Lasst euch durch schöne Worte nicht beruhigen!
Prof. Dr. Nina Hager, Berlin
Zum 100. Geburtstag von Emil Carlebach
Am 9. April 1995 hörte man während der Gedenkfeier zur (Selbst-)Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald sehr deutliche Worte.
In seiner Rede wandte sich der Kommunist Emil Carlebach damals nicht nur eindeutig gegen die damaligen Versuche bundesdeutscher Politiker - nach dem Ende der DDR und der »Vereinigung« 1990 - einen historischen »Schlussstrich« zu ziehen und zugleich die deutsche Vergangenheit zu relativieren, Geschichte umzuschreiben, sondern auch entschieden dagegen, den antifaschistischen Widerstand vor allem der Kommunistinnen und Kommunisten zu diskreditieren: »Lasst nicht nach in eurer Wachsamkeit. Lasst euch durch schöne Worte nicht beruhigen. Unser Schwur gilt heute wie vor 50 Jahren: Für eine Welt des Friedens und der Freiheit.« Dazu gehöre der Kampf gegen den Faschismus, gegen Antisemitismus und Herrenmenschentum.
Diese Gedenkfeier in Buchenwald wurde - sicher nicht nur zu meiner Überraschung - damals im Fernsehen übertragen.
Tage später protestierten in Sachsenhausen Antifaschistinnen und Antifaschisten aus Brandenburg und Berlin gegen das Auftreten des damaligen Bundesaußenministers Klaus Kinkel bei einer Gedenkfeier, an der etwa 20.000 Menschen teilnahmen. Nachdem Kinkel zunächst im Hinblick auf die Verbrechen der deutschen Faschisten (»der Nationalisozialisten«) von »Scham, Entsetzen und Verantwortung« gesprochen hatte, beendete er seine Rede mit den Worten: »Aber Sachsenhausen wurde damals nicht geschlossen, es kamen wieder Gefangene hierher. Neues Leid geschah. Auch das dürfen wir nicht vergessen.«
Der folgende Protest war unüberseh und -hörbar, obgleich schon im Vorfeld Polizeikontrollen dafür gesorgt hatten, dass nicht nur junge Antifaschistinnen und Antifaschisten Platzverbote erhielten oder festgesetzt wurden.
Nach einigen Erklärungen, denn man hatte uns Protestierende offenbar zuvor sogar als rechte Provokateure diskreditiert, die die Feierlichkeiten stören würden - gab es von früheren Häftlinge Verständnis und eindeutige Sympathieerklärungen …
In Buchenwald
Bis zu seinem Tod hat sich Emil dem antifaschistischen Kampf und dem Schwur der Häftlinge von Buchenwald verpflichtet gefühlt. Er ist als Zeitzeuge vor Jüngeren aufgetreten, hat aufgeklärt. Auch durch seine Bücher.
Geboren wurde er im Kriegsjahr 1914 in Frankfurt am Main, am 10. Juli, in einer jüdischen »patriotischen« Kaufmannsfamilie. Seine frühe Kindheit wurde durch den Krieg geprägt. Seinen Vater, der sofort als Soldat eingezogen wurde, lernte er erst kennen, als er fünf Jahre alt war.
In den 20er Jahren wurde er - nach eigenen Aussagen - durch die weltweite Kampagne für Sacco und Vanzetti politisiert, lernte Gleichgesinnte kennen. Zunächst wurde er Mitglied des sozialistschen Schülerbundes.
1931 trat Emil Carlebach dem KJVD, dem Kommunistischen Jugendverband Deutschlands, bei. Das geschah - soweit bekannt - gewiss nicht mit Billigung der Familie. Nach dem Abitur 1932 begann er eine kaufmännische Lehre in einer Ledergroßhandlung und wurde Mitglied in der für ihn zuständigen Gewerkschaft, dem Zentralverband der Angestellten.
Anfang 1934 wurde Emil Carlebach wegen der Herstellung und Verbreitung von antifaschistischen gewerkschaftlichen Zeitungen zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Nach der Haft, die er unter anderem in Hameln verbrachte, kam er 1937 ins Konzentrationslager Dachau, 1938 dann in die Hölle von Buchenwald.
Wir können uns nicht vorstellen, was er dort erlitten hat. Mit 20, 21 Jahren wurde er eingesperrt, mit 24 Jahren kam er nach Buchenwald. Frei kam er erst 1945.
