Kurzfassung – sächsisch
Walter Ruge, Potsdam
Eine Gruppe von Funktionären der LINKEN – vorwiegend Akademikern – legt uns "zur Diskussion" im "Wahljahr 2009" ein "Arbeitspapier" "Der Herbst 1989 in Sachsen – wir sind das Volk" vor; dieses erweist sich zunächst als "Kratki Kurs der Geschichte der Partei DIE LINKE" für das Land Sachsen, mit wachen Seitenblicken auf die "dunklen Seiten" der "europäischen Geschichte". Es bleibt zu begrüßen, wenn im Wahljahr auch die Sachsenherzen kräftig links schlagen – es war völlig überflüssig, dazu "Sachsen zum Geburtsland der deutschen Arbeiterbewegung" zu stilisieren; Gotha und Eisenach liegen eher im benachbarten Thüringen, München, Berlin, Kiel wohl auch nicht in Sachsen. Dank der preußisch-deutschen Reaktion verfaßten Marx und Engels ihre wegweisenden Schriften – wenn das den Autoren noch etwas gilt – in Köln, Paris, Brüssel, in London – auch nicht gerade Sachsen.
Der Anteil Sachsens bei der Herausbildung der deutschen Sozialdemokratie und beim Aufbau der DDR wurde mit der Umbenennung von Chemnitz in Karl-Marx-Stadt gewürdigt und im Zentrum der Stadt ein großartiger Karl-Marx-Kopf aufgestellt. Die "gelebte Freiheit" konnte nicht verhindern, daß die sächsischen Bilderstürmer diese Würdigung, den Namen Karl-Marx-Stadt, tilgten, der tiefschwarze Marx-Kopf des sowjetischen Bildhauers Lew Kerbel aus dem Jahr 1971 blieb uns vorerst erhalten. Nicht zu übersehen, daß gerade in Sachsen – auch durch Anheizen von völkischem Lokalpatriotismus – die NPD schnell Fuß fassen konnte; wie übrigens schon Anfang der 30er Jahre die NSDAP, als Berlin noch als stabil "Rot" galt. Jetzt wird in der Einleitung (S. 2) über eine linksrepublikanisch-sozialistische Partei, ein linksrepublikanisches Projekt postuliert – stehen wir vor einer Namensänderung? Rechtsrepublikanisch hatten wir auch in Sachsen schon.
Schon vor der Veröffentlichung des Manifestes der Kommunistischen Partei wurde die neue Weltanschauung vehement verfolgt, man denke an den 1797 exekutierten Gracchus Babeuf, "eine Hatz" auf das ‚Gespenst des Kommunismus’, juristisch, politisch, bis hin zu Morden und Exekutionskommandos – lange bevor es die Sowjet-Union, die Kommunistische Internationale, Deportationen und das GULag-System auch nur im Ansatz gab. Der Grund liegt auf der Hand: Nicht die Menschenrechte, die Religionsfreiheit, die Reisefreiheit, die Pressefreiheit sind es, die die internationale Reaktion auf den Plan rufen. Die Todsünde des Marxismus ist und bleibt das Ansinnen der "Expropriation der Expropriateure", da verstehen die Herren keinen Spaß.
Die Arbeiterbewegung wird nicht nur mit offenem Visier bekämpft, gefährlicher ist der subversive Kampf, die "Verbesserung", die "Reformierung" der marxschen Ideen, ihre Angleichung an die "veränderten Verhältnisse", ihre "Modernisierung" – das, was zur Jahrhundertwende unter dem Begriff "Revisionismus" zusammengefaßt wurde. Der anhaltinische Roland Claus verlangte seinerzeit "das Image der Partei behutsam zu verändern"; nun kommt aus Sachsen der letzte Schliff.
Der komplizierte Prozeß des "Revidierens" vollzog sich unter den Bedingungen eines relativ prosperierenden Kapitalismus – nicht "unter dem Druck der Verelendung abhängig Beschäftigter" (S. 2) – in Deutschland nach der Reichsgründung im Spiegelsaal von Versailles 1871 gar als "Gründerjahre". Bernstein sprengte die marxsche Dialektik und zeichnete einen graden Weg zum Sozialismus vor; Luxemburg und Lenin hingegen sahen in den veränderten, z. T. verbesserten sozialen Bedingungen, der neu entstandenen "Arbeiteraristokratie", die eigentlichen Wurzeln für die "revisionistische" Handwerkelei.
