Immanuel Kants Idee »Zum ewigen Frieden«
Dr. Wolfgang Biedermann, Berlin
Vor 220 Jahren erschien in Königsberg bei Friedrich Nicolovius Kants philosophischer Entwurf »Zum ewigen Frieden«. Ein Jahr später (1796) war bereits eine neue »vermehrte Auflage« notwendig. Kein Wunder, der Ordinarius für Logik und Metaphysik an der Universität Königsberg war in der akademischen Welt Europas längst kein Unbekannter. Erinnert sei daran, dass mit Kant ein philosophisches Denken einsetzte, das als »Kopernikanische Wende« rezipiert wurde.
»Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten, […]. Es ist hiemit eben so, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nach-dem es mit der Erklärung der Himmelsbewegung nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.« [1] Vor Kant galt erkenntnistheoretisch umgekehrt, dass sich die Erkenntnis (Wissen) nach den Objekten richtet und von ihnen festgelegt wird (Empirismus). Die Reversion bei Kant: das Erkennen eines Dinges (Sache) ist ein aktiver Vorgang und wird nicht von den Gegenständen bestimmt, sondern diese richten sich nach der Art des Erkennens. [2] Doch zurück zum Thema.
Im Bereich der Gesellschaft entdeckte Kant den Antagonismus, die ungesellige Geselligkeit des Menschen, als soziale Triebkraft. »Der Mensch hat eine Neigung, sich zu vergesellschaften, weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch« fühlt und entgegengesetzt auch eine große Neigung hat »sich zu vereinzeln«. [3]
Ein Gegensatz, durch den sich die bürgerliche Freiheit, die Freiheit des Gewerbes und des Handels realisiert: weitere Differenzierung einerseits, anderseits Integration und nur in dieser Einheit. Als humanistischer Denker der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft befürwortet er entschieden die Freizügigkeit des Gewerbes, des Handels und das Streben der Bürger nach Zufriedenheit und Wohlstand. Dieses Trachten ist für ihn der Garant zur inneren Stabilität des Staates. »Wenn man den Bürger hindert, seine Wohlfahrt auf alle ihm selbst beliebige Art, die nur mit der Freiheit anderer zusammen bestehen kann, zu suchen: so hemmet man die Lebhaftigkeit des durchgängigen Betriebes, und hiemit wiederum die Kräfte des Ganzen.« [4]
Das friedliche Dasein der Bürger, gesichert durch die Wohlfahrt, indem sie ihre Freiheit fördert und notwendig gegeneinander abgrenzt, ist die innere Seite des Widerspruches. Die äußere Seite der »ungeselligen Geselligkeit«, der Gegensatz zwischen den Völkern und Staaten, ist das gleiche Verhältnis, jedoch mit der Neigung der menschlichen Natur Feindseligkeiten und Kriege untereinander dauerhaft zu vermeiden (Grundbestimmung der Vernunft).
»Die Natur hat also die Unvertragsamkeit der Menschen, selbst der großen Gesellschaften und Staatskörper dieser Art Geschöpfe, wieder zu einem Mittel gebraucht, um in den unvermeidlichen Antagonism derselben […] zu anfänglich unvollkommenen Versuchen, endlich aber, nach vielen Verwüstungen, Umkippungen, und selbst durchgängiger innerer Erschöpfung ihrer Kräfte zu dem, was ihnen die Vernunft [5] auch ohne so viel traurige Erfahrung hätte sagen können, nämlich: aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden [6] hinaus zu gehen, und in einen Völkerbund zu treten; wo jeder, auch der kleinste, Staat seine Sicherheit und Rechte […], von einer vereinigten Macht, und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens, erwarten könnte.« [7]
Die Menschen (Völker) sich zum Frieden bekennend, sollen in einen Völkerbund treten, der einen dauerhaften Frieden gewährt, so die Quintessenz der »Idee einer Weltgeschichte und ihres allgemeines Zweckes«. Für Kants Epoche bzw. für die beginnende Konsolidierung der bürgerlichen Gesellschaft war dieser Grundgedanke eine Möglichkeit des friedlichen Miteinanders. Die Aufklärung sollte diese Option befördern und Wirklichkeit werden lassen. Diese Bewegung, anknüpfend an das Gedankengut der Renaissance, des Humanismus, an neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse und naturrechtlichen Ideen, war in der Rückschau, nur begrenzt wirksam.
Ungeahnt dessen postulierte der Begründer der klassischen deutschen Philosophie die Bedingungen für die, modern formuliert, friedliche Koexistenz:
- »›Es soll kein Friedensschluß für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Krieg gemacht worden ist.‹
- ›Es soll kein für sich bestehender Staat (klein oder groß, das gilt hier gleichviel) von einem anderen Staate durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben werden können.