1938 gab es in Buchenwald keine Dominanz des politischen Widerstandes. Erst allmählich eroberten die »Politischen« die wichtigen Positionen. Welche komplizierte Gratwanderung das für sie und vor allem die »roten Kapos« bei ständiger Bedrohung durch die SS bedeutete, lässt uns »Nackt unter Wölfen«, der Roman von Bruno Apitz, erahnen. Ein internationales Lagerkomitee entstand und damit der antifaschistische Widerstandskampf in Buchenwald, der letzlich zur Selbstbefreiung führte.
Emil Carlebach gehörte zum Widerstand. Er wurde Blockältester im jüdischen Häftlingsblock. Anfang April 1945 sollten die jüdischen Häftlinge in Buchenwald ermordet werden. Emil wurde versteckt, leistete aber weiter seinen Beitrag zum Kampf und zur Selbstbefreiung.
Bekanntlich wird noch heute durch die offizielle bundesdeutsche Geschichtsschreibung die Tatsache, dass die Häftlinge sich selbst befreit haben, angezweifelt. Doch die Truppen der 3. US-Army fanden am 11. April ein bereits befreites Lager vor. Sie ahnten zuvor gewiss, was sie erleben würden: viele Tote, kaum noch Lebende, Hungernde …
Knapp 21.000 hatten überlebt.
In jenen Tagen leisteten die früheren Gefangenen einen Schwur. »Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht. Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden und ihren Angehörigen schuldig.«
Nach dem Verlesen des Schwures erhoben die Häftlinge ihre Arme und sprachen »Wir schwören«.
Als Aufklärer: »Hitler war kein Betriebsunfall«
Die Buchenwalder Häftlinge aus Hessen wählten Emil Carlebach damals zu ihrem Sprecher, später gehörte er zu den Mitbegründern der VVN, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Dann wurde er Vizepräsident des Internationalen Buchenwald-Komitees.
Emil kehrte in seine Heimatstadt zurück. Nach 1945 wurde er als Frankfurter Stadtverordneter gewählt, später - im Dezember 1946 - zum hessischen Landtagsabgeordneten. Die Volksabstimmung über die hessische Verfassung mit ihren fortschrittlichen Bestimmungen wie der Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher wurde am 1. Dezember 1946 durchgeführt: die Wählerinnen und Wähler stimmten mit 76,4 Prozent für die Gesamtverfassung und mit 72 Prozent für den Sozialisierungsartikel 41, der den Weg in eine andere Gesellschaft wies, für die auch Emil Carlebach stand. Selbst die hessische CDU war damals für einen christlichen Sozialismus. Der Enteignungsartikel der Landesverfassung wurde vom Militärgouverneur Clay bald suspendiert. Später wurde er nur zeitweise und minimal berücksichtigt.
Bereits 1945 wurde Emil Carlebach in Frankfurt zum Mitbegründer und Lizenzträger der Frankfurter Rundschau. Zu den Begründern gehörten Sozialdemokraten, Kommunisten und ein sozialistischer Vertreter des politischen Katholizismus. Diese Zeitung war nach der Zerschlagung des Faschismus nach den Aachener Nachrichten und der Berliner Zeitung die dritte deutsche Tageszeitung, die zugelassen wurde. Sie wurde am 1. August 1945 gegründet. Doch schon wenige Monate später änderte sich die Situation. Georg Fülberth machte in einem Beitrag zu Emil Carlebach darauf aufmerksam, warum und wie der Antikommunismus neu auflebte …
1947 begann der Kalte Krieg. 1947 wurde Emil auf Betreiben der US-Militärbehörde (Befehl von General Clay) aus dem Kreis der Lizenzträger der Frankfurter Rundschau entfernt.
Es kamen die Jahre heftiger Anfeindungen, von Verfolgungen, des Verbots der KPD. Wieder waren die Kommunistinnen und Kommunisten in äußerst schwieriger Situation, begingen dabei auch Fehler, überspitzten in Auseinandersetzungen. So auch Emil Carlebach. Beispielsweise in der Auseinandersetzung Emils mit Margarete Buber-Neumann, die vor Gericht geführt wurde (1950 bis 1952). Buber-Neumann, die 1940 von der Sowjetunion an Hitler-Deutschland ausgeliefert worden war und dann ins Konzentrationslager Ravensbrück kam, hatte darüber in ihrem Buch »Als Gefangene bei Stalin und Hitler« berichtet. Carlebach nannte sie eine Lügnerin, Trotzkistin und US-amerikanische Agentin und verdrängte damals - wie viele andere Genossinnen und Genossen unter dem Druck ständiger Angriffe - ein tragisches Kapitel in der Geschichte unserer Bewegung ...
