Lebens(un)wert?
Dr. Ilja Seifert, Berlin
Vor achtzig Jahren – am 1. September 1939 – brach der deutsche Faschismus mit dem Überfall auf Polen den II. Weltkrieg vom Zaun. Auf denselben Tag wurde der sogenannte »Euthanasie«-Erlaß, der allein rund 300.000 Menschen das Leben kostete, datiert. Man sagt, daß das auf direkte Anweisung Hitlers zurückgehe. In Wirklichkeit tagte die beschließende Nazi-Clique erst am 9. Oktober in der Berliner Tiergartenstraße 4. Und sie gab der systematischen Mord-Kampagne den harmlos klingenden Tarn-Namen »Aktion T4«. Ihre Opfer waren Menschen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen. Man nannte sie »Krüppel«, »Schwachsinnige«, »Idioten«, »Unnütze Esser«, gar »Ballastexistenzen« usw. Um diese Verbrechen »fachgerecht« ausführen zu können, bildete die Reichsärzteführer-Schule im idyllischen Alt-Rehse nahe Neubrandenburg extra medizinisches Personal – insbesondere Ärzte und Krankenschwestern – aus. Sie waren es dann auch, die diese Morde an verschiedenen Orten – z.B. in Hadamar und in Pirna-Sonnenstein – ausführten. Sie markierten diejenigen, denen nach der Ermordung Goldzähne auszubrechen waren, und taten ansonsten so, als führten sie ganz reguläre medizinische Untersuchungen durch. Anschließend stellten sie Sterbe-Dokumente mit fingierten Todesursachen – z.B. Herzversagen oder Lungenentzündung – aus. Die Leichenverbrennung oblag dann meist speziell ausgesuchten SS-Männern.
Die offizielle »Euthanasie«-Kampagne mußte 1942 beendet werden. So vereinzelt er gewesen sein mag, der Widerstand und auch Protest einiger mutiger Kirchenmänner konnte nicht vollkommen ignoriert werden. Allerdings blieb der Grundgedanke, daß es sich um »unwertes Leben« handele, lebendig. Leider muß man konstatieren, daß sich bis weit in die 60er/70er Jahre hinein – und zwar sowohl in der alten BRD als auch in der DDR – kaum jemand mit der Philosophie des »unwerten Lebens« auseinandersetzte und diese kritisierte.
Das ist einer der Gründe, weshalb es sehr lange dauerte, bis dieser Teil der deutschen Geschichte überhaupt ins Blickfeld rückte und (selbst)kritisch reflektiert wurde.
Auch heute noch gilt es vielfach als »Schande«, zumindest aber als »großes Unglück«, wenn ein Kind mit Behinderung geboren wird. Das ist – ob bewußt oder unbewußt – von der »lebensunwert«-Ideologie nicht weit entfernt. So kann mit unschuldigem Augenaufschlag gesagt werden: »So etwas (!) muß doch heutzutage nicht mehr sein.«
Ideologische Vorbereiter
Vorausgegangen war dem systematische Hetze in Form von Stigmatisierung und Diskriminierung. Das begann schon am 14. Juli 1933 – kurz nach der »Machtergreifung« – mit dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«. In seiner Folge wurden unzählige Menschen mit Behinderungen zwangsweise sterilisiert. Das umfaßte von Geburt an blinde oder gehörlose Menschen ebenso wie »geistig Behinderte«, psychisch Kranke und körperliche »Krüppel« und reichte bis zu »Asozialen« oder schweren Alkoholikern. Dabei stützten sich die Nazis auf pseudowissenschaftliche Rassentheorien, z.B. des sozialdarwinistischen Mediziners Alfred Ploetz »Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen« (1895). Auch die von ihm gegründete »Gesellschaft für Rassenhygiene« (1905) gehört zu den geistigen Vorbereitern der »Euthanasie«-Morde. Von besonderer Bedeutung für die ideologische Rechtfertigung dieser systematischen Tötung war die 1920 erschienene Schrift »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form« von Karl Binding und Alfred Hoche, einem Mediziner und einem Juristen.
