Lebensgrundsatz aus antifaschistischer Erfahrung: Die Einzelnen und die Organisation
Klaus Höpcke, Berlin
In der "Deutschen Kriegsfibel" schärft Bertolt Brecht 1939 die Sinne für die Gegensätze zwischen den sich "hochgestellt" Dünkenden und den "niedrig" Gehaltenen und spricht die Folgerung aus:
Wenn die Niedrigen nicht
An das Niedrige denken
Kommen sie nicht hoch.
In der "Deutschen Kriegsfibel II" fügt er hinzu:
DIE GEGEN IHR EIGENES VOLK KÄMPFTEN
Kämpfen nun gegen andere Völker
Zu den alten Sklaven
Sollen neue hinzukommen.
An den Tagen des antifaschistischen Gedenkens und Mahnens im Herbst 2009 regen Brechts Verse aus früheren Zeiten dazu an, gegenwartsbezogen zu fragen: Ob nicht die heutigen Zeiten, die Umstände Anfang des 21. Jahrhunderts erfordern, daß eine "Deutsche Kriegsfibel III" geschrieben werde? Über deutsche Soldaten am Hindukusch und als Jugoslawien-Bombardierer. Über deutsche Bewacher, die US-Stützpunkte in deutschem Gelände zur Erleichterung des Kriegs gegen den Irak vor dem Protest deutscher Bevölkerung schützen. Über den Flugplatz zwischen den deutschen Städten Leipzig und Halle, über den der Flug von jährlich über 200.000 Aggressionssoldaten in Kriegsgebiete abgewickelt wird. – Von deutschem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen?! Unter den Regierern von CDU, CSU, SPD und Grünen sowie ihren Helfern von der FDP geschieht es eben doch wieder, daß Krieger und Kriegsgerät von diesem Boden aus los- oder weiterfliegen!
Der Ablehnung und Verurteilung jeglicher Aktionen imperialistischen Militärs gegen das jeweils eigene Volk wie gegen andere Völker gebührt ein Platz höchster moralischer Ehre und größter politischer Bedeutung im Vermächtnis der aus der Illegalität heraus wirkenden Widerstandskämpfer gegen den Nazistaat und der Befreiungssoldaten in den Reihen der Armeen der Antihitlerkoalition.
Diese Haltung gehört zum Kern der Überzeugungen und Handlungen von Linken. Wer sie preisgibt, hört auf, ein friedfertiger Mensch und Friedensfreund zu sein. Der verläßt den Kreis der aus pazifistischen, kommunistischen, demokratisch-sozialistischen oder bürgerlich-demokratischen Gedankenquellen und Geschichtserfahrungen schöpfenden streitbaren Humanisten. Wer völkerrechtswidrige Gewaltpolitik nicht eindeutig – also entschieden und einschränkungslos – ablehnt, wer sie nicht verurteilt und bekämpft, sollte der es nicht auch unterlassen, sich als Sozialdemokrat zu bezeichnen? Wenn doch, dann gefälligst als einen der Sorte August/Dezember 1914 und April 1999!
Kulturspuren des Humanismus und Sozialismus in unserem Land, Werke humanistischer Künstlerinnen und Künstler haben einen hohen Anteil daran, wenn der ursächlich und untrennbar mit dem Antifaschismus verbundene unbedingte Wille zum Frieden heute bei uns zum Wesen vieler Deutscher gehört.
Unter den verdienstvollen Seiten der DDR ist besonders hervorhebenswert, daß in ihr Erbe und Gegenwartsschaffen solchen Geistes nachhaltig wirkten. Friedrich Wolfs "Professor Mamlock", Anna Seghers’ "Das siebte Kreuz", die Gemälde Otto Nagels, die Kompositionen von Paul Dessau und Hanns Eisler sind zum geistigen Besitz breiter Kreise der Bevölkerung geworden.
Zwanzig Jahre nach dem Neubeginn ergab sich eine interessante internationale Stichprobe für das Ergebnis der 1945 eingeleiteten Wandlungsprozesse. Auf dem Schriftstellertreffen 1965 in Berlin und Weimar versammelte Autoren aus vielen Ländern nutzten die Tagungspausen, um in Gesprächen mit Straßenpassanten und mit Gästen in Restaurants ins politische Gespräch zu kommen. Sie wollten prüfen, wie weit das von DDR-Schriftstellern von der Tribüne des Kongresses Gesagte mit den Alltagsäußerungen zufällig getroffener DDR-Bürger übereinstimmt.
