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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

»Herr Giordano, kann ein Film ein Verbrechen sein?« »Ja, zweifellos.«

Werner Wüste, Wandlitz

 

Es gab ihn wirklich: Joseph Ben Issachar Süßkind Oppenheimer. Hoffaktor [1] des Herzogs Karl Alexander von Württemberg, später dessen Geheimer Finanzrat. Das Geburtsdatum ist ungewiss, Februar oder März 1698. Sein Tod dagegen war derart spektakulär, dass die Geschichte ihn bis heute weiß und bewahrt. Das allerdings war auch das Mindeste, das sie für ihn leisten konnte. 

Und es besteht kein Zweifel, Urteil und Hinrichtung waren Mord. Justizmord. Nicht der erste und wahrlich nicht der letzte in der deutschen Rechtsgeschichte.

Am 4. Februar 1738 riegelten mehr als tausend Soldaten den Marktplatz ab, Bürgerwa­chen liefen Patrouille, 120 Grenadiere eskortierten den Zug zum Galgenberg außerhalb Stuttgarts. Oppenheimer war bis zum Skelett abgemagert. Er hatte die Essenaufnahme verweigert. Das Essen war nicht koscher. Auch seine Henkersmahlzeit rührte er  nicht an. Die Knechte schoben ihn die Leiter zum zwölf Meter hohen Galgen hinauf, dem höchsten im ganzen deutschen Reich. Aber er wurde nicht gehenkt, er wurde mit einem Strick erdrosselt.

Veit Harlan [2] hat, rund 200 Jahre später in seinem Film »Jud Süß« (1941), dieses historische Faktum ignoriert. Er ließ anders töten. Eine Klappe, in den Boden des Käfigs eingelassen, wurde geöffnet. Der Körper fiel. Ähnlich mordeten SS-Mannschaften und Wehrmachtssol­daten im sogenannten Russlandfeldzug; indem sie ihren Opfern den Halt unter den Füßen wegstießen.

Oppenheimers Leichnam schaukelte sechs Jahre lang, öffentlich zur Schau gestellt, in einem Käfig, einem Vogelbauer ähnlich. Erst 1744 ließ Herzog Karl Eugen, der Sohn des Herzog Karl Alexander von Württemberg, bei dessen Tod noch unmündig, ihn abhängen und verscharren.

Joseph Süß Oppenheimer war ein ideenreicher Finanzpolitiker. Er bewirkte zahlreiche Neuerungen, gründete Manufakturen, betrieb die erste Bank Württembergs, besteuerte Beamtenbezüge, verkaufte Handelsrechte gegen hohe Gebühren, handelte selbst mit edlen Steinen und Metallen, pachtete die staatliche Münze, veranstaltete Lotterien. Wurde reich an Einfluss und Vermögen, immer im Dienste des Herzogs. Und diesem unentbehrlich.

Als Karl Alexander im März 1737 unerwartet starb, wurde sein Geheimer Rat selbigen Tags unter Hausarrest gestellt. Die Landstände Württembergs, gegen deren verbriefte Rechte der Herzog mit Joseph Süß´ Ratschlägen als absoluter Herrscher regiert hatte, nutzten die  Gunst der Stunde.

Wikipedia: Der Aufstieg eines im Ghetto aufgewachsenen Juden an die Spitze der höfischen Gesellschaft war ein bis ins 18. Jahrhundert noch nie dagewesenes Ereignis. Juden waren enge Schranken gesetzt. Einzig durch Aufgabe ihres Glaubens war es ihnen möglich, aus die­sen Grenzen auszubrechen. Oppenheimer gelang das bis dahin Unmögliche, was seine Ge­schichte schon früh interessant und zum Stoff vieler Veröffentlichungen machte. [3]

Die, soweit ich das beurteilen kann, profundeste »Verarbeitung« des Stoffes leistete Lion Feuchtwanger. Sein Roman Jud Süß, vollendet 1922, hatte es zwar anfangs schwer. Er wur­de »lustloshergestellt und vertrieben«, hatte dann aber schnell »bei Rezensenten und Le­sern …starken und einheitlichen Erfolg«. So Lion Feuchtwanger rückblickend im November 1958. Und weiter: »Es war wohl so: Das deutsche Volk hatte infolge der Niederlage im ersten Weltkrieg einen starken Inferioritätskomplex (Minderwertigkeitskomplex, W.W.), der sich Luft machte in antisemitischen Regungen, die dann später zu jenen schauerlichen Aus­brüchen führen sollten. Das war vorgeahnt und typisch dargestellt in dem Roman. Er rührte an den Nerv des Volkes.« »Als Hitler zur Macht kam, wurde das Buch natürlich in Deutsch­land verboten und verbrannt.« Goebbels »ließ auf Basis des Romans einen neuen Film [4] her­stellen. Der Film war technisch ungewöhnlich gut. Nur eben unterschlug er alles, was in die­sem Roman positiv war, und vergröberte grotesk das Negative. Er war politisch überaus wirk­sam, geistig vollkommen leer.«  

Die zweite Schuld

1949 wurde Veit Harlan in Hamburg der Prozess gemacht. Auf »Beihilfe bei der Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit« lautete die Anklage. Harlan habe mit seinem Film planmäßig an der von Hitler befohlenen »Endlösung der Judenfrage« teilgenommen. Beantragt hatte die Klage die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes auf der Grund­lage des Kontrollratsgesetzes Nr. 10. 

