Humanist der Tat und Jurist von Format
Ralph Dobrawa, Gotha
Vor 40 Jahren starb Friedrich Karl Kaul
Als ich ihm das erste Mal begegnete, war ich gerade 13 Jahre alt. Ich hatte ihm im Vorfeld geschrieben, weil ich durch die von ihm moderierte Fernseh-Rechtsratgebersendung »Fragen Sie Prof. Kaul« auf ihn aufmerksam geworden war. Mich interessierte, ob das Nachsitzen oder die Auferlegung zusätzlicher Hausaufgaben erlaubt waren, insbesondere wenn sie als »Kollektivbestrafung« verhängt wurden. Bereits wenige Wochen später hatte ich seine Antwort im Briefkasten und war damit doch sehr zufrieden. Die damals geltende Schulordnung untersagte nämlich dies ausdrücklich, was mich veranlasste, den Inhalt des Briefes in meiner Schulklasse in Anwesenheit des Klassenlehrers zu verlesen. Das brachte mir den Beifall meiner Mitschüler ein. Der Lehrer wirkte eher verunsichert. Mein Interesse an der Juristerei war geweckt und in einem weiteren Brief animierte mich Friedrich Karl Kaul doch Rechtswissenschaft zu studieren, wenn meine Neugier anhalten sollte. Für mich gab es daran keinen Zweifel und so lud er mich alsbald nach Berlin ein, um ihn in seinem Anwaltsbüro unweit des Alexanderplatzes zu besuchen. Dort berichtete er mir, was ihn zur Juristerei brachte und von seinem Schlüsselerlebnis, wie er als junger Referendar an einer Strafverhandlung gegen einen Journalisten teilnahm und in der sich zeigte, dass der frühere Ermittlungsrichter, der inzwischen zum Reichsanwalt avanciert war, einst die Mörder von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gedeckt und Strafvereitelung begangen hatte.
Da begann der bisher an die Unantastbarkeit der Integrität des preußischen Richters glaubende junge Jurist sich für kommunistische Ideen zu interessieren. Das brachte ihn bald in Schwierigkeiten auf seinem weiteren Lebensweg, nachdem die Nazis in Deutschland an der Macht waren, ihn dann schon frühzeitig verhafteten und ins Konzentrationslager Lichtenburg verbrachten. Nach längerem Aufenthalt dort wurde er ins KZ Dachau verlegt. Mit vielen Mühen gelang es seiner Ehefrau zu erreichen, dass er dort 1937 entlassen wurde, unter der Bedingung, dass sogenannte Reichsgebiet zu verlassen, nach Übersee zu gehen und nicht wieder zurückzukehren. Das einzige Land, welches ihm sofort die Einreise gewährte, war Kolumbien in Südamerika. So fand er sich bald auf einem Schiff wieder und reiste von Bremerhaven mit zehn Mark in der Tasche in eine ungewisse Zukunft. Dort schlug er sich als Bauarbeiter, Büroangestellter und Kellner durch. Weitere Stationen waren Nicaragua, Panama und Honduras. Als die USA in den Krieg gegen das faschistische Deutschland eintraten, galt er in diesem Land als feindlicher Ausländer und wurde interniert. Im Camp Kennedy in Texas war die Situation nicht einfach und es sollte dauern, bis er endlich nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus wieder in das zerstörte Berlin zurückkehren konnte.
Hier holte der 1906 in Posen geborene Sohn eines nicht gerade armen Textilkaufmanns sein zweites Staatsexamen nach, was ihm die Nazis aufgrund seiner jüdischen Abstammung verweigert hatten. Ab Mai 1948 war Kaul, der 1931 an der Berliner Universität promoviert hatte, als Rechtsanwalt tätig. Bald hatte er sich einen Namen bei der Verteidigung von Kommunisten, Gewerkschaftern und anderen demokratischen Kräften gemacht. Vor allem in West-Berlin trat er in dieser Zeit viel vor Gerichten auf und bot den dort tätigen Richtern und Staatsanwälten, die bereits unter Hitler als solche tätig gewesen waren, mit juristischen Mitteln und politischem Weitblick die Stirn. So war es nur folgerichtig, dass er einer der Prozessvertreter der KPD in dem gegen diese geführten Verbotsprozess vor dem Bundesverfassungsgericht wurde. Seit 1963 bis zu seinem überraschenden Tod am 16. April 1981 trat Kaul in 17 Verfahren gegen nazistische Gewaltverbrecher vor Gerichten der Bundesrepublik als Vertreter von Nebenklägern auf. Besonders hervorzuheben sind hierbei der Auschwitz-Prozess 1963-65 in Frankfurt/Main, der Dora-Prozess 1967-70 in Essen und der Majdanek Prozess 1975-81 in Düsseldorf. In all den Jahren entstanden zahlreiche Bücher, darunter Romane, Tatsachenberichte, rechtshistorische Abhandlungen und Pitaval-Sammlungen. Bereits seit 1947 gab es wöchentlich eine Viertelstunde im Rundfunk, wo er Hörerfragen zu rechtlichen Problemen beantwortete. Ab 1972 wurde im Fernsehen der DDR monatlich eine ähnliche Ratgebersendung von ihm moderiert. Regelmäßig sind Fernseh-Pitavals aus seiner Feder ausgestrahlt worden.
Nicht selten fragte man F. K. Kaul, wie er das tägliche Arbeitspensum bewältigen würde, was er sich selbst auferlegte. Neben der Anwaltstätigkeit war er auch als Justiziar des Berliner Rundfunks und später als Chefjustiziar des Staatlichen Komitees für Rundfunk und des Staatlichen Komitees für Fernsehen beim Ministerrat der DDR tätig. Er antwortete darauf oft lächelnd, dass zu jeder menschlichen Betätigungsform Liebe gehört, auch zur Arbeit. Daneben kam er auch mit relativ wenig Schlaf aus. Sein innerer Antrieb ermöglichte es ihm, immer wieder neue Ideen umzusetzen und neue Projekte anzugehen. Ich konnte ihm in den letzten Jahren seines Lebens immer wieder über die Schulter schauen, wenn er mich in eines seiner Büros einlud oder zu Veranstaltungen mitnahm. Oft trafen wir uns auch in der Gedenkstätte des früheren KZ Lichtenburg, deren Schirmherrschaft er übernommen hatte und mitunter mehrmals jährlich zur Aufnahme junger Menschen in die FDJ an historischer Stätte sprach. Mir hat er dabei viele Werte vermittelt, die mich mein ganzes weiteres Leben prägen sollten. Dazu gehörte nicht nur seine politische Grundüberzeugung, sondern auch sein ausgeprägter Humanismus, den er als ganz wesentliches Element für die Fortexistenz der menschlichen Gesellschaft ansah.
Als Friedrich Karl Kaul wenige Wochen nach seinem 75. Geburtstag und der Verleihung des Karl-Marx-Ordens völlig überraschend am Gründonnerstag 1981 starb, war das für viele, welchen er durch juristische Unterstützung geholfen hatte oder die auf unterschiedliche Weise mit ihm zusammenarbeiteten, ein großer Verlust. Auch mit mir hatte er noch Pläne … 40 Jahre später fehlt er noch immer.
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