsteht. Übrigens zeichnet sich ab, dass unser Standpunkt an der Basis erhebliche Resonanz findet.

(DER SPIEGEL 51/1999)

Unterschiede in der Meinung sind etwas anderes als persönliche Animositäten. Diese auszubreiten auf dem »Jahrmarkt der Eitelkeiten«, ist unwürdig. Sie dem Gegner zum Fraß anzudienen, ist dumm.

Erstere sind normal und können produktiv werden.

Vielfalt ist nicht Einfalt.

Im August 1992 veröffentlicht Mischa Benjamin »Reflexionen zum Buch von André Brie ›Befreiung der Visionen‹«. Darin heißt es:

»Wir stimmen überein, dass Demokratie ein unabdingbarer Bestandteil unserer Sozialismusvorstellung ist, und dass das gravierende Demokratiedefizit in der DDR einer der Gründe ihres Scheiterns war.

Leider aber hat sich auch stets aufs Neue bekräftigt, dass die Bourgeoisie ohne Bedenken die demokratischen Spielregeln zum Teufel schickt, sobald sie ihre Herrschaft gefährdet sieht. Wer grundlegende gesellschaftliche Veränderungen beabsichtigt, muss auch in der Lage sein, möglichen Versuchen der Herrschenden entgegenzuwirken, durch Rechts- und Verfassungsbruch, geistige, wirtschaftliche und physische Gewalt diese Veränderungen zu durchkreuzen.

Hierzu äußert sich André Brie leider nicht.

André Brie beklagt die Zerrissenheit der Linken, ihre ideologischen Scheuklappen und ihre Sektenmentalität sowie die gegenseitigen Ausschließlichkeitsansprüche. Könne sie sich hiervon befreien, ließe sich durchaus ein neuer Beginn denken … Ich sehe eine Vielzahl gemeinsamer Ausgangspositionen. Sollten wir nicht in der Lage sein, gemeinsam zu Ende zu denken?«

Ja, die Lage spitzt sich zu. Sie wird zugespitzt. Weltweit ist bemühte Stärkung der faschistischen, neo-faschistischen Tendenzen auszumachen. Es scheint, sie sind die Stärkeren, und manches spricht dafür.

Es wird schwerer, an die eigene Kraft zu glauben. Resignation liegt in der Luft.

Zuspitzung bedeutet aber auch: Die Konturen werden klarer. Deutlicher und eindeutiger wird die Strategie unserer Gegner.

Unsere auch?

»Der Kapitalismus produziert nicht nur Krisen. Er ist die Krise unserer Zeit. Krisen sind interessant; in ihnen kommt manches zum Ausdruck.«

(Wolf-Dieter Gudopp-von Behm »jW« 16.01.2020)

»Die Welt schreit nach Sozialismus.«

(Ebenda)

Es gibt keine lebenswerte Perspektive, keine Auflösung der gesellschaftlichen Widersprüche, keinen Sieg ohne die Kräfte und den Kampf der Völker! Sie werden die Alternativfrage praktisch beantworten: Sozialismus oder Barbarei?

Erkennen, Erkenntnis sind Prozess, eingeschlossen das immer währende Prüfen gewonnener Erkenntnis an der Praxis.

»Die Probe auf den Pudding ist ihn zu essen.«

(Friedrich Engels)

Gudopp-von Behm verweist auf das »Kommunistische Manifest« als sicheren Ausgangspunkt. Marx und Engels zogen sich nicht ins Gelehrtenstübchen zurück. Bekanntlich wurde das Manifest zur Geburtsurkunde der Kommunistischen Internationale.

Und Mischa war Marxist.

Diesen »argen Prozess der Erkenntnis« (Feuchtwanger) unermüdlich zu begleiten und zu unterstützen, ist unsere Aufgabe. Die Gretchenfrage kann dazu ein praktikables Instrument sein. Mit Mischa an unserer Seite.

So steht denn schließlich und zu guter Letzt noch sein Merksatz:

LEISETRETEREI WIRD UNS KEINESWEGS HONORIERT!

 

Anmerkung:

[1] Michael Benjamin, Das Vermächtnis, Zeugnisse eines Sozialisten: 2006 herausgegeben von Werner Wüste. – Red.

 

Mehr von Werner Wüste in den »Mitteilungen«: 

2020-07: »Schön wird das Leben, schön!«

2019-07: Sprache gestern, Sprache heute – oder: Ihre Sprache – unsere Sprache nicht

2019-04: »Herr Giordano, kann ein Film ein Verbrechen sein?« »Ja, zweifellos.«