Mahnendes Erinnern? Es wird nicht leichter.
Dr. Wolfram Adolphi, Potsdam
Im Frühjahr des Jahres 2013 kam in der sachsen-anhaltischen Kreis- und Hochschulstadt Merseburg die Idee auf, eine bis dahin namenlose Straße auf dem Hochschulgelände zur Günther-Adolphi-Straße zu machen. Geehrt werden sollte damit der Professor für chemische Verfahrenstechnik Günther Adolphi (1902-1982), der – so die Begründung durch eine Gruppe einstiger Hochschullehrer und Ingenieure – in der DDR zunächst in den nahe gelegenen Leuna-Werken, dann in der Technischen Hochschule für Chemie »Carl Schorlemmer« – der Vorgängerin der jetzigen Hochschule – Herausragendes für die Entwicklung der chemischen Verfahrenstechnik als Wissenschaft und Lehrfach geleistet hatte.
»Vergessene« Verstrickung
Im Jahre 2014 wurden – nach entsprechendem Stadtratsbeschluss – die Straßenschilder aufgestellt, fünf Jahre später, im Jahre 2019, nach neuerlichem Beschluss wieder beseitigt. Was war geschehen? Wenige Wochen nach dem Aufstellen der Schilder hatte die »Mitteldeutsche Zeitung« einen Artikel veröffentlicht, in dem es um Dokumente ging, die – laut Zeitung gerade erst auf einem privaten Dachboden entdeckt – darauf hindeuteten, dass Günther Adolphi in der Zeit von 1943 bis Januar 1945 als Ingenieur am Bau des Chemiewerkes der IG Farben in Auschwitz-Monowitz beteiligt war. Der Artikel hatte Verblüffung hervorgerufen. Nicht nur, dass niemand von dieser persönlichen Verstrickung Adolphis eine Ahnung gehabt zu haben schien; auch die enge Verbindung zwischen Leuna und Auschwitz überhaupt war offensichtlich so komplett aus aller Erinnerung getilgt, dass niemand in den Entscheidungsgremien auch nur in Erwägung gezogen hatte, auf dem Weg zur Namensgebung noch einmal nachzuhaken.
Die Hochschule – verblüfft, aber nicht kopflos – tat das Richtige. Sie riss die Schilder nicht gleich wieder ab, sondern beauftragte eine Gruppe Studierender, den Dingen auf den Grund zu gehen. Viel Gutes geschah in den nächsten Monaten. Die Studierenden durchforsteten Archive, um den Lebensweg des Günther Adolphi nachzuvollziehen, und sie fuhren nach Auschwitz, um sich eine Vorstellung von den Dimensionen des damals auf einer Fläche von fünf mal zwei Kilometern aus dem Boden gestampften IG-Farben-Werkes zu machen wie auch vom fast spurlos abgerissenen Konzentrationslager Monowitz, das die IG direkt neben der Baustelle errichtet hatte, um jederzeit Zugriff auf die Häftlinge zu haben.
Sie erfuhren von den Zwanzigtausend unter diesen Häftlingen, die den Bau des Werkes mit ihrem Leben bezahlen mussten, kamen in Kontakt mit Studierenden der Staatlichen Rittmeister-Witold-Pilecki-Hochschule Oświęcim, die sich der Erforschung der Auschwitz-Geschichte besonders verpflichtet fühlt, und im Ergebnis von allem organisierten sie im Februar 2016 in Merseburg ein Kolloquium, auf dem sie die Ergebnisse ihrer Arbeit vorstellten, und eine Ausstellung, die das alles visuell untermauerte.
Es entspannen sich Debatten, die zeigten, welcher Nerv da getroffen war. Die den Vorschlag gemacht hatten mit dem Straßennamen, hatten es ja nicht grundlos getan. Es finden sich bis heute viele Frauen und Männer, die sich des Hochschullehrers Günther Adolphi mit größter Hochachtung und Verehrung erinnern. Er hat vom Ende der 1950er Jahre bis 1967 in Merseburg Hunderte Studentinnen und Studenten ausgebildet, 1956 war er für die Entwicklung neuer Produktionsverfahren in den Leuna-Werken als Verdienter Erfinder geehrt worden, 1972 hatte ihn die Merseburger Hochschule, 1977 auch das Technologische Institut Lensowjet in Leningrad zum Ehrenprofessor ernannt.
Wie eine Abwägung treffen?