Unsere historisierenden Autoren übersehen diese Zusammenhänge, erwähnen den Revisionismus mit keinem Wort, schon gar nicht, daß dieser Revisionismus direkt in die Schützengräben vor Verdun und Galizien, zum Verrecken ganzer Generationen junger Europäer in den Stacheldrahtverhauen, zum Zerfall der II. Internationale, zu Philipp Scheidemann, Fritz Ebert, und schließlich zu Gustav Noske geführt hat. Am Ende dieser schändlichen Entwicklung steht der feige Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht; der den Wählern des Superwahljahres 2009 von den Männern und Frauen des "Herbst 89" einfach unterschlagen wird – Rosa Luxemburg keine Sächsin, eine Jüdin aus dem polnischen Zamość; aber Karl Liebknecht ein Sachse, 1871 in Leipzig geboren, der hätte doch in der glorreichen Geschichte der sächsischen Arbeiterbewegung erwähnt werden dürfen. Morde an Walter Rathenau und Mathias Erzberger folgten, und die linkssozialdemokratische Landesregierung wurde – nicht durch Stresemann – durch Einschreiten des Reichspräsidenten Fritz Ebert über den Paragrafen 48 (und das war ihm laut Weimarer Verfassung vorbehalten) zu Fall gebracht. Der von den Revisionisten eingeschlagene Weg hat noch zu Weimars Zeiten, zum Teil unter sozialdemokratischen Ministerpräsidenten, über die Wiederaufrüstung, die schwarze Reichswehr, in die Hitlerdiktatur, den verbrecherischen Krieg und schließlich zur bedingungslosen Kapitulation geführt; das wäre wohl Grund genug, keinen neuen Revisionismus aus der Taufe zu heben.
Heute hat der Kapitalismus sein kriminelles Gesicht voll entblößt, an den Börsen werden Schuldenberge gehandelt, einst mächtige Banken brechen zusammen, es kracht in allen Fugen, neue Kriege und gigantische Aufrüstung, unglaublicher Sozialabbau, nie dagewesene Gehirnwäsche, wie die Autoren schreiben wachsende Armut, besonders Kinderarmut – wozu ein Revisionismus des Elends, des Pauperismus. Auf der Straße wird in täglichen Demonstrationen, klassenmäßig differenziert, skandiert: "Wir bezahlen eure Krise nicht!". Statt diesen Prozeß zu begünstigen, fällt man ihm in Sachsen in den Rücken, die Weltanschauung der Arbeiterklasse wird erneut kastriert.
Wenn ein halbes Dutzend Professoren unwidersprochen "GuLAG" schreibt, kann man sich gelassen zurücklehnen: sie stehen nicht im Stoff. Richtig GULag, ist nicht mehr und nicht weniger, als G-lawnoje U-prawlenie Lag-erej – sprich Hauptverwaltung der Lager – die sich im Zentrum Moskaus, auf dem Dzierzynski-Platz befand. So effektvoll sich das auch heute noch einsetzen läßt, ist einzusehen, daß man in dieser Moskauer Hauptverwaltung nicht "schmachten" konnte; dazu mußte man schon den langen Weg nach Kolyma, zum nördlichen Polarkreis nach Workuta oder wenigstens bis hinter den Ural zurücklegen. Das ist übrigens für säumige Professoren auch heute noch möglich. Findige, ehemals "lohnabhängig Beschäftigte" haben am Osthang des Urals alte Lager "fit" gemacht, dort können jetzt Touristen für Dollars "einsitzen" und den Lageralltag, die "Balanda" (das Süppchen) und das aromatische russische Schwarzbrot neu erleben. Nebenbei lernen sie nicht nur wie "GULag" geschrieben wird, sondern wie die Brigaden – in unserem Falle Brigade "Wir sind das Volk" – um die tägliche Planerfüllung und Prämien ringen. ‚Lager’ – aus dem Deutschen – werden sie sich überzeugen, haben mit Kommunismus, dem Gedankengut von Marx und Engels, nicht das Geringste zu tun; das ist wichtig, denn gerade diese kausale Verbindung wird bis heute, 53 Jahre nach dem XX. Parteitag der KPdSU, sorgfältig gepflegt – ein "politisches Feindbild" ist unabdingbar. Die "Wir sind das Volk"-Leute fürchten zu "mildes Licht" und beharren darauf, daß alles "restlos aufgeklärt und verurteilt" wird. Wo waren denn unsere Freunde die 50 letzten Jahre, nicht aufgepaßt? Oder wird diese ‚Aufklärung’ – wie in Hohenschönhausen – zum Kult, zum Broterwerb, zum Ritual erhoben?
