Hitlers feiger Feldherr?
Stephan Jegielka, Berlin
Es gibt wohl keinen deutschen General oder Feldmarschall der deutschen Wehrmacht, der bis heute so mit Eifer in der bürgerlichen Presse vor allem in der BRD verleumdet wird, wie Friedrich Paulus. So schreibt Die Welt über das Ende der 6. Armee in Stalingrad, dass sich ihr Oberbefehlshaber in einem Kaufhauskeller verkrochen hätte. In einem anderen Artikel des Springer-Blattes wird ihm vorgeworfen, dass ihm seine Schulterstücke mehr wert waren als das Leben seiner Männer. Der Spiegel titelte über ihn »Hitlers feiger Feldherr«, und Die Presse sieht ihn sogar verflucht bis in sein Grab. [1] Wenn er für die bürgerlichen Schreiberlinge schon nicht allein irgendwie für die Niederlage des faschistischen Deutschlands im 2. Weltkrieg verantwortlich gemacht werden kann, so doch zumindest für das Desaster der 6. Armee in Stalingrad. Was hat denn dieser Friedrich Paulus nun eigentlich getan, dass er in den bürgerlichen Gazetten, in denen man irgendwie immer noch ein gutes Wort über jeden faschistischen Kriegsverbrecher versteht zu formulieren, nun gar keine Gnade findet? Warum wurde er vom militaristischen Saulus, der er nachweislich war, zu einem Paulus der Friedenspolitik? [2]
Eine außergewöhnliche Persönlichkeit
Friedrich Paulus war unbestritten eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Er war ein intelligenter, kultivierter, analytisch denkender und sprachgewandter Mann, der Umgang mit Menschen lag ihm, und er entsprach so gar nicht dem Klischee des bornierten preußischen Offiziers, wie ihn zum Beispiel Paul von Hindenburg verkörperte, dem der Krieg bekanntlich wie eine Badekur bekam. [3] Zudem gelang es ihm in jedweder Lage und Umgebung eine natürliche Autorität und Integrität zu verkörpern, sich in seinem Umfeld eine besondere Stellung ganz selbstverständlich zu sichern. Paulus war auch kein Mensch, der Überzeugungen einfach über Bord warf, was ihm den Vorwurf des Zauderers einbrachte. [4] Aber wenn er eine Entscheidung zur Kursänderung getroffen hatte, dann nach einem langen inneren Ringen, und damit gewann seine neue Position, die er dann auch konsequent vertrat, natürlich viel mehr an Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft auch gegenüber ihm zunächst inhaltlich fern stehenden Menschen. Was Paulus von sich gab, hatte eben Gewicht. Durch seine lange Tätigkeit im Reichskriegsministerium und im deutschen Generalstab, insbesondere in der Offiziersausbildung, aber auch beim Aufbau der deutschen Panzerwaffe, gingen durch »seine Hände« nicht wenige bekannte deutsche Truppenführer, wie Heinz Guderian. Mit seiner Menschenkenntnis und seiner Fähigkeit zur sachlichen Einschätzung von militärischen Karrieren und Begabungen gelang es ihm, ein treffendes Bild der wichtigsten Militärs der deutschen Wehrmacht zu zeichnen. Sein Einfluss auf das Offizierskorps der Wehrmacht und weit darüber hinaus konnte also nicht hoch genug eingeschätzt werden. So hatte Guderian, als Paulus schon längst in militaristischen Kreisen geächtet wurde, keinen Zweifel an dessen »reinem Wollen und patriotischer Haltung« und schenkte den gegenüber ihm »erhobenen Anklagen« keinen Glauben. [5] Adolf Hitler war das durchaus klar, und neben anderen Aspekten implizierte gerade dieser Umstand dessen Forderung nach Paulus’ Lebensopfer in der »Festung Stalingrad«. Als Paulus also am 31. Januar 1943 als Generalfeldmarschall den unerhörten Schritt in die sowjetische Kriegsgefangenschaft ging, wurde er zu einem wichtigen politischen Instrument im antifaschistischen Kampf der Sowjetunion gegen Hitler-Deutschland, und es begann in den sowjetischen Organen sofort das Ringen um die Seele des »Löwen von Stalingrad«. [6]
Fleisch vom Fleische des deutschen Militarismus