Nach dem KPD-Verbot ging Emil in die DDR, arbeitete beim »Deutschen Freiheitssender 904«, wurde Chefsprecher. Über den Sender wurden die Hörerinnen und Hörer im Bundesgebiet aufgeklärt über die Wiederaufrüstung Westdeutschlands, über unheilvolle Kontinuitäten in der bundesdeutschen Geschichte, die Nazivergangenheit Vieler in Politik, Justiz, Bundeswehr und Geheimdiensten …
1969, nach der Neukonstituierung der DKP, der kommunistischen Partei in der Bundesrepublik Deutschland, kehrte Emil Carlebach in die alte Heimat zurück und wurde Mitglied der DKP. Er wurde Chefredakteur der antifaschistischen Wochenzeitung die tat [1], wirkte weit über die Partei hinaus im Bündnisbereich. Er war aktiv in der VVN und hatte dort bis zu seinem Tode verschiedene Funktionen, er war Mitglied im Vorstand der Deutschen Journalisten-Union (dju). Immer häufiger wurde der Zeitzeuge und hinreißende Redner zu Vorträgen und Diskussionsrunden eingeladen. Bei einer habe ich ihn selbst erleben können.
In zunehmendem Maße sah er seine Aufgabe darin, Klarheit über den Zusammenhang zwischen Monopolkapitalismus, zwischen den Interessen des Großkapitals und dem Faschismus zu schaffen. Sein Buch »Hitler war kein Betriebsunfall« kennen sicher viele Leserinnen und Leser der Mitteilungen. Oft schrieb er Beiträge für Die Weltbühne.
1989/90 bedeutete auch für ihn eine weitere Zäsur in seinem Leben. Doch der Kommunist Carlebach blieb sich, der Sache und seiner Partei treu.
Nach 1990
Erlebt habe ich Emil Carlebach zum ersten Mal im April 1992. Ich war damals auf der Suche nach einer neuen politischen Heimat. Die PDS hatte ich Anfang des Jahres verlassen. Nun erlebte auch ich Emil Carlebach, den ich bislang nur von Fotos kannte, auf einer Beerdigung eines alten Genossen jüdischer Herkunft - zunächst Häftling in Auschwitz, später in Buchenwald. Am Grab von Hermann Axen ergriff Emil das Wort. Er fand klare Worte über die Geschichte wie die aktuelle politische Situation. Danach entschloss ich mich Mitglied der DKP zu werden.
Ein zweites Mal traf ich ihn im April 1993. Anlässlich des Thälmann-Geburtstages gab es eine Aktion unterschiedlicher linker Parteien und Organisationen am Thälmann-Denkmal in Berlin-Prenzlauer Berg. Anschließend hatte die PDS zu einer Debatte zur Geschichte, Geschichtsrezeption im vereinigten Deutschland und damit zusammenhängende Fragen in einen nahe gelegenes Kiezzentrum geladen. Nach meiner Erinnerung hatte uns damals Micha Benjamin gefragt, ob wir uns auch an dieser Veranstaltung beteiligen würden. Wir konnten dafür Emil Carlebach gewinnen.
Viel Zeit für Gespräche blieb an diesem Tag nicht. Später auch nicht die Muße für weitere Kontakte.
Damals war er tief besorgt über das Erstarken der faschistischen Rechten im Land.
Was wäre sein Rat angesichts der gegenwärtigen Erfolge rechtspopulistischer und offen faschistischer Parteien bei den Europawahlen, angesichts der Entwicklung in der Ukraine, des Rechtsrucks in den meisten EU-Ländern?
Hört nicht auf zu kämpfen! Sorgt dafür, dass die Ursachen für diese Entwicklung aufgedeckt werden! Organisiert den Widerstand! Und kämpft gemeinsam!
Emil Carlebach starb am 9. April 2001 in Frankfurt am Main.
Anmerkung:
[1] Anfang 1950 in Frankfurt am Main gegründet - Red.
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