Die gesamte Auseinandersetzung nach dem Verschwinden des Sozialismus, die ganze "Weisheit" der Totalitarismustheorie, des Schwarzbuch des Kommunismus beruht auf dieser beharrlichen Gleichsetzung von GULag und Kommunismus. Bei unseren sächsischen Autoren zeichnet sich nicht eindeutig ab, welcher "Seite" sie sich selbst zuordnen.
Ich will der verrückten Welt meine Visitenkarte nachreichen, mich "outen": Habe andere "Universitäten" absolviert, stehe somit voll "im Stoff", war zehn Jahre waschechter "Konterrevolutionär" und 4 Jahre Verbannter, wurde dann voll "rehabilitiert". Wie viele meiner Weggenossen und viele Kriegsgefangene aus Krasnogorsk, sind wir fast ausnahmslos nicht nach Westdeutschland, sondern in die DDR zurückgekehrt, um hier am Aufbau des Sozialismus teilzunehmen und teilzuhaben, haben uns in der Kultur, im Sport, in der Volkssolidarität, in Schrebergärten und im jungen Familienleben, auch in der SED entfaltet (siehe auch S. 3) – ohne das wachsame Auge der "mächtigen Inlandgeheimdienste" ständig im Rücken zu spüren; es waren eben unauffällige, "geheime" Dienste. So können wir uns ein Leben ohne die ewige Jagd nach dem Mammon auch heute noch gut vorstellen.
Unter Professoren ist es üblich, in Beweisführungen hin und wieder auf Axiomtexte zu verweisen, wir versuchen Schritt zu halten, zitieren aus einem Lexikon: Die "Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes, Wiederherstellung der durch die Revolution gestürzten Monarchie, Wiedereinrichtung der gestürzten Ordnung" – dieses Bild trifft haargenau auf die "Beitrittsperiode" zu, wird aber im "Fremdwörterbuch" ohne Wenn und Aber mit "Restauration" – nicht mit "Revolution" erklärt. Unsere Autoren halten es für zumutbar, kritiklos Merkel, Westerwelle und Thierse nachzuplappern, vermitteln unseren LINKS-Wählern diesen Prozeß doch tatsächlich als "friedliche Revolution"! So kolportieren sie Bild und RTL. Es ist ein Blindekuhspielen, erst die Augen verbinden, und dann kundtun, was zu sehen ist.
Man könnte allenthalben von einer "friedlichen Restauration" sprechen, vorausgesetzt man begnügt sich mit einem "friedlich" ohne Panzerkanonen, die den Weg in die "Freiheit" (Moskau, Okt. 1993) "frei" schießen. Dank der DDR-Führung blieb uns diese Art Auseinandersetzung erspart. Dagegen wischen die "Herbst 89"-Autoren die Existenz bedrohende Gewalt dieser "Revolution" einfach vom Tisch. Ob es sehr "friedlich" war, Hunderttausende auf die Straße zu werfen – für einen DDR-Bürger ein ungeübtes Gefühl – sie fanden sich in den Korridoren der neu installierten Arbeitsämter wieder.
Inzwischen ist Bezahlung "unter dem Existenzminimum" gesetzlich geregelt. Im klassischen, im marxschen Sinne von Lohnarbeit und Kapital ist der Lohn die Summe, die zur Wiederherstellung der Ware Arbeitskraft benötigt wird, Bestandteil des Wertes, damit des Preises. Wer unter dem Existenzminimum bezahlt, oder mit Kinderarbeit den "Lohnabhängigen" um seinen Teil prellt, macht ihn zum Almosenempfänger der öffentlichen Hand. In das Produkt, die Ware, geht der Gegenwert zur Wiederherstellung der Ware Arbeitskraft – unabhängig vom Willen des Unternehmers – ein; das heißt, bei der Veräußerung der Ware erhält der Unternehmer auch den Anteil an den Reproduktionskosten der Arbeit, den er dem Lohnabhängigen vorenthalten hat – magere Ergebnisse einer "Wir sind das Volk"-"Revolution".
