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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Klassenbefreiung gegen Minderheitenschutz?

Dr. Ilja Seifert, Mitglied des Vorstands der LINKEN

 

Die Linke entdeckt die Arbeiterklasse neu. Sie beruft sich dabei auf Marx' – in erster Linie ökonomisch begründete – Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Der Haupt­widerspruch liegt zwischen »Kapital« (Bourgeoisie) und »Arbeit« (Proletariat). Es gelte also, die Arbeiterklasse gegen die Ausbeuter zu mobilisieren.

Allerdings übersieht diese Weltsicht etliche »Nebenwidersprüche«. Beispielsweise den, daß die Protagonisten des Kapitalismus es seit alters her gut – und neuerdings womöglich sogar immer besser? – verstehen, verschiedene »Minderheiten« gegeneinander auszu­spielen. Und so erleben wir, daß sehr viele abhängig Beschäftigte und andere Personen, die keine Verfügungsgewalt über strukturbestimmende Produktionsmittel oder spekulativ verwertbare Immobilien haben oder Banken besitzen, sich eher von Zuwanderern, Homo­sexuellen, Behinderten oder Zigeunern bedroht fühlen als von ihren als Arbeitgeber auftre­tenden Ausbeutern. Offensichtlich überlagern – genauer gesagt: dominieren – diese »Ne­benwidersprüche« die Alltagswahrnehmung und sogar die Alltagskämpfe.

Denkmaleinweihung mit Zwischenrufen

Nehmen wir aus Anlaß des 80. Jahrestages eines Himmlerschen »Runderlasses« ein Bei­spiel, das in den meinungsbildenden Medien unserer Zeit – und damit auch im Alltagsbe­wußtsein sehr breiter Bevölkerungsschichten – kaum eine Rolle spielt. Und wenn: Dann als »Schmarotzer-Skandal«: Die Lebensbedingungen von Sinti und Roma.

Als am 24. Oktober 2012 im Berliner Tiergarten das Denkmal für die von den Nazis er­mordeten Sinti und Roma feierlich eingeweiht wurde, wagten es zwei oder drei Anwesende aus den hinteren Reihen, per Zwischenruf auf den schändlichen Umgang mehrerer euro­päischer Regierungen mit Angehörigen dieses Volkes in der Gegenwart aufmerksam zu ma­chen. Die versammelte Hautevolee – vom Bundespräsidenten über die Bundeskanzlerin bis zu Hunderten sonstiger Prominenz – war sichtlich pikiert. So etwas tut man doch nicht! Wir sind doch gerade alle so unglaublich »betroffen« darüber, daß rund 500.000 »Zigeu­ner« in KZs ermordet wurden. Wer kommt uns denn da mit heutigen Stigmatisierungen und Diskriminierungen?

Solidarität? Fehlanzeige!

Damals waren gerade massenhafte Abschiebungen aus Frankreich Thema in der Presse. In  Deutschland schürten großlettrige und kleinere Zeitungen, aber auch regionale Hörfunk- und Fernsehsender Ressentiments gegen aufdringlich bettelnde »rumänische Kinderban­den«. In der tschechischen Republik bauten »empörte Anwohner« – die sich »weiße Tsche­chen« nennen – quer über die Straße eine Mauer, um sich die »Zigeuner« vom Halse zu hal­ten. Von Solidarisierung der jeweiligen Regierungen – oder gar der Arbeiterklasse – mit den so Stigmatisierten war weit und breit nichts zu sehen.

Aber ein längst überfälliges Denkmal wurde mit großem Pomp eingeweiht. Seine Entste­hungsgeschichte ist selbst ein Beispiel dafür, wie zögerlich sich die in Deutschland Herr­schenden (selbst)kritisch mit der diskriminierenden und am Ende todbringenden Minder­heitenpolitik der Faschisten auseinanderzusetzen bereit waren (und sind). Diese Gedenk­stätte ist die vorletzte in einer Reihe, die den ermordeten Juden, Homosexuellen, Sinti und Roma sowie behinderten Frauen und Männern in Europa gewidmet sind. Auch das kann ich nicht als Zufall sehen. Nur die öffentliche Verurteilung des sys­tematischen Mordes von »Krüppeln«, »unnützen Essern« und sonstigen »Idioten« dauerte noch länger. Jetzt wird durch eine klei­ne Gedenkstätte an der Tiergartenstraße 4 daran erinnert.