Die einen fragten mehr mit Hoffnung, andere voller Skepsis. Alle aber kehrten zurück mit der durch eigenes Erleben bestätigten Erkenntnis: damals wirklich keine Spur Antisemitismus und anderer Formen rassistischer Überheblichkeit im Denken und Fühlen der Leute in diesem Land, mit denen sie gesprochen hatten. Statt dessen hohe Achtung vor den Leistungen anderer Völker wie des eigenen Volkes, Bemühen um Verständnis und Freundschaft zwischen den Völkern und bereits zu jener Zeit – 1965 – hoch entwickelter Sinn für internationale Solidarität. Statt der für Nazis typischen Verachtung gegenüber Bildung und menschlichem Feingefühl fanden die ausländischen Gäste umfassendes Streben nach natur- und gesellschaftswissenschaftlicher sowie musischer Bildung, begleitet von Behutsamkeit im Umgang mit anderen Menschen, besonders wenn sie Sorgen haben.
Wir waren, sind und bleiben froh darüber, daß an die Seite von Anna Seghers und ihren frühen Mitstreitern Angehörige nachfolgender Generationen getreten sind. Dafür stehen, um es hier nur am Beispiel der Literatur in Erinnerung zu bringen, Werke wie Erwin Strittmatters "Ole Bienkopp", "Der Wundertäter" und "Der Laden", Hermann Kants "Die Aula" und "Der Aufenthalt", Christa Wolfs "Der geteilte Himmel" und "Kassandra", Peter Edels "Wenn es ans Leben geht", Erik Neutschs "Spur der Steine", "Auf der Suche nach Gatt", "Der Friede im Osten" und "Nach dem großen Aufstand", Irmtraud Morgners Amanda-Roman und Eberhard Panitz’ "Die unheilige Sophia", Peter Hacks’ und Reiner Kirschs dramatisches poetisches und essayistisches Werk, Volker Brauns Gedichtbände, so "Training des aufrechten Gangs", seine Erzählungen "Das ungezwungne Leben Kasts", seine Stücke über Che Guevara und den Großen Frieden, sein Hinze-Kunze-Roman sowie nach 1989 "Der Wendehals" und jüngst "Das Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer" und "Flickwerk" (in Fortsetzungen als Vorabdruck im ND veröffentlicht, als Buch des Suhrkamp-Verlags im Oktober in den Buchhandlungen).
Mit Genugtuung haben wir jüngst das Erscheinen des Buches "Geheimtreff Banbury. Wie die Atombombe zu den Russen kam" begrüßt. Eberhard Panitz hat darin die weltgeschichtlichen Verdienste der Kommunistin Ruth Werner ("Sonjas Rapport") und des Kommunisten Klaus Fuchs um die Verteidigungsfähigkeit des Sozialismus nach 1945 mit feinem Gespür für die Dramatik ihres Handelns dargestellt, wobei er erfreulicherweise auch unerfreuliche Politik-Konflikte nicht ausspart, die ihnen zu schaffen machten.
Im bevorstehenden Jahr 2010 geht Elfriede Brüning ihrem hundertsten Geburtstag entgegen. Es gibt Initiativen, aus diesem Anlaß Leben und Werk der Autorin, die schon vor 1933 als Mitglied des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller zu veröffentlichen begann, zu DDR-Zeiten ein großes Lesepublikum erreichte und auch nach 1989 Nachauflagen und die Ausgabe neuer Werke erlebte, umfassender als bisher geschehen zu würdigen.
Zum Schluß eine übergreifende Anmerkung zu Bruno Apitz’ Roman "Nackt unter Wölfen", dem von allen zu DDR-Zeiten entstandenen Werken der Belletristik international am meisten verbreiteten Buch. Oberflächliche Lektüre bewahrt im Gedächtnis mehr die äußere Geschichte von der Rettung des Kindes im KZ Buchenwald. Der ethische und ästhetische Kern des Romans aber liegt doch in der neuartigen Antwort, die Apitz auf die von den beteiligten Lagerhäftlingen heftig diskutierte Frage gibt: Was geht vor – die Wahrung der Sicherheit des Komitees oder die Rettung des Kindes? Seine Antwort: Komitee und Kind/Kind und Komitee. Weiter gefaßt: Statt Organisation auch auf Kosten des Individuums – die einzelnen und die Organisation.
Das gilt im Frieden und auf freiem Fuß, und es gilt in Kerker und Krieg. Für Antifaschisten ist es ein durch Erfahrung gewonnener und bekräftigter Lebensgrundsatz geworden, auch heute und morgen immer neu zu bewähren.
Mehr von Klaus Höpcke in den »Mitteilungen«:
2009-02: Gegen das Wegschweigen des Anteils von Selbstbefreiung an der Befreiung Buchenwalds
2008-07: Die extremistische Apostelgeschichte
2008-05: Entgeistigung