Krieg gegen Ukraine. Die zweite Neuordnung Europas.
Prof. Dr. Norman Paech, Hamburg
Diese radikale Wende der russischen Politik hatte wohl kaum jemand erwartet. Nur die US-Geheimdienste haben seit langem davor gewarnt, aber sie waren in unseren Augen durch ihre historischen Lügen – März 2003 vor dem Angriff auf Bagdad – zu sehr diskreditiert, als dass man ihnen hätte glauben können. Doch das, was den NATO-Staaten vorzuwerfen ist, dass sie die Sicherheitswünsche der Russen nicht beachtet, sondern zurückgewiesen haben, trifft auch uns und diejenigen, die immer wieder an die Kraft der Diplomatie und die Flexibilität beider Seiten geglaubt haben. Auch sie haben den Ernst und die Dringlichkeit der Sicherheitsfrage sowie den Eskalationswillen der NATO-Staaten unterschätzt.
Nun ist Krieg, und das ist ein schwerer Verstoß gegen das Völkerrecht, auf das sich auch die russische Regierung immer berufen hat. Putin muss alle Kampfhandlungen umgehend einstellen, und die NATO-Regierungen müssen sich fragen, warum sie die Konfrontation mit Russland so weit vorangetrieben haben. War diese Katastrophe nicht vorherzusehen?
Gezielt in die Ecke getrieben?
Doch die Politik erschöpft sich im Ausdenken der gemeinsten Sanktionen, die Russland am heftigsten weh tun. Man erfreut sich am Wiederaufleben der bereits totgesagten NATO. Zudem werden die alten Legenden von der Wiedererrichtung des alten russischen Großreichs und Rückkehr zur alten Größe des Zarenreichs aufgewärmt. Über die eigenen Fehler, die eigenen Provokationen und Aggressionen, die Putin in die Ecke getrieben haben, redet keiner. Man glaubt, jetzt haben wir »Putin im Sack«. Doch könnte man sich auch fragen, ob die NATO Putin nicht vielleicht gezielt in diese Ecke getrieben hat, aus der er nur mit Gewalt wieder herauskommen konnte. Es werden wohl noch Jahrzehnte vergehen, bis wir darüber Aufschluss erhalten.
Es gab schon vorher Zeichen, dass in den Kreisen der NATO die Überzeugung herrschte, dass eine militärische Auseinandersetzung mit Russland unvermeidbar sei. Man sah in Russland nie einen möglichen Partner, mit dem es eine friedliche Konkurrenz geben könne. Man sah immer nur die Bedrohung. So schloss der Generalstabschef der britischen Armee, General Sir Nicholas Carter, seine Beschreibung der Bedrohung des Westens durch Russland, anlässlich seiner Rede am 22. Januar 2018 vor dem Royal United Services Institute (RUSI) mit diesen Worten von Leon Trotsky: »Du bist vielleicht nicht am Krieg interessiert, aber der Krieg ist an Dir interessiert.« Er schilderte ausführlich die Notwendigkeit, sich auf die Bedrohungen durch Russland vorzubereiten, darauf, »den Krieg zu führen, den wir vielleicht führen müssen«. Jetzt müsse reagiert werden, denn »sie stellen eine klare und gegenwärtige Gefahr dar ... Wir haben vielleicht keine Wahl hinsichtlich eines Konflikts mit Russland«, so das Fazit Carters.
Ein Blick weiter in die Geschichte der Ost-West-Konfrontation zurück, legt zudem den Verdacht nahe, hier wiederholte sich eine Strategie, die schon einmal zum Ziel geführt hatte. 1998 plauderte Zbigniew Brzeziński in der französischen Zeitung »Nouvel Observateur« über die US-amerikanische Strategie, mit der sie die Sowjetregierung 1979 in die afghanische Falle gelockt hatten. Denn schon ein halbes Jahr vor der sowjetischen Militärintervention hatte Präsident Carter am 3. Juli die erste Direktive zur militärischen Unterstützung der Mujaheddin gegen die Regierung in Kabul gegeben. Brzeziński: »An diesem Tag schrieb ich dem Präsidenten eine Notiz, in der ich ihm erklärte, dass diese Hilfe meiner Meinung nach zu einer sowjetischen Militärintervention führen würde ... Wir haben die Russen zum Eingreifen nicht gedrängt, aber wir haben bewusst die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie es tun werden. ... Diese Geheimaktion war eine ausgezeichnete Idee. Es hatte den Effekt, die Russen in die afghanische Falle zu locken, und Sie möchten, dass ich das bereue? ... An dem Tag, an dem die Sowjets offiziell die Grenze überschritten, schrieb ich an Präsident Carter: ›Wir haben jetzt die Gelegenheit, der UdSSR ihren Vietnamkrieg zu schenken‹. In der Tat musste Moskau fast zehn Jahre lang einen unerträglichen Krieg für das Regime führen, einen Konflikt, der zur Demoralisierung und schließlich zum Zerfall des Sowjetimperiums führte. ... Was ist wichtiger in der Geschichte der Welt? Die Taliban oder der Untergang des Sowjetimperiums? Ein paar islamische Extremisten oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?«
Neutralität – eine abwegige Zumutung?