Einer der natürlichsten und verständlichsten Wünsche aller werdenden Eltern ist: »Hauptsache, es ist gesund.« Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß pränatale Diagnostik auf große Akzeptanz stößt.
Kurz vor der Steigerung der Diskriminierung ins systematische Töten verfügte der faschistische Staat die Registrierung der Menschen mit Behinderungen. Das funktionierte am reibungslosesten in den Anstalten – häufig als »Heilstätten« gegründet –, in denen sie ohnehin ihr Dasein fristeten. Um auch all diejenigen zu erfassen, die in ihren Familien lebten, verordneten die Nazis am 18. August 1939 noch eine Meldepflicht für alle Neugeborenen und Kleinkinder mit Behinderungen.
Neid- und Haß-»Objekte« sind austauschbar
Auch heute noch leben viele Menschen – mit und ohne Behinderungen; als Kinder, Jugendliche, Erwachse oder im Alter – in anstaltähnlichen Einrichtungen. Seien sie beschönigend Senioren-»Residenzen« oder Pflegeheim genannt. Sie unterliegen der Heimordnung und dem Pflegeplan. Die Insassen werden zwar »Bewohner« genannt, aber sie sind registriert und häufig unter Vormundschaft – verschämt »Betreuung« genannt – gestellt. Ihre Selbstbestimmung und reale Teilhabemöglichkeiten sind eingeschränkt. Auch diejenigen Menschen mit und ohne Behinderungen, die auf staatliche Unterstützung (Sozialhilfe) angewiesen sind, unterliegen einer strengeren Kontrolle als andere. Ähnlich ist es in Behindertenwerkstätten. All das mag »nicht so schlimm (!)« sein, solange es gesamtgesellschaftlich relativen Wohlstand gibt. Ob da eher Mitleid, ein charitativer Helferimpuls, Desinteresse oder menschenrechtlich begründete Anerkennung von Ansprüchen (Rechten) die jeweils konkrete Motivation ist, sei dahingestellt. Sollte sich das einmal jäh ändern – sollte also eine langanhaltende, tiefgreifende Wirtschaftskrise in eine massenhafte Existenzkrise münden –, könnte dieses mehr oder weniger geduldete Wohlwollen ggf. rasch in feindseligen Neid und gefährlichen Haß umschlagen. Ob er sich gegen Flüchtlinge, Andersgläubige, politische Gegner oder Menschen mit Behinderungen richtet, ist austauschbar. Immerhin geistern schon seit Anfang der 2000er Jahre immer mal wieder – sehr offizielle – Zahlen und Nachrichten durchs Land, daß »die Behinderten« »zu teuer« würden. Beispielsweise durch das »persönliche Budget«. (Hinzuzufügen, daß noch wesentlich größere Beträge in die o.g. Einrichtungen fließen, wird dabei regelmäßig diskret »vergessen«.)
Die Nazis waren auch Bürokraten. Fein säuberlich dokumentierten sie selbst ihre Schandtaten. Nicht zuletzt die »Euthanasie«-Morde. Offenbar belastete kein Unrechtsbewußtsein ihr Gewissen. Seit einigen Jahren suchen – meist junge – Wissenschaftler nach diesen Aufzeichnungen. Sie finden sie entweder an den Tatorten oder in großen und kleinen Archiven. Häufig ohne oder mit nur äußerst geringen Fördermitteln. Es sind Enthusiasten – nicht selten Autodidakten und andere ehrenamtliche Hobbyforscher –, denen es um die Sache geht, weniger um wissenschaftlichen Ruhm. Sie haben meinen größten Respekt. Handschriftliche Aufzeichnungen sind häufig schwer leserlich (z.T. in der heute ungebräuchlichen Sütterlinschrift) oder verblaßt, und das Papier ist stark vergilbt. Im Ergebnis ihrer mühevollen Arbeit entreißen sie die Ermordeten der Anonymität, die sich hinter der großen Anzahl verbirgt. Sie geben den Ermordeten ihre Namen zurück. Wo Fotos gefunden werden, stellt man sie aus. Immer häufiger gelingt es, nicht nur eine medizinisch-psychiatrische Diagnose hinzuzufügen, sondern es werden zumindest Bestandteile der jeweiligen Biographien gefunden und publiziert.