Der Prozess endete mit Freispruch.

Ebenso die Revision im Jahr danach. Vorsitzender Richter in beiden Fällen: der Nazijurist Walter Tyrolf, bis 1945  Staatsanwalt am Sondergericht Hamburg. Da hatte er, auch in Ba­gatellfällen, mehrfach für die Todesstrafe plädiert. Und die wurde vollstreckt.

Siebzig Jahre sind inzwischen vergangen. Ein Menschenleben. Was aber sind schon siebzig Jahre? Was ist ein Menschenleben? Vielleicht auch nur »ein Fliegenschiss«?

Am 4. Oktober 2001 strahlte der NDR eine filmische Rekonstruktion des Prozesses aus: »Jud Süß – Ein Film als Verbrechen?«

Eingangs Ralph Giordano: »Der Prozess war ein Spiegelbild der Nachkriegsgesellschaft. Die­ses Deutschland von damals war in den Klauen des Revisionismus, in den Klauen dessen, was ich die ›zweite Schuld‹ genannt habe: Die Verdrängung und Verleumdung der ersten Schuld und der Hitler-Taten nach 1945, nicht nur rhetorisch und moralisch, sondern tief insti­tutionalisiert durch den ›großen Frieden‹ mit den Tätern.« [5]

Sehr vieles kam zur Sprache in jenem Prozess. Es wurde bezeugt und entgegnet, argu­mentiert, verworfen, gelogen, provoziert, geheuchelt, behauptet. Und zitiert. Immer und immer wieder aus Goebbels´ Tagebuch. Zum Beispiel: »Mit Harlan und Müller den Jud-Süßfilm besprochen. Harlan, der die Regie führen soll, hat da eine Menge neuer Ideen.« (5. Dezember 1939)

»Ein ganz großer, genialer Wurf. Ein antisemitischer Film, wie wir ihn uns nur wünschen kön­nen. Ich freue mich darüber.« (18. September 1940)

Schließlich: »Ein ganz großes Publikum mit fast dem gesamten Reichskabinett. Der Film hat einen stürmischen Erfolg. Man hört nur Worte der Begeisterung. Der Saal rast. So hatte ich es mir gewünscht.« (24. September 1941)     

20,3 Millionen sahen »Jud Süß« bis 1943. Es gab Sonderveranstaltungen. Himmler befahl sie für die Einheiten und Wachmannschaften der KZ. Mit der unmittelbaren Folge schwer­ster Misshandlungen unter dem Eindruck des Films. Durch Zeugenaussagen belegt: Er­schießungen (im Block 19 in Sachsenhausen), Selbstmorde in Neuengamme.   

Nazis schützten Nazis

Auch die Pogromstimmung im Schwurgerichtssaal verschweigt der Film nicht. »Judensau!« wurde eine Zeugin beschimpft. Beifallsäußerungen. Ein Beteiligter darf, ohne Widerspruch erwarten zu müssen, erklären: »Der Film weist den Weg zur befreienden Tat!« Und Ham­burgs Bürgermeister vervollständigt die Palette, indem er den Prozess »eine gezielte Provokation der Kommunisten« nennt.

Die Autoren versichern, in allen zitierten Zeugenaussagen absolut authentisch zu sein.

Im Film »Jud Süß« eine Schabbat-Feier, in ihr »Riten einer besonders ekstatischen chassidi­schen Sekte«, wie der Kommentar mitteilt.Die »Darsteller« Juden. Harlan hatte sie sich aus einem Lager geholt. Die Aufnahmen fanden in Prag, im Studio Barrandov statt.

Der Kommentar lapidar: Kaum einer von ihnen dürfte das 3. Reich überlebt haben.

Harlan nahm in Anspruch, sich im »Befehlsnotstand« befunden zu haben. Goebbels habe ihn unter Druck gesetzt. »Ich wäre erledigt gewesen, wenn ich mich geweigert hätte.«

NS-Richter Tyrolf folgte ihm nur zu gern.

Ein Erlebnis fällt mir immer wieder ein. Es war 1948, wie ich nun weiß. Ich war im Kino. Im »Augenzeugen« (»Sie sehen selbst – Sie hören selbst – Urteilen Sie selbst!«) wurde über die westdeutsche Erstaufführung von Maetzigs »Ehe im Schatten« in Hamburg berichtet. Das Ereignis war wohl einer filmischen Berichterstattung für wert befunden wor­den. Jedenfalls konnte ich in der Wochenschau in den vorderen Parkettreihen eine Gruppe erregter Diskutanten erleben; und Filmbesucher, die aufstanden, sich einmischten. Schließ­lich verließen zwei Menschen den Saal. Wikipedia zu »Ehe im Schatten«: »Kurt Maetzig dreh­te den Film auch im Gedenken an seine Mutter, die am 9. Februar 1944 als Jüdin in den Frei­tod ging.« »Bei der Premiere des Films in Hamburg kam es zum Eklat: Unter die Premieren­gäste hatten sich der Regisseur Veit Harlan und dessen Ehefrau Kristina Söderbaum ge­mischt. Viele Kinobesucher, darunter einige Naziopfer, empfanden dies als Provokation. Beide wurden schließlich von dem Produzenten Walter Koppel, der fünf Jahre im KZ ver­bracht hatte, und vom Kinobetreiber Heinz Heisig aufgefordert, den Saal zu verlassen.« [6]