52 Jahre vorher, am 23. September 1890 erblickte Friedrich Wilhelm Ernst Paulus in Breitenau in der preußischen Provinz Hessen-Nassau als Kind einer Beamtenfamilie die Welt. Nach dem Abitur am Kasseler Wilhelmsgymnasium und einem Intermezzo als Jura-Student trat er 1910 als Fahnenjunker in das deutsche Heer ein. Im 1. Weltkrieg kämpfte er in Frankreich, auf dem Balkan und in den Alpen. Er wurde in Stabsfunktionen eingesetzt. Mit der Niederlage Deutschlands 1918 und dem Versailler Vertrag konnte er sich nicht abfinden und war schnell auf der Seite der Rechten wiederzufinden, die vermeintlich die Interessen Deutschlands vertrat. Er wurde Mitglied der Freikorps und sympathisierte mit dem Kapp-Putsch. In der Reichswehr, die deren Schöpfer Hans von Seeckt als geistige und organisatorische »Brücke … vom Zweiten zum Dritten Reich« bezeichnete, fand Paulus seinen Platz. [7] Er diente zunächst als Generalstabsoffizier in Stuttgart, wechselte dann in das Reichskriegsministerium nach Berlin und wurde 1935 Generalstabschef der Kraftfahrtruppen, dem Kern der zukünftigen deutschen Panzertruppe. Den Beginn des 2. Weltkrieges erlebte Paulus als Generalstabschef der 10. Armee (später 6. Armee) unter dem Oberbefehlshaber Walter v. Reichenau. In dieser Funktion war er aktiv am faschistischen Überfall auf Polen, Belgien und Frankreich beteiligt. 1940 wurde Paulus Oberquartiermeister I des Generalstabes des Heeres und Stellvertreter des Generalstabschefs Generaloberst Franz Halder. Da er das Vertrauen Hitlers genoss, wurde ihm die Ausarbeitung des Planes Barbarossa, zum verbrecherischen Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion, übertragen. Zudem war er im Vorfeld des Überfalls in die militärische Koordination mit den Verbündeten Ungarn, Rumänien, Finnland involviert, die auch den Überfall Hitler-Deutschlands auf Jugoslawien zur »Flankensicherung« implizierte. [8]
Im Dezember 1941 wurde er Oberbefehlshaber der 6. Armee, der Truppe, mit der Hitler vermeinte, den Himmel stürmen zu können, und auf die er alle Hoffnungen setzte, nach der Niederlage vor Moskau 1941 noch einmal die strategische Initiative an der Ostfront zu ergreifen, um letztendlich die Sowjetunion zu vernichten. [9] Paulus wurde also nicht zufällig mit dieser Funktion betraut. Sein gesamter Werdegang zeigte, er war Fleisch vom Fleische des deutschen Militarismus und es darf kein Zweifel darüber bestehen, dass er die Revanche-Politik Hitlers nicht nur vorbehaltlos unterstützte, sondern alles in seinen Kräften Stehende tat, um sie auch auf militärischem Gebiet umzusetzen. [10]
Paulus – Realpolitiker für den Frieden
Um so mehr ist seine Abkehr vom deutschen Militarismus zu würdigen, die nachweislich nicht aus opportunistischen Motiven erfolgte. Dafür konnte man ihm durchaus ausreichend Zeit geben, wie sie die sowjetischen Organe ihm dann auch zugestanden. Denn in der Gefangenschaft änderte Paulus nicht sofort seine politischen Auffassungen, obwohl schon die Kapitulation der 6. Armee unter seinem Oberbefehl und der Gang in die sowjetische Gefangenschaft als Generalfeldmarschall seine Einsicht in die Notwendigkeit zeigte und den Bruch mit dem deutschen Faschismus implizierte. [11] Das wurde durch die sowjetischen Organe scharfsinnig erkannt. Aber erst nach dem 20. Juli 1944, dem Attentat Stauffenbergs auf Hitler und dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944 entschloss sich Paulus für den Beitritt zum Nationalkomitee »Freies Deutschland«. Seitdem vertrat er aber mit aller Konsequenz die Prinzipien eines einheitlichen demokratischen und friedliebenden Deutschlands. Als dienstgradältester Offizier in sowjetischer Gefangenschaft verfasste er den Aufruf der 50 Generale, der zum Sturz Hitlers und zur Kapitulation Deutschlands aufforderte. Daraufhin wurde seine Familie in Deutschland in Sippenhaft genommen. [12]