- ›Stehende Heere […] sollen mit der Zeit ganz aufhören.‹
- ›Es sollen keine Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel gemacht werden.‹
- ›Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen.‹ […].« [8]
Zu Punkt 4 beispielsweise sei an das Verhalten der absolut größten Mehrheit der Reichstagsabgeordneten bei der Bewilligung der Kriegskredite im August 1914 erinnert. Abstrahiert vom chauvinistischen Taumel, der viele Gemüter erfasst hatte, war der militärische Triumph Deutschlands über Frankreich 1870/71 omnipräsent: die Kriegskosten würden dem Verlierer aufgebürdet. [9] Mehrere (9) Kriegsanleihen, rund 100 Mrd. Mark, zur Finanzierung des äußerst kostspieligen Krieges, gestatteten dessen langjährige Fortsetzung. Das Kriegsziel der Dominanz des europäischen Kontinents, rückte dennoch in unerreichbare Ferne. Last but not least. Die Finanzierung auf Pump (und die Reparationsleistungen) bildete den Ausgangspunkt für die desaströse Hyperinflation (1922–1924) einige Jahre nach Kriegsende. Verloren hatten, abgesehen von den sozialen Verwerfungen, die Zigtausenden Inhaber von (Anleihe-)Spareinlagen, die lediglich nur noch Makulatur in ihren Händen wendeten.
Nachdem die letzten Salven des Ersten Weltkrieges verhallten und das bis dato unbekannte massenhafte Krepieren und Verrecken an den erstarrten Fronten noch in frischer Erinnerung war, schien die Idee Kants Wirklichkeit zu werden: am 14. Februar 1919 wurde auf der Pariser Friedenskonferenz ein Völkerbund gegründet. Der Zweite Weltkrieg 20 Jahre später und die Ereignisse in dessen Vorfeld, [10] die in diesen mündeten, belegen allerdings, dass jener, obwohl »zur Gewährleistung des internationalen Friedens« gegründet, keine nachhaltige Wirkung zeitigte.
Die Vorstellungen Kants beginnen wohl nach dem Furor des Zweiten Weltkrieges zaghaft inhaltliche Konturen anzunehmen [11], befördert durch die Entwicklung und Verbreitung der Atomwaffen. Selbst mit konventionellen Waffen ist mittlerweile ein solches (Welt-)kriegsszenario realistisch. Im dichtbesiedelten Europa, einem Kontinent mit sehr vielen Kernkraftwerken, sind folglich ebenso viele potenzielle »Atombomben« installiert.
Dass ein Völkerbund, der Namen tut hier nichts zur Sache, nach Kantischen Leitbild realiter aktuell ist, muss auch unter dem Eindruck des geopolitischen Spiels (hegemoniale Tyrannei und ansteigende Kriegsgefahr in Europa) der letzten zweieinhalb Jahrzehnte nicht weiter ausgeführt werden.
Kant hat mit der Idee einer Weltgeschichte und ihres allgemeinen Vorsatzes, die Schaffung eines Völkerbundes, eine Orientierung und Empfehlung a priori für den Fortschritt der Menschheit gegeben.
Der 70. Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus soll nicht nur Erinnerung und moralische Verpflichtung gegenüber den Millionen Akteuren der UdSSR bzw. der Antihitlerkoalition und der nationalen Befreiungsbewegungen sein, die ihr Leben im Kampf für Freiheit und Demokratie gaben, sondern vor allem auch Mahnung: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg! Ein sehr aktuelles Anliegen, auch ganz im Sinne Immanuel Kants.
Anmerkungen:
[1] Kant, I., Kritik der reinen Vernunft, Bd. 1, Hg von W. Weihschädel, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1976, S.25.
[2] Die Erkenntnisart beinhaltet die subjektiven Ursachen der Erkenntnis und des Erkenntnisfortschritts.
[3] Kant, I., Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Bd. 11, a.a.O., S. 37 f.
[4] Ebenda., S. 46.
[5] Subjektiv: menschliches Vermögen zu erkennen und individuell zu handeln. Objektiv: allgemeiner (göttlicher) Weltzusammenhang.
[6] Meint ein »nomadisierendes« Dasein ohne (Rechts-)Institute; als im nicht-rechtlichen Zustand befindlich.
[7] Kant, I., Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, a.a.O., S. 42.
[8] Kant, I., Zum ewigen Frieden, in: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, a.a.O.
[9] Frankreich hatte 5 Mrd. Goldfranc (4 Mrd. Mark) zu berappen. Die preußisch-deutsche Staatsschatulle war mehr als saniert.
[10] Genannt werden sollen: die Wiederaufrüstung Deutschlands, der Abessinienkrieg 1935/36, der Anschluss Österreichs im März 1938 an das Deutsche Reich, das Münchner Abkommen im September 1938 sowie die nachfolgende Zerstückelung der Tschechoslowakei.
[11] Am 26. Juni 1945 wurde die Charta der UNO unterzeichnet, die im Oktober des gleichen Jahres in Kraft trat.
Mehr von Wolfgang Biedermann in den »Mitteilungen«:
2014-07: Die Befreiung des Konzentrationslagers Majdanek
2014-01: »Die Waffen nieder«
2013-08: Die Schlacht am Kursker Bogen (5. bis 16. Juli 1943)