Wer mag ausschließen, dass der systematischen Frontverschiebung an die Grenzen Russlands, der Blockade des Minsker Abkommens nicht die gleiche Strategie der Befreiung Mitteleuropas von Putin und die Ersetzung durch einen neuen Jelzin zugrunde lag? Die USA haben eine lange Praxis des »Regime Change«, selbst wenn das Ergebnis nicht immer erfolgreich war. Warum konnte man nicht die Ablehnung des NATO-Beitritts der Ukraine von 2008 erneuern? Wäre es ein Gesichtsverlust gewesen, mit Russland einen Vertrag über gleiche Sicherheit abzuschließen, in dem auf Angriffswaffen in den grenznahen NATO-Staaten verzichtet worden wäre? Warum hat man die Ukraine nicht dazu gebracht, die Maßnahmen aus dem Minsker Vertrag, den die Ukraine selbst unterschrieben hatte, umzusetzen? Nun hat Putin den Preis erhöht. Er fordert, die Ukraine solle offiziell auf den Beitritt zur NATO verzichten, sie solle die Krim und Sewastopol als russisches Territorium anerkennen, seiner Entmilitarisierung zustimmen und sich für neutral erklären.
Die Berufung auf die vom IGH akzeptierte Abspaltung des Kosovo war gestern, nun ist das Putins Jugoslawien. Das Völkerrecht ist futsch – dass hatten die NATO-Staaten schon 1999 für überflüssig erklärt. Der Krieg gegen Jugoslawien eröffnete die erste Neuordnung Europas, mit dem Krieg gegen die Ukraine erleben wir nun die zweite Neuordnung Europas. Beide Kriege waren eine grobe Verletzung des Völkerrechts. Doch von Jugoslawien ging keine Gefahr aus, der Krieg war offensiv und expansiv, als »humanitäre Intervention« schlecht getarnt. Die Ukraine war nun für Russland die rote Linie, das hatte Putin wiederholt betont. Sie drohte überschritten zu werden und musste verhindert werden. Dahinter steckt nicht die Sehnsucht nach dem großrussischen Reich, sondern der Wunsch nach einer vertraglichen Sicherheitsgarantie mit deutlichen Schritten der Abrüstung und Entspannung. Was hinderte die NATO-Staaten, dem zu entsprechen? Ist die Neutralität der Ukraine nach dem Beispiel von Österreich oder Finnland eine abwegige Zumutung?
Wie man Konflikte unter Druck hält
Der Iran hatte seinerzeit den USA den Verzicht auf die nukleare Aufrüstung angeboten, wenn sie einem gegenseitigen Nichtangriffspakt zustimmen oder einen einseitigen Gewaltverzicht aussprechen würden. Die USA hatten abgelehnt, wie auch schon gegenüber Nordkorea. Die USA wissen, wie man Konflikte unter Druck hält. Nur sollten ihnen die Erfahrungen mit Kuba, Iran, Nordkorea und Russland endlich zeigen, dass dieser post-koloniale Umgang mit starken Staaten außer großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten für die Menschen politisch nichts bringt und sogar zur Katastrophe führen kann. Doch offensichtlich macht auch die geografische Ferne zu den Schauplätzen ihrer Aktionen die US-Administration immer noch unempfindlich für deren zerstörerische Auswirkungen und menschenrechtlichen Katastrophen.
Es ist schon erstaunlich, in welchem hermetischen Zirkel sich die Überlegungen der NATO-Regierungen und der ihr folgenden Medien bewegen. Es dreht sich nur um die Sanktionen, die man jetzt verhängen wolle, und wie man zukünftig reagieren müsse. Man habe alles versucht, den Krieg zu vermeiden. Offensichtlich hat man aber die Vorschläge Putins übersehen und erinnert sich auch jetzt nicht daran. Sie spielen keine Rolle in den Überlegungen über den Weg zurück zum Frieden. Über die Erfolglosigkeit der Sanktionen zur Friedensstiftung scheint man sich weitgehend einig zu sein. Was hat man denn anderes zu bieten, um seine Stärke und Handlungsfähigkeit zu zeigen? Die Medien assistieren, selbst dort wird nicht über die Möglichkeit und Rationalität der russischen Forderungen diskutiert. So wie Madeleine Albright seinerzeit bekannte, dass der Tod von 500.000 Kindern infolge der US-Sanktionen im Irak den Preis wert sei, so sind offensichtlich jetzt die zu erwartenden Zerstörungen und Toten den Preis wert, keine Neutralität der Ukraine zu fordern und ihre NATO-Mitgliedschaft offen zu halten. Die hin und wieder zu hörenden Angebote zu Gesprächen mit dem Feind sind leere Angebote. Was hat man denn anzubieten, wenn man den möglichen Gesprächspartner nicht anhören will?
Stopp aller Kämpfe und humanitäre Hilfe fordern!
Wir müssen trotz allem den sofortigen Stopp aller Kampfhandlungen fordern. Wir müssen aber auch die NATO warnen, mit Waffenlieferungen den Krieg weiter anzuheizen – das ist nicht der Weg der Solidarität. Notwendig wird humanitäre Hilfe für die leidenden Menschen und zahllosen Opfer sein, und schließlich muss wieder die Diplomatie Wege des Gesprächs finden, die die Sicherheitsinteressen beider Seiten ernst nimmt.
26. Februar 2022
Wird erscheinen bei Telepolis (https://www.heise.de/tp)
Zwischenüberschriften: »Mitteilungen«
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