Nach der bedingungslosen Kapitulation Hitler-Deutschlands betrachtete Paulus folgerichtig »das Potsdamer Abkommen als Grundlage für die Lösung der deutschen Frage« und die Durchsetzung dieses Prinzips in ganz Deutschland für notwendig. Für die Erreichung dieses Zieles setzte er bis zu seinem Tode seine Kenntnisse und Fähigkeiten ein. Er stellte sich 1946 der Sowjetunion als Zeuge der Anklage im Nürnberger Prozess zur Verfügung, was ihm endgültig den Hass des Finanzkapitals und seiner faschistischen Helfer einbrachte. Er erklärte noch in der Gefangenschaft seine Bereitschaft zum Eintritt in die SED und ging nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft in die DDR, den deutschen Staat, in dem die völkerrechtlich verbindlichen Vereinbarungen von Potsdam umgesetzt wurden. In dem Sinne einer Friedenspolitik wurde er, wie er es einmal gegenüber Walther von Seydlitz formulierte, zum »Realpolitiker«. [13]
Paulus’ Vermächtnis und Aktualität
Am 2. Juli 1954 kam es in Ost-Berlin zu einer denkwürdigen Pressekonferenz, die in der in- und ausländischen Presse eine außergewöhnliche Resonanz fand. Der Ausschuss für Deutsche Einheit unter Staatssekretär Albert Norden trat erstmals mit Feldmarschall Paulus als Politiker an die Öffentlichkeit. »Die Persönlichkeit des Marschalls hinterließ einen nachhaltigen Eindruck«, schrieb das Blatt der rheinischen Stahlindustrie »Der Mittag«. Und über die Kontroverse, die Paulus mit seinen Erklärungen eingeleitet hatte, muss »noch mehr gesprochen werden«, forderte die »Deutsche National-Zeitung«, die unter ehemaligen Wehrmachtssoldaten eine große Leserschaft hatte. [14] Was hatte Paulus gesagt? Paulus formulierte politische Forderungen an Bonn, die auch 70 Jahre danach an ihrer Aktualität nichts eingebüßt haben. Er kritisierte die Abenteuerlichkeit und Unhaltbarkeit der Politik Adenauers gegenüber den Völkern des Ostens. Für ihn war es unverständlich, mit welch verbissener Hartnäckigkeit Adenauer auf amerikanisches Geheiß wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen mit dem Osten sabotierte. Wer muss da nicht an die heutige verheerende Sanktionspolitik der BRD gegenüber Russland und Weißrussland denken? Wer wird nicht daran erinnert, was die Transatlantiker alles in Bewegung setzten, um Nordstream 2 zu verhindern? Paulus kritisierte die »Politik der Stärke« Adenauers, die Deutschland schon zweimal in das Unglück gestürzt hatte. Warum fällt da einem die deutsche Fregatte »Bayern« ein, die zur Zeit vor den Gewässern der VR China kreuzt? Paulus trat dagegen für Verständigung ein, für gutnachbarliche Beziehungen zu Frankreich und erst recht zum »großen Nachbarn im Osten«, zur Sowjetunion. Er erkannte klar, dass die einseitige Westbindung Deutschlands unter der Führung der USA, also die Mitgliedschaft in EU und NATO und ihren Vorläuferorganisationen, diese Friedenspolitik unterminierten und forderte ein souveränes Deutschland im »Rahmen einer kollektiven Sicherheit, gleichberechtigt unter den Nationen zwischen Ost und West.« Wer denkt da nicht an die Forderung der Partei DIE LINKE nach einem kollektiven Sicherheitssystem unter der Einbeziehung Russlands? In Frankreich, deren Nationalversammlung kurz darauf den Beitritt zum Kriegsbündnis EVG ablehnte, wurden diese Äußerungen Paulus’ aufmerksam registriert. Das Blatt der französischen Großbourgeoisie »Le Monde« erkannte das Gewicht Paulus’, das er unter »den ehemaligen Soldaten« und unter den Westdeutschen allgemein besaß, die an der Politik Adenauers zu zweifeln begannen, und den neuen Zug, den er in die Deutschlandpolitik brachte. Die Stunde sei demnach gekommen, wonach »die Bezugnahme auf Bismarck die allzu auffällige von Rapallo und Tauroggen« ersetzte. Friedrich Paulus, dem durchaus bewusst war, welch einen Einfluss die Rolle eines Feldmarschalls in der deutschen Politik hatte, der sich nicht zu Unrecht als fortschrittlicher Antipode zu einem Hindenburg, als ein Marschall des Volkes verstand, verfasste in dieser Pressekonferenz unbewusst sein politisches Vermächtnis. Denn Paulus, dem in der Deutschlandpolitik von der Sowjetunion sicher noch eine wichtige Rolle zugedacht war, starb viel zu früh am 1. Februar 1957 in Dresden. Die DDR ehrte ihn mit einem Staatsbegräbnis. [15]