Dies die Verdienste in der DDR. Und davor also von 1943 bis Januar 1945 Ingenieur und Leiter der Errichtung des Betriebsteils Methanolerzeugung in Auschwitz-Monowitz. Und 1945, nach der Flucht aus Auschwitz am 20. Januar und der Befreiung Leunas durch die Amerikaner am 16. April, die Entscheidung, in Leuna zu bleiben und gemeinsam mit den am 2. Juli eintreffenden sowjetischen Besatzungsoffizieren den Wiederaufbau des Werkes in Angriff zu nehmen. Wie dies alles in einen Zusammenhang bringen? Wie eine Abwägung treffen?
Mit einem zweiten Kolloquium im Jahre 2019 wurde Klarheit geschaffen. Stefan Hördler, seinerzeitiger Leiter der Gedenkstätte Mittelbau-Dora in Nordhausen, zeichnete ein aussagekräftiges Bild davon, wie stark Günther Adolphi schon 1941/42 in Leuna in die Monowitz-Planungen und erst recht von 1943 bis Januar 1945 in die Leitungsentscheidungen in Monowitz selbst eingebunden war, sodass von einer vielleicht nur untergeordneten, nur wenig informierten – und darum vielleicht nicht wirklich gewichtigen – Tätigkeit in Monowitz nicht die Rede sein konnte. Nein, an Mittäterschaft blieb kein Zweifel. Der Schritt von diesem zweiten Kolloquium hin zur Rücknahme des Straßennamens war daher auch nur ein kurzer.
Soweit die Straßensache »an sich«.
Bei der es jedoch der Zufall gewollt hatte, dass ich – ein Enkel dieses Günther Adolphi – zur gleichen Zeit, da sie ihren Anfang nahm, den Plan gefasst hatte, mich mit eben dieser Lebensgeschichte zu befassen. Und zwar – so dachte ich mir – in Form einer Erzählung darüber, warum wir eigentlich eine DDR-Familie geworden sind. Wie das also gewesen ist mit dem Moment, da sich Günther Adolphi im Frühsommer 1945 entschied, nicht mit den Amerikanern von Leuna aus in den Westen zu gehen, sondern in Leuna – mithin in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), mithin in der DDR – zu bleiben. Es sollte – so mein Plan – ein eher launiges Geschichtchen werden, aber es kam – siehe oben – ganz anders.
Wobei mich die Straßensache als Überraschung erreichte, denn die Initiatoren des Vorschlags hatten uns – die Nachkommen des zu Ehrenden – nicht in ihre Überlegungen einbezogen.
Ich kann heute nicht sagen, ob, wenn sie uns einbezogen hätten, wir zum Eingreifen bereit gewesen wären. Ein Thema des Familiengesprächs sind die Auschwitzjahre des Großvaters nicht gewesen. Wir hatten keine Verständigung darüber. Ich selbst hatte nur ein schemenhaftes Wissen über den Aufenthalt dieses Mannes an diesem Ort; eine entsprechende Passage in seinen mir erst lange nach seinem Tod bekannt gewordenen privaten Erinnerungen hatte in mir auf eine mich heute beschämende Weise keine Alarmglocken zum Klingen gebracht. Etwas sträubte sich in mir, den Sozialisten und DDR-Erbauer in Beziehung zu setzen zu einem, der zuvor als IG-Farben-Mann zum Nazi-Täter geworden war.
Eine Familien- und Jahrhundertgeschichte
Nun aber wurde dies zum Kernthema meines Schreibens, und statt einer kleinen Erzählung entstand ein dreibändiger Roman. »Hartenstein« ist sein Titel; die Bände heißen »Der Balte vom Werk«, »Im Zwielicht der Spuren« und »Der Enkel vorne links«. Es ist nun eine Familien- und Jahrhundertgeschichte, die ihren Anfang in den baltendeutschen Kreisen in Riga und Mitau (dem heutigen Jelgava) nimmt und den Bogen spannt über die Weimarer Republik und das faschistische Deutschland bis in die DDR.[1]
Und das Schreiben verband sich direkt mit den Vorgängen um die Straße. In den Bänden 2 und 3 sind die originalen Debatten und studentischen Erkundungen gespiegelt, und immer drängender wurde das Bedürfnis, eine literarische Form zu finden, die dabei hilft, zu verstehen, wie die Verhältnisse beschaffen waren, die aus »normalen Menschen« eine solche Art von Täterinnen und Tätern haben werden lassen wie die, die den Bau dieses Chemiewerks in Auschwitz-Monowitz betrieben haben. Damit für uns Heutige leichter erkennbar wird, wenn sich die Verhältnisse wieder in eine solche Richtung bewegen. Und wir uns nicht automatisch gefeit fühlen vor einem Täterin- und Täterwerden. Weil der Weg vom »Normalen« dorthin gar nicht so weit ist, wie es uns scheinen mag.