Noch heute, nach den besagten siebzig Jahren plus eins, erinnere ich mich, wie sehr mich Haltung und Handeln der Genannten beeindruckt haben. Ich verstehe auch, dass noch offen war, wie sich in den folgenden Jahren die Waage neigen, wie sich die weitere Ent­wicklung vollziehen würde. Die Jud-Süß-Prozesse 1949 und 1950 machten das Kräftever­hältnis deutlich erkennbar. Und die Prozesse dienten dessen weiterer Verschiebung nach rechts. Nazis schützten Nazis. Es entstand und festigte sich eine formal-juristische Kon­zeption für den (»rechtlichen!«) Umgang mit der Nazivergangenheit. Man übte. Nein, man war schon geübt. Praktizierte »Rechts«sprechung ersetzte gesellschaftliche und politische Konsequenz.

In der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, zwischen Prozess und Revisionsver­handlung, wurde manifest, was zuvor schon sichtbar geworden war: Geschichtsopportunis­mus wurde zum Bestandteil ihres politischen Startkapitals.    

Und weil wir heute in dieser Bundesrepublik leben (müssen!), können uns ihre Anfänge nicht egal sein. Wenn diese auch siebzig Jahre und mehr zurückliegen.

Ein Menschenalter.

Dass absolutistische Herrscher es mit den Göttern hatten, ist geschichtlich belegt: Militär­geistliche beider Konfessionen, Wehrmachtsgottesdienste, Feldprediger, »Helm ab zum Gebet!«. [7]

Wilhelm II., deutscher Kaiser »von Gottes Gnaden«, sprach von seinem »großen Verbünde­ten«, Hitler betonte immer wieder, mit verklärtem Blick gen Himmel, seine Übereinstim­mung mit der »Vorsehung«.

Die Nazis aber, als es ans Verlieren ging, stellten den »lieben Gott« sozusagen unter Be­fehlsgewalt. Sie führten seit 1944 eine »Gottbegnadeten-Liste«, 36 Seitenumfassend, darauf die Namen von 1041 Künstlern, notiert von Hitler und Goebbels. Auf solcher Liste seinen Namen zu wissen, hatte, neben der »Ehre«, durchaus auch praktischen Nutzen: So wurde die Wahrscheinlichkeit eines Heldentods minimiert. Man war vom Wehr­machtseinsatz befreit. Aber: »Ich bitte Sie, dieses Schreiben im Sinne der Maßnahmen des totalen Kriegseinsatzes als Ihre Dienstverpflichtung für die von mir geleitete Künstler-Kriegs­einsatzstelle aufzufassen und das Anschreiben »demzuständigen Arbeitsamt vorzulegen« (Goebbels). Gottesgnadentum funktionierte eben auch nur mit Hilfe der Bürokratie.

Von den Schauspielern im Ensemble von »Jud Süß« waren durch solcherart gottähnliche Entscheidung immerhin vier dem Heldentod »von der Schippe gesprungen«: Ferdinand Marian, Werner Krauß, Heinrich George, Eugen Klöpfer.

Und Veit Harlan selbst? Keine Ahnung. Die veröffentlichte Liste ist unvollständig.               

 

Anmerkungen:

[1]  Hoffaktor, Kaufmann an einem höfischen Herrschaftszentrum, der Luxuswaren, Heereslieferungen oder Geld für den Herrscher beschaffte. Viele Hoffaktoren waren Juden.

[2]  Veit Harlan, Starregisseur der Nazis, 1940 im Auftrag von Goebbels »Jud Süß«, 1943 »Der große König«, 1945 der Durchhaltefilm »Kolberg«.

[3]  Abgerufen am 14. März 2019.

[4]  Bereits 1934 entstand eine englische Verfilmung des Feuchtwanger-Romans.

[5]  Aufschlussreich wäre eine Analyse der Presse- und öffentlichen Resonanz, die übrigens zeitlich bis in unsere Tage reicht. Dass der Richter bereits als Nazijurist Todesurteile fällte, wird verschwiegen. Nicht einmal sein Name wird genannt.

[6]  Abgerufen am 14. März 2019.

[7]  Geschätzt hunderttausend junge jüdische Männer dienten in der wilhelminischen Armee. 12.000 sind gefallen. Und es gab Feldrabbiner, je einen in jeder Feldarmee.

 

Mehr von Werner Wüste in den »Mitteilungen«: 

2018-11: »Ein ganzes Volk ist an ein Riesenkreuz genagelt . . .«

2018-08: So waren die Zeiten

2018-04: »Und doch gefällt mir das Leben ...«