Kein neues Stalingrad
Wie weit Paulus seine militaristischen Zeitgenossen, diese unbelehrbaren Kreuzritter gegen den Osten, überragte, ja bis heute überragt, zeigte nicht zuletzt die Bundestagsdebatte am 11. November 2021 zu Weißrussland. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Dr. Johann David Wadephul, versicherte, die kriegerischen Absichten unverblümt bestätigend, den Grünen als künftige Regierungspartei jede Unterstützung in ihrer Politik der »harten Hand gegen Moskau«, wozu auch die Umsetzung der von den USA geforderten »2 Prozent im Bundeshaushalt für Verteidigungsausgaben« gehören. Der unselige militaristische Geist Adenauers, die »Politik der Stärke« im Sinne der Wall Street, wabert offensichtlich weiter durch die politischen Institutionen der BRD, ist nach wie vor Staatsräson. Gerade die Partei DIE LINKE, als einzige konsequente Friedenspartei im Bundestag, muss sich daher dieser verheerenden Politik, diesem »vorbereiteten neuen Stalingrad«, entgegenstellen. Dazu gehört es, sich auch des politischen Vermächtnisses des Feldmarschall Friedrich Paulus anzunehmen. [16]
Anmerkungen:
[1] Althaus, Johann: »General Paulus verkroch sich im Kaufhauskeller« in: Die Welt 22.1.2018. www.welt.de. Sydow, Christoph: »Hitlers feiger Feldherr« in: Der Spiegel 28.1.2013. www.spiegel.de. »Feldmarschall Paulus: Bis ins Grab verflucht«, in: DiePresse 14.12.2012. www.diepresse.com.
[2] Zum Zusammenhang zwischen der fortschrittlichen Positionierung von Paulus und der Verleumdung seiner Person in der westdeutschen Presse siehe: Sawicki, Jerzy: Als sei Nürnberg nie gewesen…, Berlin 1958, S. 450-452.
[3] Ruge, Wolfgang: Hindenburg. Porträt eines Militaristen, Berlin 1975, S. 123.
[4] Adam, Wilhelm: Der schwere Entschluss, Berlin 1976, S. 12.
[5] Guderian, Heinz: Erinnerungen eines Soldaten, Stuttgart 1986, S. 42. Über Paulus’ positives Verhältnis zu Guderian, siehe: Feldmarschall Paulus spricht, Berlin 1954, S. 9.
[6] Reschin, Feldmarschall, S. 140. Adam, Entschluss, S. 306-308.
[7] Rabenau, Friedrich von: Hans von Seeckt. Aus seinem Leben, Leipzig 1940, S. 118-119.
[8] Reschin, Feldmarschall, S. 163-167. Steinkamp, Paulus, S. 162-163.
[9] Zur strategischen Bedeutung der Schlacht um Stalingrad, Shukow, G.K.: Erinnerungen und Gedanken BD II., Moskau 1969, S. 22-24.
[10] Beer, Achim: Der Wendepunkt des Weltkriegs, in: Der Westen 23.12.2012, www.derwesten.de.
[11] »Selbstmord … diesen Gefallen werde ich ihm nicht tun.«, so Paulus zu Adam in: Adam, Entschluss, S. 306. Müller, Vincenz: Ich fand das wahre Vaterland, Berlin 1963, S. 425-426.
[12] Reschin, Feldmarschall, S. 212-222.
[13] Reschin, Feldmarschall, S. 150. Das Potsdamer Abkommen und andere Dokumente, Berlin 1954, S. 4-5. Nicht zu vergessen ist, dass die BRD einem Feldmarschall weit mehr materielle Vorzüge bot als die DDR. Zur »standesgemäßen« Versorgung durch Staat und Kapital von Offizieren in der BRD siehe: Manig, Bert-Oliver: Die Politik der Ehre, Göttingen 2004, S. 293-296.
[14] Paulus spricht, S. 32.
[15] Reschin S. 113. Paulus spricht, S. 3-12 u. S. 31.
[16] Johann Wadephul unterstützt die Forderung der Grünen »nach einer harten Hand gegen Moskau«, Phoenix, 11. November 2021, www.twitter.com. Paulus spricht, S. 16.
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