Unerfüllte Erwartungen
Aber es ist mir nicht gelungen, das von mir erhoffte breitere Echo auf diese Überlegungen zu erzeugen. Die Erwartung, dass sich die »Mitteldeutsche Zeitung«, die mit ihrem Artikel über die Adolphi-Verstrickung den Stein ja erst ins Rollen gebracht hatte, nun auch bereit sein würde, über die Betrachtung dieser Verstrickung hinaus ein Fenster zu öffnen hin zu der längst überfälligen Diskussion über die Verbindung zwischen den Chemiewerken in Leuna und in Auschwitz-Monowitz 1941-1945 überhaupt, erfüllte sich nicht. Nicht nur, dass sie in der Redaktion keines meiner Bücher einer Besprechung für würdig hielten – auch meine Briefe an die Redaktion blieben unbeantwortet. Dabei gibt es so viel zu erörtern. Zum Beispiel auch, warum dieses Thema auch in der DDR, in der der Antifaschismus Verfassungsrang hatte und an vielen anderen Stellen eine sehr offene und offensive Auseinandersetzung mit dem Faschismus stattgefunden hat, nie ein Gegenstand des öffentlichen Gesprächs gewesen ist.
Warum wurde in Leuna und Schkopau – den beiden Orten, auf die sich mein Roman bezieht – das Auschwitzkapitel der Werks- und Stadtgeschichte so konsequent beschwiegen? Obgleich es doch viele hundert Menschen aus der Region waren, die am Werksbau in Auschwitz als Ingenieure, Meister, Vorarbeiter, Kaufleute, Juristen, Technische Zeichner oder Büroangestellte tätig waren? Die Zeitung, leider, gab keinen Anstoß zur Diskussion. Mir ist nicht bekannt, dass sich unter den nach Tausenden zählenden Nachkommen der Genannten jemand aufgerufen gefühlt hätte, sich zu äußern oder Erinnerungsstücke zu präsentieren, die die damalige Situation erhellen könnten. Eine einzige hochbetagte, mittlerweile verstorbene Augenzeugin des Werksbaus meldete sich mit einem Leserbrief zu Wort; ihre Geschichte hat in den Roman Eingang gefunden.
Die Unlust zum Erinnern
Die Unlust zum Erinnern in der Zeitung und in der Bevölkerung fand eine Bekräftigung in der Unlust von Bundeskanzlerin Angela Merkel, sich des Themas anzunehmen. Als sie im Jahre 2016 – also mitten in einer Zeit, da die »Mitteldeutsche« immer mal wieder auf die Straße zu sprechen kam – in Leuna zu 100 Jahren Chemie in diesem Ort und dieser Region referierte, nannte sie weder den Kriegsverbrecherkonzern IG Farben, zu dem Leuna und das Werk in Auschwitz gehörten, beim Namen, noch fand sie ein Wort für die Verbindung zwischen Leuna und Auschwitz. Auch dies hat Eingang in meinen Roman gefunden. Immer, wenn am 27. Januar der Opfer des Völkermordes an den Jüdinnen und Juden, der Shoah, des Holocaust gedacht wird, muss ich an diese Rede denken, denn sie zeigt, wie wenig der Geist dieses Gedenktages in den Alltag der Geschichtsbetrachtung der in Deutschland Herrschenden eingedrungen ist.
Nun gibt es in Merseburg die Günther-Adolphi-Straße nicht mehr, und es mehren sich die Anzeichen, dass damit auch die kleinen Funken einer Vergangenheitsdebatte wieder erloschen sind. Ich blicke zurück und muss erkennen: Hätte es die Idee mit dem Straßennamen nicht gegeben, wäre das Thema Leuna-Auschwitz gar nicht erst aufgetaucht.
Vielleicht jedoch bietet der näher rückende 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz im Jahre 2025 die Gelegenheit, auch in Leuna, Schkopau und Merseburg darüber nachzudenken, in welcher Form ein Ort beständigen mahnenden Erinnerns geschaffen werden kann.
Anmerkung:
[1] Wolfram Adolphi, »Hartenstein. Band 1: Der Balte vom Werk«. Nora, 1. Auflage, 2015, 356 Seiten, ISBN: 978-3865573865, Gebunden: 23,50 €.
Wolfram Adolphi, »Hartenstein. Band 2: Im Zwielicht der Spuren«. Nora, 1. Auflage, 2018, 380 Seiten, ISBN: 978-3865574374, Gebunden: 24,50 €.
Wolfram Adolphi, »Hartenstein. Band 3: Der Enkel vorne links«. Nora, 1. Auflage, 2020, 494 Seiten, ISBN: 978-3865574886, Gebunden: 29,90 €.
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