Zwiespältig ist das Verhalten einiger familiärer Nachkommen bzw. Verwandten. In manchen Familien freut man sich, nahezu unbekannte – verschämt verschwiegene – Familienmitglieder wiederzuentdecken und trägt seinerseits zur Recherche bei. In anderen ist man eher erschreckt oder schlicht desinteressiert. Manche wollen ihre Familiengeschichte nicht wahrhaben. Auffällig ist gelegentlich auch das Verhalten der Nachkommen derer, die seinerzeit von den Todestransporten wußten oder sie sogar zusammenstellten bzw. daran – z.B. als Angestellte der »Heilanstalten« – anderweitig beteiligt waren. Besonders an kleinen Orten, in denen noch heute große derartige Einrichtungen existieren. Immerhin handelt es sich jetzt um die dritte oder vierte Nachfolgegeneration. Trotzdem stehen etliche von ihnen der Erforschung dieses Teils der Dorf- bzw. Einrichtungsgeschichte skeptisch bis ablehnend gegenüber. Glücklicherweise begegnete mir auch das genaue Gegenteil: großes Interesse an Aufklärung.
Erst in den letzten Jahren wurde so richtig klar, was dieser »Melde-Erlaß« vom 18. August 1939 eigentlich bedeutete. Er diente der Erfassung auch derjenigen »nutzlosen Existenzen«, die in ihren Familien ein immerhin einigermaßen gesichertes Leben hatten.
Wir haben nämlich nur dieses Leben und wollen es genießen
Heutzutage sind Menschen mit Behinderungen gleich mehrfach gesondert »registriert«. Neben dem Personalausweis, den jeder Bürger hat, gibt es den Schwerbehindertenausweis, eine Pflegestufe, ggf. Grundsicherung oder Eingliederungshilfe vom Sozialamt. All diese Erfassungs-Dokumente sind mit – mehr oder weniger wirksamen – Nachteilsausgleichen verknüpft. Aber einige aktuelle politische Entwicklungen lassen mich durchaus auch Schlimmes befürchten. Hinzu kommt ein »medizinischer Fortschritt«, der uns allen Ernstes vorgaukelt, daß Behinderungen verhindert (ausgemerzt) werden könnten. Dabei tragen vorgeburtliche Tests fast immer nur dazu bei, das (potentielle) Leben der Träger dieser Beeinträchtigungen zu verhindern.
Die meisten Nachteilsausgleiche haben wir – Menschen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen und unsere Selbstvertreter-Organisationen – uns in Jahrzehnten mühsam erkämpft. Immer mit dem Impetus, daß wir unser Leben so lieben, wie es ist. Wir haben nämlich kein anderes. Also wollen wir es uns schön gestalten. Es ist lebenswert.
(Red.) Über sein Buch »Sterben wie im Märchen«,2019 erschienen im Karin Fischer Verlag, schreibt Ilja Seifert im Vorwort: »Hier versammle ich etliche Essays und – leicht überarbeitete – Bundestagsreden aus den letzten zehn Jahren, mit denen ich mich der öffentlichen Debatte stelle. Sie läuft ja seit Jahren. Manchmal heißt sie Sterbehilfe, manchmal Stammzellenforschung, ein andermal Bioethik oder Pränatal- bzw. Präimplantationsdiagnostik. Sie heißt auch Organtransplantation oder Menschenrecht auf Teilhabe. Dann auch wieder Euthanasie. Immer geht es um das Menschenbild, von dem wir unsere Gesellschaftskonzeption ableiten. Es geht also um das Große und Ganze.«
Mehr von Ilja Seifert in den »Mitteilungen«:
2018-12: Klassenbefreiung gegen Minderheitenschutz?
2016-07: »Lieber tot als behindert«?
2015-07: Frühe Denkschrift – spätes Gedenken