"Im übrigen", lesen wir weiter in den Thesen, "gehört der demokratische Umbruch von 1989/90 dem ganzen deutschen Volk" – diese Steigerung auf "nationale" Ebene hat einen faden Beigeschmack, schon 1933 präsentierte uns Dr. Joseph Goebbels seine "Nationale Revolution", die am 30. Juni 1934 jäh endete und in der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht mündete.
Aber das Blinde-Kuh-Spiel geht munter weiter; auf Seite 6 machen sich die Autoren aus Sachsen die verbale Spiegelfechterei der Verantwortlichen über einen "weltweiten Kollaps des kapitalistischen Finanzsystems" zu eigen, verkünden, daß "die Regierung ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen" sei, sprechen von der "grandios verfehlten Finanzpolitik". Wo doch nichts "verfehlt" war, es war die natürliche, globale, systemimmanente Jagd nach Profit um jeden Preis – so wird alles nur schön geredet. In Wirklichkeit handelt es sich um eine universelle Systemkrise des gepriesenen, endgültig globalisierten kapitalistischen Systems; was hindert die "Herbst 89"-Leute, dies öffentlich zu bekennen. Warum müssen sie dem sächsischen Wähler angesichts dieses Scherbenhaufens ein geschöntes Bild einer lediglich "verfehlten Finanzpolitik" vermitteln, wo selbst Eliten schon heute eingestehen, daß dieser Krisenzustand bis 2010 andauern wird?
Die Montagsdemos 1989 auf dem Altstädter Ring in Leipzig hatten ihre eigene Dynamik. Schon nach etwa einem Monat wurden neue Akzente gesetzt, es hieß nun: "Rote raus". Damit war die "restaurative politische Phase" nicht abgeschlossen, aus dem "Arbeitstitel" des 20-Thesenpapiers "Wir sind das Volk" wurde "Wir sind ein Volk", die Rolle der "großen Mehrheit der Akteure der Bürgerrechtsbewegung in der DDR, die nicht die Aufgabe der deutschen Zweistaatlichkeit anstrebte", war damit ausgespielt, die eigentlichen Drahtzieher der "friedlichen Revolution" hatten aufgehört, Rosa Luxemburg zu zitieren, konnten ungehemmt zur Tagesordnung übergehen.
Doch das Blinde-Kuh-Spiel geht weiter. Ausgerechnet die treuesten Apologeten dieses Systems werden nicht müde, uns – in einer Art Selbstkasteiung – immer neue, gruselige Definitionen des Kapitalismus zu kreieren; Turbokapitalismus, Heuschreckenkapitalismus, Manchesterkapitalismus, Raubtierkapitalismus. Unser Diskussionspapier beteiligt sich nicht daran, toleriert aber das neue Schönreden dieser kriminellen Gesellschaft. Heute sind wir – wie der "Herbst 89er" Rückblick zeigt – zwar nicht klüger, aber zum "Beitrittsjubiläum" irgendwie weiter. Jeder kann sich davon überzeugen, wie die Glamourgesellschaft von innen aussieht. Dieser "überlegene" westliche Lebensstil, der "Wohlstand" hat sich als hohle Nuß entpuppt. Alles ist "Auf Pump", die roten Teppiche, die goldenen Bambis, die ganzen "Weltmeisterschaften", die neuen Autobahnen, Brücken, Erlebnisbäder und Casinos – alles "Auf Pump". Tausende in Schulden versinkende Haushalte und Hausbesitzer, "Schuldenberatungen" und Suppenküchen, rundum Gläubiger und ungedeckte Schecks, so sieht das Fazit der "friedlichen Revolution" nach 20 Jahren aus. 1989 auf dem Altstädter Ring konnte das niemand wissen – die es wußten, fuhren nicht mit Sonderzügen nach Sachsen. Wir schreiben aber 2009, und ein Dutzend sächsischer Autoren preist dem sächsischen Wähler hartnäckig noch immer die "friedliche Revolution" an.
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