Interner Zwist hilft den Verhinderern

Zupaß kam den Verantwortlichen, daß auch innerhalb der Betroffenengruppe unter­schiedliche Meinungen bestehen. So duldet der größte Teil die Bezeichnung »Zigeuner« kei­nesfalls. Er besteht auf »Sinti und Roma«. Aber es gibt auch Angehörige dieser Volksgrup­pe – vorwiegend Sinti und in Spanien Lebende –, die sich mit Stolz »Zigeuner« nennen (las­sen). Das ist einer der Gründe, warum zwischen dem Bundestagsbeschluß, daß dieses Mahnmal errichtet werden soll, und seiner Einweihung zehn Jahre vergingen. Der Namens­streit konnte wunderbar zum »Hauptwiderspruch« stilisiert werden und so weitere Verzö­gerungen rechtfertigen.

Wenn dieses Denkmal wenigstens dazu führte, daß mit der fortwährenden Diskriminie­rung von Sinti und Roma Schluß wäre! Aber auch das ist nicht der Fall. So, wie der fa­schistische deutsche Staat in einem Runderlaß am 8. Dezember 1938 »Zur Bekämpfung der Zigeunerplage« unverfroren behauptete »Die bisher bei der Bekämpfung der Zigeuner­plage gesammelten Erfahrungen und die durch rassenbiologische Forschungen gewonne­nen Erkenntnisse lassen es angezeigt erscheinen, die Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen der Rasse heraus in Angriff zu nehmen«, so werden sie – wie andere Minderheiten – auch heute stigmatisiert. Zwar nicht mehr ganz so naßforsch wie Himmler im Einlei­tungsparagrafen seines Runderlasses als »Feststellung« konstatieren zu können meint, aber häufig nicht weniger wirksam.

Da läßt der aktuelle italienische Innenminister – genau, wie seinerzeit die Nazis – neuer­dings wieder alle Zigeuner »registrieren«. Mit der unverhohlenen Absicht, ihnen den Auf­enthalt unangenehm zu machen, sie zu drangsalieren und sie bei der kleinsten Unregelmä­ßigkeit hart zu bestrafen oder auszuweisen. Der Stigmatisierung folgt das Drangsalieren. Das wiederum ermuntert auch zum Diskriminieren. Bis hin zum »Ausmerzen«, denn alle so gebrandmarkten Gruppen sind dann ja »minderwertig«. Sie zu quälen, ist »nicht so schlimm«. Ja, eigentlich »erlaubt«. Manche leiten daraus sogar einen »Vernichtungsauftrag« ab. – Noch ist es nicht ganz so weit. Noch klingt das vielleicht wie Angstmacherei? Aber das war alles schon mal da. Es begann fast genau so. Und also kann es auch wieder so werden.

Registrieren, stigmatisieren, diskriminieren . . .

Im Thüringer Landtag fordern AfD-Abgeordnete die »Registrierung« aller Homosexuellen. Im Bundestag fragt die AfD-Fraktion sehr suggestiv nach einem irgendwie gearteten Zu­sammenhang zwischen »Inzest« – in dem Falle vorwiegend bei Flüchtlingen – und dem Auf­treten von körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen. In Behindertenkreisen stieg – was nicht verwunderlich ist – sofort die Angst vor erneuerten »Euthanasie«-Bestrebungen.

Wem aufdringlich bettelnde Kinder lästig sind, der denkt nicht an Klassensolidarität. Wer im Theater die »Carmen« bejubelt, denkt nicht an »Zigeuner«verfolgung. Es gibt eben – auch für Linke, die eine solidarische und demokratische Gesellschaft anstreben – Widersprüche auf vielerlei Ebenen. Einige davon sind antagonistisch. Aber auch die anderen müssen ernst ge­nommen werden. Seien sie ethnischer, religiöser, intellektueller, psychologischer oder kör­perlicher Natur. Die selbstgewählte Lebensweise von Sinti und Roma hat dieselbe Daseins­berechtigung wie jede andere selbstbestimmte Form individueller oder kollektiver Lebens­gestaltung, die andere nicht einengt bzw. ausgrenzt. Gegenseitiger Respekt ist das Gegenteil von individuellem oder Gruppenegoismus. So gesehen, findet nicht zuletzt auch die Klassen­zugehörigkeit – gemessen an der Stellung zu den strukturbestimmenden Produktionsmitteln – ihren Platz.

 

Mehr von Ilja Seifert in den »Mitteilungen«:

2016-07: »Lieber tot als behindert«?

2015-07: Frühe Denkschrift – spätes Gedenken

2014-10: »Euthanasie« – ein guter Tod?